Ziviler Ungehorsam: Warum unsere Demokratie Widerspruch braucht – Dr. Samira Akbarian im Gespräch
Was haben die Bewegungen Fridays for Future und Black Lives Matter gemeinsam? Es sind Formen zivilen Ungehorsams, die auf Schwachstellen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens aufmerksam machen. Rechtswissenschaftlerin Dr. Samira Akbarian sieht im zivilen Ungehorsam nicht nur einen Rechtsbruch, sondern Ausdrucksmittel einer lebendigen Demokratie. Wieso das so ist und ab wann ziviler Ungehorsam demokratiegefährdend werden kann, erklärt sie in ihrem neuen Buch „Recht brechen“ – und uns im Interview.
Es gibt einen Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit. Wieso ist diese Diskrepanz im Zusammenhang mit zivilem Ungehorsam relevant?
Idealerweise sollte in einer Demokratie Recht und Gerechtigkeit Hand in Hand gehen. Das ist unser Anspruch als demokratische Gesellschaft: Wir wollen eine gerechte Ordnung erreichen, in der alle ihre Freiheit und Gleichheit verwirklichen können. Dementsprechend versuchen wir auch, unsere Gesetze zu gestalten. Das bedeutet, dass einerseits die Verfahren so gestaltet sind, dass alle daran teilhaben können. Damit diejenigen, die dem Recht unterworfen sind, auch darüber mitbestimmen können, was geltendes Recht ist. Diesem Anspruch werden wir jedoch nicht gerecht. In den klassischen Modellen, die zivilen Ungehorsam als Teil eines demokratischen Rechtsstaates sehen, geht es darum die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit zu schließen.
Wo liegen die Chancen des zivilen Ungehorsams?
Im Buch unterscheide ich zwischen drei verschiedene Funktionen des zivilen Ungehorsams: einer rechtsstaatlichen, einer radikaldemokratischen und einer ethischen.
Dr. Samira Akbarian ist Rechtswissenschaftlerin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschung zum Thema ziviler Ungehorsam wurde mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung, dem Merkur-Preis für herausragende Dissertationen sowie dem Werner-Pünder-Preis ausgezeichnet.
Auf der ersten Ebene stimmen zivil Ungehorsame grundsätzlich mit der Ordnung des demokratischen Rechtsstaates überein, soweit sie den Anspruch erhebt, gerecht zu sein. Hier erfüllt der Ungehorsam die Funktion, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und zu fragen, ob sie ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird. Der Ungehorsam ist auf Integration gerichtet. Das wird am Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung deutlich: Dass Rassentrennung ungerecht ist, ist offensichtlich. Durch ihren gewaltlosen Ungehorsam hat die Bewegung sich aber nicht gegen die demokratische Gemeinschaft gestellt, sondern versucht, sie davon zu überzeugen, dass diese Ungerechtigkeit behoben werden muss. Begleitet wurde der Ungehorsam von einer öffentlichen Diskussion, von strategisch geführten Gerichtsverfahren und von legalen Versammlungen. Ziel war es, die Anliegen dadurch umzusetzen oder eben zu integrieren.
Radikaldemokratische Ansätze setzen grundsätzlicher an und stellen infrage, ob angesichts der Ausschlüsse und strukturellen Ungerechtigkeit wirklich nur an einzelnen Stellschrauben gedreht werden muss, um Demokratie und Gerechtigkeit zu erreichen. Auch wenn formal gleiche Rechte erreicht werden können, heißt es noch lange nicht, dass alle Rechtsunterworfenen auch an der Rechtsordnung mitwirken können bzw. dass alle Stimmen wirklich gleich viel zählen. Das drückt beispielsweise der Satz „Black Lives Matter“ aus. Ziviler Ungehorsam kann durch Störung der öffentlichen Ordnung auf Repräsentations- und Demokratiedefizite ganz grundsätzlicher Art aufmerksam machen und „Selbstverständlichkeiten“ hinterfragen. Das hilft einer Demokratie, die Fähigkeit zu bewahren, die sie am dringendsten braucht, nämlich sich immer wieder erneuern zu können und sich nicht in ihrem Kern so zu verfestigen, dass sie fundamentalistisch wird.
Zuletzt sind wir nicht nur Teil einer Rechtsgemeinschaft, sondern auch Individuen, die eigenen normativen Ansprüchen genügen müssen, d.h. die ein eigenes Gespür für Recht und Unrecht haben. Wenn es zum Konflikt zwischen meinen eigenen Überzeugungen, meinem inneren Gesetz und dem äußeren Gesetz des Staates kommt, kann der zivile Ungehorsam helfen, dem eigenen ethischen Anspruch gerecht zu werden. Der zivile Ungehorsam gibt so eine Möglichkeit auch innerhalb einer Gemeinschaft dem eigenen Wertesystem folgen zu können.
In einer Demokratie kann alles auch immer anders sein.
Sie schreiben in ihrem Buch „In einer Demokratie kann alles auch immer anders sein“. Wieso ist es für eine Demokratie wichtig, keine absoluten Wahrheiten zu haben?
Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde hat einmal das Paradoxon beschrieben, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht gewährleisten kann. Diese Einsicht teile ich und möchte erklären warum: In einem Staat, der nicht freiheitlich säkularisiert ist, gibt es immer etwas, das im Zentrum der Macht steht, sei es Gott, ein Herrscher oder Vernunft. Im freiheitlich säkularisierten Staat gibt es diese Vorstellung der absoluten Wahrheit nicht mehr. Dieses fehlende Fundament ist es, was Demokratie ausmacht. Die Leerstelle im Zentrum der Macht kann ich als Bürger*in mitgestalten, wodurch immer etwas Neues entstehen kann. Der zivile Ungehorsam spielt eine wichtige Rolle dabei aufzupassen, dass sich nichts im Fundament festsetzt und eine absolute Wahrheit für sich beansprucht – denn eine solche kann es in einer Demokratie nicht geben.
Sie betrachten zivilen Ungehorsam als eine Form der Verfassungsinterpretation. Wie genau kann ziviler Ungehorsam helfen, unsere Verfassung zu verbessern?
Ich denke, dass der zivile Ungehorsam eine Arbeit an der Ordnung ist. Am anschaulisten lässt sich das am Beispiel der Klimaaktivist*innen erklären, die sich auf Artikel 20a Grundgesetz berufen, einem Artikel, der die natürlichen Lebensgrundlagen, also auch das Klima, schützt. Dieser Artikel wurde durch das Bundesverfassungsgericht in einer wichtigen Entscheidung aufgewertet – darauf nehmen die Aktivist*innen immer wieder Bezug und geben konkrete Vorschläge dafür, wie wir sie zu interpretieren haben: zum Beispiel, dass wir das Klimaabkommen einhalten müssen, und das 1,5 Grad Ziel. Das ist eine Interpretation einer Verfassung, nämlich des Grundgesetzes, Artikel 20a. Es geht aber nicht nur um die Auslegung einer konkreten Verfassung, sondern noch darüber hinaus: Wenn ich zum Beispiel aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigere, lege ich damit die Verfassung aus und sage, die Gewissensfreiheit innerhalb dieser Ordnung soll mir ermöglichen, dass ich meinem Gewissen folgen und bestimmte Dinge verweigern kann. Auch das Infragestellen bestimmter Dinge, die wir als gegeben betrachten, gehört dazu. Die aktuelle Rechtsprechung sieht in einer Sitzblockade beispielsweise eine Nötigung und Gewaltausübung. Diese gefestigten Auslegungen, unser Verständnis von Gewalt und Versammlungen stellen Aktivist*innen implizit eine Gegenauffassung entgegen, wenn sie Sitzblockaden ausüben und diese als Versammlungen und gewaltlosen Akt des Widerstands bezeichnen.
Als Menschen sind wir alle verletzlich und haben Verantwortung füreinander.
Das Cover ihres Buches zeigt ein ikonisches Foto aus dem Jahr 2016: die US-amerikanische Krankenschwester Iesha Evans steht in einem leichten Sommerkleid vor einer Wand bewaffneter Polizisten. Sie protestierte gegen rassistische Polizeigewalt und soll nun verhaftet werden. Was meint der Begriff „Gewalt der Verletzlichkeit“? Und wieso ist die aktuelle rechtliche Einordnung ihrer Meinung nach unangemessen?
Dieser Begriff nimmt Bezug auf die deutsche Rechtsprechung zur Sitzblockade: Sie wird als eine Form der Nötigung gehandhabt, d.h. das Sitzen auf der Straße wird als Gewalt verstanden. Es gibt eine lange Rechtsprechungslinie, die sich mit diesem Gewaltbegriff beschäftigt hat. Aktuell sieht man den Tatbestand der Gewalt ab der zweiten Reihe Autos erfüllt, durch die ein Stau erzeugt wird. Die frühe Rechtsprechung sah schon ab der ersten Reihe Autos eine Form von Gewalt, nämlich psychische Gewalt. Die Sitzenden bilden ein Hindernis, dass nicht physisch, aber psychisch unwiderstehlich ist, denn ich kann sie nicht einfach überfahren – mein Gewissen hindert mich daran. Was die Gerichte aber damit eigentlich als Gewalt definieren, ist der Einsatz der eigenen Verletzlichkeit. Indem die Sitzenden ihren eigenen Körper, ihre eigene Verletzlichkeit einsetzen, lösen sie den Anspruch aus: „Du kannst mich nicht einfach überfahren!“ Damit bringen sie uns in eine Verantwortungslage, die durch etwas Besonderes gekennzeichnet ist: unserer Gleichheit als Menschen. Als Menschen sind wir alle verletzlich und haben Verantwortung – uns gegenüber und vielleicht auch gegenüber der Welt, in der wir leben.
Einerseits wird ein solches Verhalten also als Gewalt gedeutet, andererseits wird Verletzlichkeit als Schwäche gedeutet. Was wir jedoch im Aktivismus sehen können, ist, dass der Einsatz der Verletzlichkeit eigentlich eine Form von Gewaltlosigkeit ist, die extrem kraftvoll ist. Die Philosophin Judith Butler spricht in diesem Zusammenhang von der „Force of Non-Violence“, also der Kraft oder Macht der Gewaltlosigkeit. Das ist es, was meiner Meinung nach Aktivist*innen bei Sitzblockaden nutzen. Wir sehen es auch auf dem Cover des Buches: Da ist eine Frau, vollkommen unbewaffnet in einem leichten Sommerkleid – die nichts, als ihren Körper hat – und einer Hundertschaft gegenübersteht. Die Gewaltausübung geht hier, wie man deutlich sieht, nicht von der Demonstrierenden aus. Sie nutzt die Aggressivität, die ihr entgegenkommt, und schafft durch ihre eigene Verletzlichkeit eine Neuordnung der Machtverhältnisse – das ist die Kraft der Gewaltlosigkeit, die fälschlicherweise in der deutschen Rechtsprechung als Gewalt gedeutet wird.
Wie lässt sich erkennen, ob ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist oder ob er der Demokratie schadet?
Das bringt uns zurück zu meiner These, dass wir zivilen Ungehorsam als Verfassungsinterpretation deuten können bzw. sollten. Hier gibt es zwei Seiten: die Seite der Interpretation und die der Verfassung. Die Interpretation besagt, dass wir die Ordnung verändern können, was etwas Gutes in einer Demokratie ist. Gleichzeitig birgt diese Fundamentlosigkeit extreme Risiken, nämlich, dass ausgerechnet Feinde der Demokratie diese Stelle der Macht besetzen und behaupten, dass das, was sie tun, demokratisch sei. Dieses Risiko versuche ich einzufangen mit der zweiten Seite – der Verfassung, die einen normativen Rahmen absteckt, was noch als Interpretation in dem demokratischen Rechtsstaat zählen kann und was nicht. Und dieser Rahmen ist Freiheit und Gleichheit. Das umfasst zum einen die gegenseitige Verantwortung füreinander, die sich aus unserer Verletzlichkeit ergibt, zum anderen den Gedanken eines Rechts auf Rechte. Das bedeutet, dass wir alle Teil einer politischen Gemeinschaft sein können müssen, in der wir unsere Freiheit verwirklichen können. Indem ich zivilen Ungehorsam ausübe, nehme ich dieses Recht für mich in Anspruch und schaffe dadurch im Idealfall auch eine Form von Freiheit und Gleichheit.
Wie kann verhindert werden, dass extremistische Gruppen den Begriff des zivilen Ungehorsams für ihre Zwecke missbrauchen?
Zunächst einmal ist es wichtig, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten: Wir sollten nicht jede Form von zivilem Ungehorsam verbieten, weil es Menschen gibt, die ihn missbrauchen und ein falsches Verständnis von zivil haben. Deswegen können wir Kriterien entwickeln, welche Interpretation der Verfassung legitim ist und welche nicht mit Demokratie und Rechtsstaat vereinbar sind. Wir müssen uns dabei immer den Einzelfall anschauen und als Maßstäbe die oben skizzierten Maßstäbe von Freiheit und Gleichheit zu Grunde legen.
Nehmen wir zum Beispiel die Bauernproteste. Natürlich ist es absolut legitim für die Verbesserung seiner Lebenssituation zu protestieren oder bestimmte Interessen zu vertreten. Während beim Beispiel der Sitzblockaden Menschen ihre eigene Verletzlichkeit einsetzen, wurden bei den Bauernprotesten aber Traktoren eingesetzt. So wurde Raum eingenommen, den die Protestierenden mit ihrem Körper nicht hätten einnehmen können. Es wurde ein größeres, mächtigeres – wenn man so will, bedrohlicheres Fahrzeug in den Mittelpunkt gestellt, um sich den anderen, kleineren Autos in den Weg zu stellen. Das widerspricht dem Gedanken der gegenseitigen Verantwortung, die sich aus unserer Verletzlichkeit ergibt.
Wie sollte eine demokratische Gesellschaft auf Aktionen zivilen Ungehorsams reagieren, die von breiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt werden?
Natürlich lebt der zivile Ungehorsam auch ein Stück weit davon, dass er ungehorsam ist. Daher müssen wir jetzt nicht alles legalisieren. Die rechtliche Auseinandersetzung gehört dazu – diese sollten wir jedoch nicht noch weiter verschärfen. Manche Gesetzesnormen müssten wir anders interpretieren. Zum Beispiel bin in der Meinung, dass der Gewaltbegriff, wie er im Zusammenhang mit zivilem Ungehorsam verwendet wird, nicht richtig ist. Wir sollten die Tatsache, dass sich jemand politisch engagiert, sich für die Gemeinschaft einsetzt, nicht strafverschärfend gelten lassen. Ich verstehe, dass bestimmte Protestaktionen nerven. Als Juristin kann ich nicht beurteilen wie politisch-strategisch klug diese Aktionen sind. Aber ziviler Ungehorsam ist nun einmal unbequem, er will unbequem sein, es geht ihm darum, auf dramatische Art und Weise auf bestimmte Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Es geht darum, die Ordnung durcheinanderzubringen, es geht darum wachzurütteln.
Ziviler Ungehorsam stört; wollen wir aber eine reife Demokratie, dann müssen wir uns mit dem Ungehorsam und vor allem mit den dahinterstehenden Anliegen auseinandersetzen, statt den Konflikt zu unterdrücken. Und das bedeutet auch in den Spiegel hineinzusehen, den uns Aktionen zivilen Ungehorsams vorhalten.
Edition Mercator
Die Edition Mercator ist eine von der Stiftung Mercator geförderte Sachbuchreihe, die im C.H. Beck Verlag erscheint. In pointierter Form eröffnen renommierte Autor*innen und Expert*innen neue Perspektiven auf gesellschaftlich-relevante Themen.