Vier Expert*innen, vier Perspektiven: Was die neue Bundes­regierung jetzt tun muss

Die neue Bundesregierung hat gewaltige Aufgaben zu bewältigen. Welche davon haben Priorität?
Vier Expert*innen, vier Perspektiven: Was die neue Bundes­regierung jetzt tun muss
Autor: Felix Jung Ilustration: Dirk Schmidt 04.03.2025

Nach der Wahl ist vor der Arbeit: Die neue Bundesregierung steht vor großen Heraus­forderungen. Wie gehen Klima­ziele und wirtschaftliches Wachstum zusammen? Welche Maßnahmen sind nötig, um die soziale Ungleichheit zu verringern? Wie positioniert sich Deutschland zu den USA, China und Russland? Und welche Regeln braucht es für digitale Platt­formen? Vier Expert*innen geben Antworten.

Mikolaj Ciechanowicz: Migration als planbare Zukunfts­strategie nutzen

Unter welchem Zeichen stehen Teilhabe und Zusammen­halt in Deutschland angesichts der Wahl­ergebnisse?

Im diesjährigen Wahlkampf wurden Migrant*innen zunehmend als Sünden­bock benutzt, um Wähler*innen zu mobilisieren. Besonders besorgnis­erregend ist, dass mittler­weile jede*r Fünfte eine in Teilen als gesichert rechts­extreme eingestufte Partei gewählt hat, die unsere demokratischen Werte offen ablehnt. Außerdem werden im neuen Bundes­tag weiterhin zu wenig Menschen mit Migrations­geschichte, Frauen, Nicht­akademiker*innen und junge Menschen vertreten sein. Damit fehlen wichtige Perspektiven im politischen Entscheidungs­prozess.

Was sollte die neue Bundes­regierung tun, um eine Polarisierung und Gräben rund um das Thema Migration zu über­winden?

Die neue Bundesregierung sollte Migration weniger emotional aufladen und statt­dessen als planbare Zukunfts­strategie nutzen. Politiker*innen sollten sich nicht von rechts­populistischen Narrativen treiben lassen, sondern eigene, sachliche Konzepte präsentieren. Lang­fristig ist es entscheidend, Migration als wirtschaftliche Notwendigkeit und Normalität und nicht als Bedrohung zu kommunizieren. Nur so können wir gesellschaftliche Gräben überbrücken.

Mikolaj Ciechanowicz
© Deutschlandstiftung Integration

Mikolaj Ciechanowicz ist Geschäfts­führer der Deutschland­stiftung Integration. Er hat seit 2012 in verschiedenen Leitungs­funktionen das Stipendien­programm „Geh Deinen Weg“ der Stiftung aufgebaut und deren Neu­aus­richtung mit begleitet. Er ist zudem Direktor des Walther Rathenau Instituts, Stiftung für inter­nationale Politik.

Wie können die Chancen von Zuwanderung in den Fokus gerückt werden?

Es ist Aufgabe der Politik, das Einwanderungs­land Deutschland als Realität und Chance, aber auch als Notwendig­keit zu erzählen. Wissen­schaftler*innen und zivil­gesellschaftliche Akteur*innen liefern viele Daten, Studien und Erfahrungen aus der Praxis, die differenziert aufklären und Migration als „Problem“ wider­legen. Wir müssen diesen Stimmen wieder mehr zuhören und sie die Politik bestimmen lassen.

Jana Puglierin: Europa wieder zusammenführen

Welche Rolle werden Deutschland und Europa in der Welt spielen, wenn es nach einer möglichen rot-schwarzen Koalition geht?

Friedrich Merz, unser voraus­sichtlich nächster Bundes­kanzler, hat der Ampel­koalition immer wieder vorgeworfen, zu wenig europäisch gedacht zu haben. Jetzt ist er an der Reihe, und Europa blickt auf ihn: Er muss liefern. Es wäre ein Segen, wenn die nächste Bundes­regierung Europa wieder stärker zusammen­führen und bei den zentralen Heraus­forderungen voran­bringen könnte – sei es bei einem moderneren, investitions­orientierten Haushalt, bei der Stärkung der europäischen Wettbewerbs­fähigkeit oder beim Thema Verteidigung.

Friedrich Merz hat die transatlantischen Beziehungen unter der alleinigen Führung der USA als vergangen bezeichnet. Wie möchte er die Beziehungen stattdessen gestalten?

Ich würde Merz’ Ansatz als „gemeinsam, wo möglich, alleine, wo nötig“ umschreiben. Er wird sich sicherlich bemühen, Anknüpfungs­punkte für eine Zusammen­arbeit mit der Trump-Administration zu finden. Das ist auch richtig so, denn wir sind von den USA im Bereich Sicherheits- und Verteidigungs­politik abhängig. Gleich­zeitig signalisiert Merz, dass er weiß, wie dringend es Europa schaffen muss, diese Abhängigkeit zu verringern. Denn die US-Regierung unter Trump ist kein verlässlicher Partner.

Jana Puglierin
© SeeSaw GmbH

Jana Puglierin ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) und seit Januar 2020 Leiterin des Berliner Büros. Sie leitet außerdem das ECFR-Projekt Re:Order, das neue Visionen der globalen Ordnung sowie das Zusammen­spiel von wirtschaftlicher Macht und geopolitischem Einfluss erforscht.

Wie gelingt der Umgang Deutschlands mit Präsident Trump?

Ich bin der Meinung, dass sich Friedrich Merz an Emmanuel Macron orientieren sollte. Der französische Präsident hat es zumindest geschafft, eine Beziehung zu Donald Trump aufzubauen. Macron versucht, mit einer Mischung aus Charme­offensive und Prinzipien­treue Einfluss auf den US-amerikanischen Präsidenten zu nehmen – ohne ihn bloß­zu­stellen. Trotzdem hat sich in der Vergangen­heit gezeigt, dass letztlich niemand in der Lage ist, Trump zu steuern oder entscheidend zu beeinflussen.

Kai Dittmann: Desinformation frühzeitig bekämpfen

Was sehen Sie als die größte Bedrohung für die digitalisierte Gesellschaft?

Die digitale Gesellschaft steht vor denselben Heraus­forderungen wie unsere Demokratie – ausgelöst sowohl durch äußere als auch durch innere Bedrohungen. Einerseits nutzen ausländische Akteur*innen die Mechanismen sozialer Plattformen, um Desinformation zu verbreiten. Doch auch Akteur*innen aus Deutschland streuen Falsch­informationen, um Menschen zu radikalisieren.

Wie kann Desinformation entgegen­gewirkt werden?

Ein starker gesellschaftlicher Zusammen­halt, eine konsequente Regulierung digitaler Plattformen und die gezielte Förderung von digitaler Resilienz – wie zum Beispiel durch kritische Medien­kompetenz – sind Gegen­mittel gegen Desinformation.

Kai Dittmann
© GFF/ Bernhard Leitner CC BY-NC-ND 4.0

Kai Dittmann ist Koordinator für Advocacy- und Policy-Arbeit bei der Gesellschaft für Freiheits­rechte (GFF). Er vernetzt die juristischen Expert*innen der GFF mit politischen Entscheidungs­träger*innen und koordiniert das Bündnis F5 für gemein­wohl­orientierte Digital­politik.

Welche Lehren lassen sich aus der dies­jährigen Bundes­tags­wahl in Sachen Desinformation und Propaganda ziehen?

Es bleibt nach wie vor schwierig, die Auswirkungen von digitaler Desinformation auf Meinungs­bildung und Wahl­ergebnisse zu messen. Denn die Social-Media-Plattformen gewähren keinen einfachen Zugang zu entsprechenden forschungs­relevanten Daten. Organisationen wie die Gesellschaft für Freiheits­rechte (GFF) müssen diesen erst durch­setzen. Als GFF fordern wir deshalb einen schnellen und umfassenden Forschungs­daten­zugang, um Desinformations­kampagnen früh­zeitig zu erkennen und systematische Risiken besser bewerten zu können.

Was sollte die neue Bundes­regierung in Sachen Platt­form­regulierung angehen?

Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase der europäischen Durch­setzung von Platt­form­regulierungen. Wir müssen jetzt Präzedenz­fälle für den Digital Services Act und den Artificial Intelligence Act schaffen – auch mit Blick auf globale Akteure wie Meta, X oder TikTok. Deutschland sollte die Europäische Kommission hierbei unter­stützen und sicher­stellen, dass die Regulierungen nicht durch externen Druck, etwa aus den USA, abgeschwächt wird. Außerdem muss das bereits vor einem Jahr vereinbarte Gesetz gegen digitale Gewalt in dieser Legislaturperiode endlich umgesetzt werden.

Silke Stremlau: Nachhaltige Unternehmen sind die Gewinner von morgen

Welche klimapolitischen Maßnahmen kommen auf uns zu angesichts der Wahl­ergebnisse?

Sowohl CDU als auch SPD haben sich im Wahl­kampf zu den Pariser Klima­zielen bekannt, aber auch für mehr Wettbewerbs­fähigkeit positioniert. Ich hoffe, dass die CDU dabei auf Studien wie die des Bundes­verbandes der Deutschen Industrie hört. Die Studie „Transformations­pfade für das Industrie­land Deutschland“ macht deutlich, dass die Dekarbonisierung der Wirtschaft an erster Stelle stehen muss und der Motor für Innovation und Wachstum ist. Nur wenn wir wettbewerbsfähige und ressourcen­schonende Geschäfts­modelle haben, können diese zu Export­schlagern werden und lang­fristig Arbeits­plätze sichern.

Donald Trump steigt erneut aus dem Pariser Klima­abkommen aus. Wie sollte die neue Bundes­regierung auf Rückschläge wie diese reagieren?

Die neue Bundesregierung und Europa sollten auf dem Pfad in Richtung Klima­schutz und Kreis­lauf­wirtschaft bleiben. Denn hier entstehen neue Wachstums­märkte, die unser Über­leben auf diesem Planeten sichern. Unternehmen rund um erneuerbare Energien, Speicher­technologien, autonomes Fahren oder Medizin­technik sind die Gewinner von morgen. Außerdem öffnen sich für Europa andere Märkte, wenn sich die USA weiter abschotten. Beispiels­weise in Südamerika, Australien, Asien und Afrika. Damit diese Neu­aus­richtung gelingt, müssen Klima- und Wettbewerbs­politik allerdings besser miteinander verzahnt werden als bisher.

Silke Stremlau
© Jana Mai

Silke Stremlau ist Vorsitzende des Sustainable Finance-Beirates der Bundes­regierung. Außerdem ist sie stell­vertretende Auf­sichts­rats­vorsitzende der UmweltBank in Nürnberg, Mitglied im Aufsichtsrat der NORD/LB sowie im Beirat der Solvia Vermögens­verwaltungs GmbH (Family Office). Sie engagiert sich seit über dreißig Jahren für einen Umbau der Wirtschaft und arbeitet an der Frage, wie ein nachhaltiger Finanzmarkt die sozial-ökologische Transformation fördern kann.

Sowohl Deutschland als auch Europa werden politisch konservativer. Wie können Kreis­lauf­wirtschaft, Dekarbonisierung etc. dennoch voran­getrieben werden?

Eine zukunftsfähige, dekarbonisierte Kreis­lauf­wirtschaft ist zutiefst ökonomisch und außerdem notwendig. Denn die alten Industrien werden künftig weder unseren Wohlstand sichern noch genügend Wirtschafts­wachstum liefern. Ich hoffe daher auf viele kluge Ökonom*innen in der CDU, die unsere Wirtschaft wirklich resilient und stabil für die Zukunft aufstellen wollen.