„Alles spiegelt sich in der Coronakrise“

„Alles spiegelt sich in der Coronakrise“
Autor: Matthias Klein 21.10.2020

Trump oder Biden? Die Präsidentschaftswahlen in den USA am 3. November stehen ganz im Zeichen der Coronakrise. Darin spiegelten sich alle wichtigen Themen des Wahlkampfs, sagt Mercator Senior Fellow Michael Werz im Interview. „Die politische Unterstützung Trumps folgt oft psychischen Dynamiken, die nur indirekt mit der Wirklichkeit oder Fakten zu tun haben.“

Die Coronakrise überstrahlt seit einiger Zeit alles. Wie wirkt sich das auf den Wahlkampf in den USA aus, Herr Werz?

Michael Werz: Die Pandemie hat auf dramatische und tragische Weise aufgezeigt, dass wirtschaftliches Wachstum allein wenig wert ist, wenn das Gesundheitssystem nicht das Wohlergehen der Bevölkerung sicherstellen kann. Die Coronakrise dokumentiert einmal mehr, dass die Reformen der Obama-Regierung notwendig und überfällig waren und fortgeschrieben werden müssen. Doch republikanische Gouverneure und Senatoren haben alles getan, um diese Reformen zu blockieren und finanziell zu untergraben.

Das Weiße Haus unter Präsident Donald Trump klagt nun gar gegen die Implementierung von weiteren Reformschritten, die die Vorgängerregierung durchgesetzt hatte. Viele Wähler*innen sind nachdenklicher und besorgter geworden, diese Verunsicherung nutzt Joe Biden. Und sie schadet einem Präsidenten, der unfähig ist, Empathie zu zeigen und nicht glaubwürdig wirkt, wenn er behauptet, das Gemeinwohl läge ihm am Herzen.

Wirkungsmächtiger und für die Regierungspartei schädlicher ist allerdings das Verhalten des Präsidenten, der die Krise seit Monaten kleinredet, das Maskentragen lächerlich macht und das Weiße Haus in einen COVID-19-Hotspot verwandelt hat. Die permanenten Unwahrheiten und das offene Ressentiment gegen Wissenschaft und Fakten befeuern den rechtsextremistischen Rand des Wählerspektrums, aber dies führt auch zu einer Abwendung und Verunsicherung vieler Wähler*innen der bürgerlichen Mitte.

Porträt von Michael Werz. Er ist Senior Fellow der Stiftung Mercator.
© Privat

Michael Werz

Michael Werz untersucht als Senior Fellow der Stiftung Mercator die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zur Schaffung von Zusammenhalt in modernen Gemeinwesen. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren zu US-Amerikanischer Außenpolitik.

Die Zahlen sind nach wie vor dramatisch, die USA ein Corona-Hotspot. Scheinbar hat die Krise Präsident Trump aber nicht komplett bei den Wähler*innen entzaubert. Woran liegt das?

Werz: Diese wichtige gesellschaftspolitische Frage erfordert eine Antwort, die sich nicht in einigen Zeilen zusammenfassen lässt. Denn die Tatsache, dass weiterhin rund 40 Prozent der Amerikaner*innen Donald Trump unterstützen, berührt die Frage des Zusammenhalts moderner Mittelschichtsgesellschaften, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Kurz gesagt: Die politische Unterstützung Donald Trumps folgt oft psychischen Dynamiken, die nur indirekt mit der Wirklichkeit oder Fakten zu tun haben und einen Prozess der Ent-Solidarisierung und politischer Verwahrlosung erzeugen.

Als Donald Trump im Jahr 2016 mit 62,9 Millionen Stimmen gewählt wurde, war das Erschreckende nicht, dass er 15 oder 16 Millionen oft wenig gebildete Weiße (die Wahlforscher sprechen euphemistisch von „non-college whites“) im mittleren Westen hat überzeugen können. Diese Leute wählten gegen ihre eigenen ökonomischen Interessen – das ist nicht klug, aber ihr gutes Recht und genau diese Gruppen zahlen jetzt nach Gesundheits- und Steuerreform einen hohen Preis für ihre Wahlentscheidung. Dieses Verhalten ist verständlich im Kontext von Modernisierungsverlusten, der Tatsache, dass es beispielsweise im Westen Pennsylvanias Distrikte gibt, wo das Bruttosozialprodukt in den letzten 25 Jahren um 40 Prozent gestiegen und die Lebenserwartung weißer Männer um fünf Jahre gesunken ist. In einigen Landesteilen haben die Globalisierungsveränderungen eine schwache Manufaktur ohne Sicherungssysteme wie in Europa in die Knie gezwungen – und das ohne funktionierende Sozialsysteme, Gewerkschaften oder Gesundheitsversorgung. Der Druck wurde einfach ungeheuer hoch. Und Donald Trump mit all seinem Hass und Ressentiments stellte eine ebenso primitive wie erfolgreiche Gegenidentifikation bereit.

Joe Biden signalisiert in internen Diskussionen immer wieder, dass eine Rückkehr zum status quo ante der 90er Jahre undenkbar ist. Er weiß, wie enorm die Reputation der USA international gelitten hat.

Aber was viel beeindruckender und schwerer zu begreifen ist, sind die über 40 Millionen aufgeklärten Mittelschichts-Amerikaner mit Einkommen zwischen 60.000 und 150.000 US-Dollar, die Trump gewählt haben. In diesen prosperierenden Mittelschichten hat Trump es geschafft, ein emotionales Bermuda-Dreieck von Terrorismus („Islam“), Migration („Mexiko“) und Globalisierung („Handelsbilanzdefizite“) zu kreieren. Er hat damit ein Kraftfeld geschaffen, in dem Menschen, die sich eigentlich als bodenständige Amerikaner wahrnehmen, ein dezentes Leben führen, ein paar Mal im Jahr in die Kirche gehen, für ihre Kinder nur das Beste wollen und glauben, die Verfassung zu respektieren, nicht mehr rational reagieren.

Viele Traditionswähler*innen der republikanischen Partei haben sich durch Trumps anti-westliche Demagogie und die digitale Dauerbeschallung durch FOX News in eine autoritär getriebene Panik hineingesteigert, die zur Wahl und anhaltendender Unterstützung des Präsidenten geführt hat. In den vergangenen drei Jahren fand innerhalb der republikanischen Partei ein Konsolidierungsprozess statt, in dem nun über 80 Prozent der Parteimitglieder diesen Mann unterstützen: Ein Präsident, der inzwischen über 20.000 Mal öffentlich die Unwahrheit gesagt hat, wie die Washington Post dankenswerterweise dokumentiert. Das ist eine Situation, die man sehr ernst nehmen muss und die auch in anderen Kontexten und in anderen Weltregionen ähnliche Auswirkungen zeitigt. Allerdings stellt sich die Frage, wie wir angemessen über diese Phänomene sprechen, ohne das Problem zu personalisieren und jetzt alles auf Donald Trump zu projizieren – er ist ebenso Ausdruck wie Beschleuniger der Krise eines demokratischen Gemeinwesens.

Wie sieht es mit Themen jenseits von Corona aus, welche Rolle spielen diese im Wahlkampf?

Werz: In gewisser Weise spiegelt sich alles in der Coronakrise: die Frage nach sozialem Zusammenhalt, Gesundheit, der Bereitschaft zu gesellschaftlicher Solidarität, das Verhältnis zu den Nachbarn in Kanada und Mexiko, die Rolle multilateraler Organisationen wie der WHO sowie die bei weitem wichtigste Frage: Wie schaffen wir eine wirtschaftliche Erholung, bei der nicht zu viele Amerikaner*innen auf der Strecke bleiben? Und welche institutionellen und politischen Vorsorgemechanismen brauchen wir für das nächste Virus?

Präsident Trump hat das Thema law-and-order prominent gesetzt. Was glauben Sie, wie wichtig wird das am Ende für das Wahlergebnis sein?

Werz: Diese Strategie funktioniert nicht und wird darum wenig Einfluss haben. Zum einen wissen die meisten Leute, dass die Gewalt vor allem von rechtsextremistischen, weißen Milizen ausgeht, die sich von Trump bestärkt fühlen und die das recht konservative Department for Homeland Security kürzlich als größte terroristische Bedrohung für die USA bezeichnet hat.

© Getty Images

Hinzu kommt, dass willkürliche Gewaltanwendung einer Minderheit von Polizisten insbesondere gegen farbige Minderheiten ein bekanntes und anerkanntes Problem ist. Die #blacklivesmatter-Bewegung gilt inzwischen als größte Protestbewegung in der Geschichte der USA. Sie hat zu einem Umdenken vieler weißer Mittelschichtsangehöriger geführt, die in rassistischer Diskriminierung nicht mehr nur ein ethisches Problem sehen, sondern auch erkennen, dass ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit auch in ihrem Eigeninteresse liegt. In einer Gesellschaft mit 40 Prozent Minderheiten, in der es in weniger als zwei Jahrzehnten keine weiße Mehrheit mehr geben wird, existiert ein breites Gemeininteresse an einem aufgeklärten Anti-Rassismus. Law-and-order steht quer zu diesen Entwicklungen.

Und wenn Sie vorausblicken: Trump hat eine Politik der Abkehr vom Multilateralismus verfolgt. Was glauben Sie, lässt sich das von einem Präsident Biden rückgängig machen oder bleiben dauerhaft Schäden zurück?

Werz: Donald Trump hat erstmals in der Geschichte des Westens die USA zum Zentrum anti-westlicher Demagogie gemacht und die alten Partnerschaften in Europa und Asien durch seine Teilnahme an einer Allianz der Autokraten ersetzt. Deshalb befinden sich multilaterale Institutionen und Abkommen in der schwersten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und das trotz bedeutender Erfolge in den vergangenen zehn Jahren mit dem Iran-Nuklearabkommen oder dem Pariser Klimaabkommen. Trumps Handeln verstärkt den erheblichen Druck, dem das internationale Gefüge nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Aufstieg neuer Regionalmächte wie China und Indien sowie dem wachsenden Einfluss der Schwellenländer wie der Türkei, Indonesien oder Brasilien ausgesetzt war. Diese neuen Akteure verfolgen in ihrer internationalen Politik vornehmlich eng definierte nationale Eigeninteressen.

Hinzu kommt, dass rechtspopulistischen Regierungen beiderseits des Atlantiks im Multilateralismus einen Zerrspiegel ungewollter Konsequenzen einer globalisierten Welt sehen und wichtigen internationalen Institutionen den offenen Kampf erklärt haben. Dies gilt für die illiberalen Regierungen in Polen und Ungarn, das Vereinigte Königreich sowie für U.S.-amerikanische Angriffe auf Vereinte Nationen, Europäische Union und NATO. Rechtsnationalistische Parteien in Deutschland, Frankreich und Skandinavien sind zwar nicht an der Macht, agieren aber als wichtige, Multilateralismus-feindliche politische Kräfte in einflussreichen europäischen Ländern.

Joe Biden signalisiert in internen Diskussionen immer wieder, dass eine Rückkehr zum status quo ante der 90er Jahre undenkbar ist. Er weiß, wie enorm die Reputation der USA international gelitten hat – und dass viele Regierungen aus gutem Grund zurückhaltend auf neue Kooperationsangebote aus Washington reagieren werden. Denn letztlich kann niemand sicher sein, ob jemand wie Mike Pompeo nicht 2024 als US-Präsident eine neue Trump Ära begründen wird. Dies hat jedoch zur Folge, dass Europa – und das bedeutet im Moment Brüssel und Berlin – mehr Einfluss als je zuvor auf die Positionierung der USA im multilateralen System hat.

Um diesen Einfluss zu verwirklichen, bedarf es einer guten Strategie und vieler Ideen für die Monate nach der Inauguration von Joe Biden am 20. Januar, sollte er die Wahlen tatsächlich gewinnen. Aber dies setzt auch voraus, dass die Europäer*innen lernen, die Welt mit den Augen und aus der Perspektive der globalen Macht USA zu sehen und sich auf diese oft schwierigen Diskussionen ernsthaft einlassen.

Mercator Fellowship-Programm

Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideen­reich einem Forschungs- oder Praxis­vorhaben zu widmen.

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