„Karten können ein Begegnungsraum zwischen dem Staat und den Menschen sein“

Mit digitalen Karten wird die Welt greifbar. Durch sie finden wir das beste Restaurant in der Gegend und den schnellsten Weg zur Arbeit. Doch populäre Karten wie Google Maps verfolgen ein wirtschaftliches Interesse: Sie zeigen vorrangig Orte zum Einkaufen, platzieren Werbung und erheben Bewegungsdaten ihrer Nutzer*innen. „Es braucht einen Stadtplan der Zukunft“, sagt deshalb Mathias Großklaus von der Agora Digitale Transformation. Im Interview mit AufRuhr erklärt er, wie auch kühle Orte in der Stadt und gute Ideen abgebildet werden. Und welche Rolle Countermapping für die Demokratie spielt.
Herr Großklaus, warum sollten wir uns mehr für Karten interessieren?
Wir nutzen ständig Karten, denken aber kaum darüber nach. Karten sortieren die Welt. Ich schaue auf einen Stadtplan, und er zeigt mir nicht die bunte Realität mit Vögeln und Lärm, sondern Straßen, Kirchen, Restaurants. Karten sortieren auch, was vermeintlich wichtig ist und was nicht. Deshalb sind sie machtvolle Instrumente. Wer Karten zur Verfügung stellt, entscheidet darüber, ob Landesgrenzen farblich hervorgehoben werden, eine Kirche eingezeichnet wird oder der feministische Kulturverein.
Wer bestimmt, was ich im Alltag auf digitalen Karten sehe?
Wir interagieren häufig mit kommerziellen Karten, zum Beispiel mit Google Maps. Der Anbieter hat ein kommerzielles Interesse: Die Karten zeigen Restaurants, Hotels, Shops. Sie sind zudem ÖPNV-Auskunft und integrieren Anbieter von Elektrorollern und Taxiunternehmen.
Das klingt erst mal praktisch. Was fehlt diesen kommerziellen Karten?
Nicht so detailliert sind Informationen über Dinge, die sich nicht gut verkaufen lassen. Zum Beispiel Spielplätze, Grünflächen, kühle Orte im Sommer, Trinkbrunnen, überdachte Rastplätze. So etwas können zivilgesellschaftliche oder auch öffentliche Karten viel besser.

Als Innovation Lead arbeitet Mathias Großklaus bei der Agora Digitale Transformation daran, dass die Mittel einer digitalisierten Welt auch zu wirkungsvollen Hebeln für eine gerechtere Gesellschaft werden. Der promovierte Politikwissenschaftler hat zu digitaler Daseinsvorsorge, Smart Cities und Smart Regions, nachhaltigen digitalen Lösungen und Daten-Governance geforscht und zahlreiche Innovationen in die Umsetzung gebracht. Dabei immer im Blick: beteiligende, transparente und inklusive Prozesse.
Gibt es solche Karten?
OpenStreetMap ist ein Beispiel. Auch die Kommunen in Deutschland stellen inzwischen viele sehr unterschiedliche Karten zur Verfügung. Da sind zum einen klassische Informationskarten, die häufig nach Themen unterschieden werden. Eine Karte zeigt die Spielplätze einer Stadt, eine andere die Wochenmärkte, wieder eine andere die Grünflächen.
Warum steckt das nicht alles in einer Karte?
Dahinter steht häufig eine Verwaltungslogik. Das Grünflächenamt stellt die Karte zu den Grünflächen zur Verfügung. Das Verkehrsamt launcht eine Karte zu Mitfahrbänken. Das ist ein Problem.
Welche Arten von Karten gibt es noch?
Eine sehr beliebte Karte ist der Mängelmelder. Über diese Plattform können Bürger*innen zum Beispiel Schlaglöcher oder kaputte Mülleimer melden. Die Kommune kümmert sich dann darum. Das funktioniert sehr gut, weil Karten hierfür intuitiv funktionieren. Ich muss nicht wissen, welches Amt zuständig ist. Ich muss nur einen Pin auf der Karte an die richtige Stelle setzen und einen kurzen Text schreiben. Dann gibt es auch Ideenkarten. Auf diesen Karten kann ich Vorschläge machen, zum Beispiel dass hier ein Spielplatz gut wäre. Oder dass ich mir wünsche, dass diese Unterführung besser beleuchtet wäre. Zuletzt wären da noch Engagement-Karten. Dort kann man Mitstreiter*innen finden, wenn man zum Beispiel ein Gewässer schützen möchte oder Unterstützung bei einem Behördengang benötigt.
Es existieren also mehr Karten, als man denkt. Warum spielen sie im Alltag der meisten Menschen trotzdem keine Rolle?
Die Landschaft der kartenbasierten Tools ist nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch zersplittert. Bei der Entwicklung hat niemand die User*innen- oder Demokratieperspektive bedacht. Bürger*innen müssen für jedes Anliegen eine separate Karte ansteuern. Viele Karten sind Insellösungen, es gibt Parallelentwicklungen. Eine breite Nutzung kann so nicht entstehen.
Die Landschaft der kartenbasierten Tools ist zersplittert: Bürger*innen müssen für jedes Anliegen eine separate Karte ansteuern.
Stichwort Demokratieperspektive: Was können Karten für die Demokratie tun?
Wenn jemand sagt: Hier liegt Müll. Dann antwortet die Kommune: Vielen Dank, dass Sie aufgepasst haben. Und der Müll wird beseitigt. Das klingt banal, aber es ist eine gute Erfahrung. Die Beteiligten erleben Handlungsmacht. Karten können ein Begegnungsraum zwischen dem Staat und den Menschen sein. Dieser Kontakt ist häufig schwierig und aufwendig. Karten sind aber ein Medium, das den Kontakt sehr einfach macht. So entsteht Vertrauen – in den Staat und in die Demokratie.

Wenn es jetzt schon viele Insellösungen gibt, wie wird daraus eine einzige Karte?
Wir brauchen nicht eine Super-App, die der Bund über zehn Jahre entwickelt. Wir haben als Basis die vielen bestehenden Karten. Es fehlt nur die Vernetzung untereinander: dass der Mängelmelder mit dem interaktiven Stadtplan interagieren kann, dass die Kühle-Orte-Karte kompatibel ist mit der Gute-Ideen-Karte. Es braucht einen Akteur, der eine technische Vereinheitlichung koordiniert und vorantreibt.
Welche Rolle spielt die Agora Digitale Transformation dabei?
Wir kämpfen dafür, dass diese Vereinheitlichung auch passiert. Dahinter steckt viel Überzeugungsarbeit: Wir müssen immer wieder deutlich machen, wie groß die Chancen dabei sind. Und wir erklären, dass wir die Puzzleteile dafür schon haben. Das sind zum einen tolle Tools in den Kommunen, aber auch Infrastruktur wie die OpenStreetMap und eine sehr lebendige Karten-Community.
Wie sähe die fertige Karte aus?
Es wäre eine einzige digitale Karte. Wer die Öffnungszeiten des Rathauses sucht, eine Grillstelle, einen barrierefreien Spielplatz oder im Hochsommer einen kühlen Ort, der schaut einfach auf den Stadtplan auf dem Smartphone. Und wenn Schichtarbeiter*innen spätere Sprechzeiten beim Bürgeramt brauchen, dem Spielplatz eine neue Wippe guttäte, kann das jede*r auf der Karte vermerken. Und womöglich können Bürger*innen auch eigene Veranstaltungen eintragen oder Hausaufgabenhilfe anbieten.
Wann wird es so weit sein?
Das wird schrittweise passieren und in jeder Kommune anders aussehen. Es geht ja nicht um eine Neuentwicklung. Vielmehr sollen die Karten, die schon gut funktionieren, nach und nach um neue Funktionen erweitert werden.
Hätte ich dann zusätzlich noch Google Maps auf meinem Handy?
Vermutlich ja. Es ist nicht Aufgabe der öffentlichen Hand, Restaurants zu kuratieren. Es ist in Ordnung, wenn das der Markt macht. Aber die Bereiche, die den Kontakt zwischen Verwaltung und Menschen betreffen, sind auf einer anderen Karte besser aufgehoben.
Agora Digitale Transformation
Die Agora Digitale Transformation wurde 2022 gegründet, alleinige Gesellschafterin ist die Stiftung Mercator. Die Mission des Thinktanks: überparteilich, kollaborativ und evidenzbasiert auszuloten, welche Chancen die digitale Transformation bietet, um die Demokratie zu stärken.
www.agoradigital.de