Vier Expert*innen, vier Perspektiven: Was die neue Bundesregierung jetzt tun muss

Nach der Wahl ist vor der Arbeit: Die neue Bundesregierung steht vor großen Herausforderungen. Wie gehen Klimaziele und wirtschaftliches Wachstum zusammen? Welche Maßnahmen sind nötig, um die soziale Ungleichheit zu verringern? Wie positioniert sich Deutschland zu den USA, China und Russland? Und welche Regeln braucht es für digitale Plattformen? Vier Expert*innen geben Antworten.
Mikolaj Ciechanowicz: Migration als planbare Zukunftsstrategie nutzen
Unter welchem Zeichen stehen Teilhabe und Zusammenhalt in Deutschland angesichts der Wahlergebnisse?
Im diesjährigen Wahlkampf wurden Migrant*innen zunehmend als Sündenbock benutzt, um Wähler*innen zu mobilisieren. Besonders besorgniserregend ist, dass mittlerweile jede*r Fünfte eine in Teilen als gesichert rechtsextreme eingestufte Partei gewählt hat, die unsere demokratischen Werte offen ablehnt. Außerdem werden im neuen Bundestag weiterhin zu wenig Menschen mit Migrationsgeschichte, Frauen, Nichtakademiker*innen und junge Menschen vertreten sein. Damit fehlen wichtige Perspektiven im politischen Entscheidungsprozess.
Was sollte die neue Bundesregierung tun, um eine Polarisierung und Gräben rund um das Thema Migration zu überwinden?
Die neue Bundesregierung sollte Migration weniger emotional aufladen und stattdessen als planbare Zukunftsstrategie nutzen. Politiker*innen sollten sich nicht von rechtspopulistischen Narrativen treiben lassen, sondern eigene, sachliche Konzepte präsentieren. Langfristig ist es entscheidend, Migration als wirtschaftliche Notwendigkeit und Normalität und nicht als Bedrohung zu kommunizieren. Nur so können wir gesellschaftliche Gräben überbrücken.

Mikolaj Ciechanowicz ist Geschäftsführer der Deutschlandstiftung Integration. Er hat seit 2012 in verschiedenen Leitungsfunktionen das Stipendienprogramm „Geh Deinen Weg“ der Stiftung aufgebaut und deren Neuausrichtung mit begleitet. Er ist zudem Direktor des Walther Rathenau Instituts, Stiftung für internationale Politik.
Wie können die Chancen von Zuwanderung in den Fokus gerückt werden?
Es ist Aufgabe der Politik, das Einwanderungsland Deutschland als Realität und Chance, aber auch als Notwendigkeit zu erzählen. Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen liefern viele Daten, Studien und Erfahrungen aus der Praxis, die differenziert aufklären und Migration als „Problem“ widerlegen. Wir müssen diesen Stimmen wieder mehr zuhören und sie die Politik bestimmen lassen.
Jana Puglierin: Europa wieder zusammenführen
Welche Rolle werden Deutschland und Europa in der Welt spielen, wenn es nach einer möglichen rot-schwarzen Koalition geht?
Friedrich Merz, unser voraussichtlich nächster Bundeskanzler, hat der Ampelkoalition immer wieder vorgeworfen, zu wenig europäisch gedacht zu haben. Jetzt ist er an der Reihe, und Europa blickt auf ihn: Er muss liefern. Es wäre ein Segen, wenn die nächste Bundesregierung Europa wieder stärker zusammenführen und bei den zentralen Herausforderungen voranbringen könnte – sei es bei einem moderneren, investitionsorientierten Haushalt, bei der Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit oder beim Thema Verteidigung.
Friedrich Merz hat die transatlantischen Beziehungen unter der alleinigen Führung der USA als vergangen bezeichnet. Wie möchte er die Beziehungen stattdessen gestalten?
Ich würde Merz’ Ansatz als „gemeinsam, wo möglich, alleine, wo nötig“ umschreiben. Er wird sich sicherlich bemühen, Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit der Trump-Administration zu finden. Das ist auch richtig so, denn wir sind von den USA im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik abhängig. Gleichzeitig signalisiert Merz, dass er weiß, wie dringend es Europa schaffen muss, diese Abhängigkeit zu verringern. Denn die US-Regierung unter Trump ist kein verlässlicher Partner.

Jana Puglierin ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) und seit Januar 2020 Leiterin des Berliner Büros. Sie leitet außerdem das ECFR-Projekt Re:Order, das neue Visionen der globalen Ordnung sowie das Zusammenspiel von wirtschaftlicher Macht und geopolitischem Einfluss erforscht.
Wie gelingt der Umgang Deutschlands mit Präsident Trump?
Ich bin der Meinung, dass sich Friedrich Merz an Emmanuel Macron orientieren sollte. Der französische Präsident hat es zumindest geschafft, eine Beziehung zu Donald Trump aufzubauen. Macron versucht, mit einer Mischung aus Charmeoffensive und Prinzipientreue Einfluss auf den US-amerikanischen Präsidenten zu nehmen – ohne ihn bloßzustellen. Trotzdem hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass letztlich niemand in der Lage ist, Trump zu steuern oder entscheidend zu beeinflussen.
Kai Dittmann: Desinformation frühzeitig bekämpfen
Was sehen Sie als die größte Bedrohung für die digitalisierte Gesellschaft?
Die digitale Gesellschaft steht vor denselben Herausforderungen wie unsere Demokratie – ausgelöst sowohl durch äußere als auch durch innere Bedrohungen. Einerseits nutzen ausländische Akteur*innen die Mechanismen sozialer Plattformen, um Desinformation zu verbreiten. Doch auch Akteur*innen aus Deutschland streuen Falschinformationen, um Menschen zu radikalisieren.
Wie kann Desinformation entgegengewirkt werden?
Ein starker gesellschaftlicher Zusammenhalt, eine konsequente Regulierung digitaler Plattformen und die gezielte Förderung von digitaler Resilienz – wie zum Beispiel durch kritische Medienkompetenz – sind Gegenmittel gegen Desinformation.

Kai Dittmann ist Koordinator für Advocacy- und Policy-Arbeit bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Er vernetzt die juristischen Expert*innen der GFF mit politischen Entscheidungsträger*innen und koordiniert das Bündnis F5 für gemeinwohlorientierte Digitalpolitik.
Welche Lehren lassen sich aus der diesjährigen Bundestagswahl in Sachen Desinformation und Propaganda ziehen?
Es bleibt nach wie vor schwierig, die Auswirkungen von digitaler Desinformation auf Meinungsbildung und Wahlergebnisse zu messen. Denn die Social-Media-Plattformen gewähren keinen einfachen Zugang zu entsprechenden forschungsrelevanten Daten. Organisationen wie die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) müssen diesen erst durchsetzen. Als GFF fordern wir deshalb einen schnellen und umfassenden Forschungsdatenzugang, um Desinformationskampagnen frühzeitig zu erkennen und systematische Risiken besser bewerten zu können.
Was sollte die neue Bundesregierung in Sachen Plattformregulierung angehen?
Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase der europäischen Durchsetzung von Plattformregulierungen. Wir müssen jetzt Präzedenzfälle für den Digital Services Act und den Artificial Intelligence Act schaffen – auch mit Blick auf globale Akteure wie Meta, X oder TikTok. Deutschland sollte die Europäische Kommission hierbei unterstützen und sicherstellen, dass die Regulierungen nicht durch externen Druck, etwa aus den USA, abgeschwächt wird. Außerdem muss das bereits vor einem Jahr vereinbarte Gesetz gegen digitale Gewalt in dieser Legislaturperiode endlich umgesetzt werden.
Silke Stremlau: Nachhaltige Unternehmen sind die Gewinner von morgen
Welche klimapolitischen Maßnahmen kommen auf uns zu angesichts der Wahlergebnisse?
Sowohl CDU als auch SPD haben sich im Wahlkampf zu den Pariser Klimazielen bekannt, aber auch für mehr Wettbewerbsfähigkeit positioniert. Ich hoffe, dass die CDU dabei auf Studien wie die des Bundesverbandes der Deutschen Industrie hört. Die Studie „Transformationspfade für das Industrieland Deutschland“ macht deutlich, dass die Dekarbonisierung der Wirtschaft an erster Stelle stehen muss und der Motor für Innovation und Wachstum ist. Nur wenn wir wettbewerbsfähige und ressourcenschonende Geschäftsmodelle haben, können diese zu Exportschlagern werden und langfristig Arbeitsplätze sichern.
Donald Trump steigt erneut aus dem Pariser Klimaabkommen aus. Wie sollte die neue Bundesregierung auf Rückschläge wie diese reagieren?
Die neue Bundesregierung und Europa sollten auf dem Pfad in Richtung Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft bleiben. Denn hier entstehen neue Wachstumsmärkte, die unser Überleben auf diesem Planeten sichern. Unternehmen rund um erneuerbare Energien, Speichertechnologien, autonomes Fahren oder Medizintechnik sind die Gewinner von morgen. Außerdem öffnen sich für Europa andere Märkte, wenn sich die USA weiter abschotten. Beispielsweise in Südamerika, Australien, Asien und Afrika. Damit diese Neuausrichtung gelingt, müssen Klima- und Wettbewerbspolitik allerdings besser miteinander verzahnt werden als bisher.

Silke Stremlau ist Vorsitzende des Sustainable Finance-Beirates der Bundesregierung. Außerdem ist sie stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der UmweltBank in Nürnberg, Mitglied im Aufsichtsrat der NORD/LB sowie im Beirat der Solvia Vermögensverwaltungs GmbH (Family Office). Sie engagiert sich seit über dreißig Jahren für einen Umbau der Wirtschaft und arbeitet an der Frage, wie ein nachhaltiger Finanzmarkt die sozial-ökologische Transformation fördern kann.
Sowohl Deutschland als auch Europa werden politisch konservativer. Wie können Kreislaufwirtschaft, Dekarbonisierung etc. dennoch vorangetrieben werden?
Eine zukunftsfähige, dekarbonisierte Kreislaufwirtschaft ist zutiefst ökonomisch und außerdem notwendig. Denn die alten Industrien werden künftig weder unseren Wohlstand sichern noch genügend Wirtschaftswachstum liefern. Ich hoffe daher auf viele kluge Ökonom*innen in der CDU, die unsere Wirtschaft wirklich resilient und stabil für die Zukunft aufstellen wollen.