„Die Techriesen brauchen öffentlichen Druck – auch von der Wirtschaft“

Josephine Ballon am Laptop in ihrem Berliner Büro.
„Die Techriesen brauchen öffentlichen Druck – auch von der Wirtschaft“
Autor: Philipp Nagels Fotos: Stefanie Loos 28.01.2025

Auf Social Media gehört Hassrede zum Alltag, der deutsche Wahlkampf heizt die Gemüter weiter auf. Zwar sind Plattformen wie Facebook oder TikTok verpflichtet, gegen Hetze vorzugehen. Doch die Techriesen drückten sich vor ihrer Verantwortung, sagt Josephine Ballon von HateAid. Sie zieht den Milliardenkonzern X zur Rechenschaft.

Berlin, 2023. Josephine Ballon verklagt die Social-Media-Plattform X (ehemals Twitter), die im Jahr zuvor von Tech­milliardär Elon Musk gekauft wurde. Das Landgericht Berlin soll klären, ob Nutzer*innen der Plattform einen Anspruch darauf haben, dass antisemitische Inhalte entfernt werden – auch wenn die diskriminierenden Aussagen sie nicht direkt adressieren. Die Klage wurde von HateAid gemeinsam mit der European Union of Jewish Students (EUJS) eingereicht. Antisemitische Äußerungen seien nach den Allgemeinen Geschäfts­bedingungen (AGB) von X nicht erlaubt, trotzdem würden entsprechende Inhalte selten gelöscht, sagt Geschäfts­führerin Ballon. „Wir von HateAid sehen dort eine große Schutzlücke.“

Im Prozess geht es für sie um grundlegende juristische Fragen, aber auch um das generelle Macht­ungleich­gewicht zwischen Konzernen und Nutzer*innen. „Es gibt ganze Industrien, die sich darauf verlassen, dass Menschen ihre Rechte nicht kennen oder nicht glauben, dass sie eine Klage gegen große Unternehmen gewinnen könnten.“ Entsprechende Klagen seien für Einzel­personen mit hohen Kosten­risiken verbunden und auch deswegen extrem selten.

Seit 2023 ist Josephine Ballon die Geschäftsführerin von HateAid.
© Stefanie Loos

Josephine Ballon hat Rechts­wissenschaften an der Universität Potsdam studiert und ist seit 2018 als Rechts­anwältin zugelassen. Sie arbeitete zunächst in den Bereichen Verbraucher­schutz und Legal Tech, wurde dann im Herbst 2019 Head of Legal bei HateAid. Seit September 2023 ist sie zusammen mit Anna-Lena von Hodenberg Geschäfts­führerin der Menschen­rechts­organisation gegen digitale Gewalt.

Diesem Ungleichgewicht etwas entgegen­zu­setzen – das treibt Ballon an und spiegelt sich in ihrer Karriere. Seit 2019 unter­stützt sie als Head of Legal die Menschen­rechts­organisation HateAid, seit einem Jahr ist sie deren Geschäfts­führerin. Die Organisation vertritt unter anderem Menschen, die Opfer von digitaler Gewalt werden, etwa in Form von Hass­kommentaren, Mord­drohungen per E-Mail oder sexualisierten Bild- und Video­fakes. „In den sozialen Medien werden Persönlichkeits­rechte oft mit den Füßen getreten“, erklärt die Rechts­anwältin. „Das hat Folgen für die ganze Gesellschaft.“ Denn Menschen, die öffentlich bloß­gestellt und erniedrigt wurden, trauen sich häufig nicht mehr, an öffentlichen Diskursen teil­zu­nehmen, wie eine Studie von HateAid aus dem Jahr 2024 zeigt. Mehr als die Hälfte der Befragten gab dort an, sich aus Angst vor Hass im Netz zurück­zu­ziehen und sich seltener zum eigenen politischen Stand­punkt zu bekennen. „Unter diesen Umständen ist Meinungs­freiheit kaum noch gegeben“, sagt Ballon. Eine neue Studie der Organisation belegt außerdem, dass die Mehrzahl politisch Engagierter bereits digitale Gewalt erfahren hat.

Es gibt ganze Industrien, die sich darauf verlassen, dass Menschen ihre Rechte nicht kennen.

Josephine Ballon, Head of Legal bei HateAid

„Angegriffen & alleingelassen: Wie sich digitale Gewalt auf politisches Engagement auswirkt. Ein Lage­bild“

Die Technische Universität München befragte in Kooperation mit HateAid politisch Aktive zu ihren Erfahrungen mit digitaler Gewalt. Die Studie zeigt: Digitale Anfeindungen gegen Politiker*innen, Aktivist*innen und andere politisch Engagierte prägen die politische Arbeit.

Die Studie ist hier verfügbar.

Wie gut greift der DSA wirklich?

Seit vergangenem Jahr gilt in der EU ein neues Gesetz über digitale Dienste, das Abhilfe schaffen soll: der Digital Services Act (DSA). Dieser regelt unter anderem den Umgang von sozialen Medien mit rechts­widrigen Inhalten neu. Ein Fortschritt, meint Josephine Ballon, aber nicht in jeder Hinsicht: „Wir hatten in Deutschland vorher eine Regulierung, die in Bezug auf extremistische Inhalte schärfer war.“ Nach dem Netz­werk­durch­setzungs­gesetz (NetzDG) musste eine Plattform beispiels­weise ein Haken­kreuz, das gemeldet wurde, innerhalb von 24 Stunden löschen – nach dem DSA nur noch „unverzüglich“, ohne konkrete Zeitangabe.

Ein Flyer von HateAid.
Ein Flyer von HateAid. © Stefanie Loos
Netzpolitik ist ein Vollzeitjob, weiß Josephine Ballon.
Netzpolitik ist ein Vollzeitjob, weiß Josephine Ballon. © Stefanie Loos

Zudem stellt sich die Frage, wie gut Plattformen wie Facebook, Instagram, Tiktok und YouTube die DSA-Vorgaben tatsächlich umsetzen. HateAid hat dies ein Jahr lang untersucht. Als Ergebnis reichte die Organisation bei den Aufsichts­behörden Beschwerden wegen des Umgangs aller großen sozialen Netzwerke mit rechts­widrigen Inhalten ein. Die Bilanz sei ernüchternd, sagt die Geschäfts­führerin von HateAid: „Die Meldewege sind nicht benutzungs­freundlich, intransparent und nutzen teil­weise sogar Ein­schüchterungs­methoden.“ Bei YouTube etwa muss die meldende Person ihren vollständigen Namen angeben, um eine Beschwerde einzureichen. Das bedeutet, dass der*die Verfasser*in des gemeldeten Posts den Namen zu lesen bekommen könnte. Eine anonymisierte Meldung ist nicht möglich. Gut geschützt sind Nuter*innen demnach nicht.

Bereits der Melde-Button sei schwer zu finden, sagt Josephine Ballon. „Wir sehen darin den Versuch, Menschen davon abzuhalten, rechts­widrige Inhalte zu melden. Die Plattformen nutzen jedes Schlupf­loch, das ihnen der DSA bietet.“ Auch gegen TikTok hat HateAid deshalb im letzten Jahr eine Beschwerde eingereicht. Nach Meinung der Organisation muss der Gesetzes­text des DSA geschärft werden, um konkrete Vorgaben zu definieren. Nicht nur für die Melde­wege, sondern auch in Bezug auf die Moderation und die Algorithmen, über die problematische Inhalte ausgespielt werden.

Wer klagt, braucht einen langen Atem

Wer es mit den großen US-Konzernen juristisch aufnimmt, braucht Durch­halte­vermögen und tiefe Taschen. Das hat Josephine Ballon in ihrem Prozess gegen X fest­stellen müssen. Erst anderthalb Jahre nach Einreichung der Klage kam es im vergangenen Sommer zum ersten Verhandlungs­termin. Das Land­gericht Berlin folgte der Argumentation von X, dass die deutsche Justiz nicht zuständig sei, und wies die Klage ab. Die Begründung: Ballon und Mitklägerin Avital Grinberg (EUJS) könnten nur in Deutschland klagen, wenn sie entweder selbst direkt Ziel von antisemitischen Inhalten seien – dann greife das deutsche Straf­recht – oder wenn sie „Verbraucher*innen“ seien, die sich auf die vertraglichen AGB berufen können. Dies sei aber nicht der Fall, da das Verfahren strategisch geführt würde, stell­vertretend für alle potentiellen Nutzer*innen.

Lange Wartezeiten und ein Gericht, das nicht zuständig ist – hat man gegen die großen Tech­konzerne überhaupt eine Chance, Frau Ballon? „Ja“, sagt sie mit Nachdruck. „Vor allem, wenn man den öffentlichen Druck auf­recht­erhält und die Wirtschaft auch Stellung bezieht. Denn die Wirtschaft hält das Geschäfts­modell der Social-Media-Plattformen durch ihre Werbe­anzeigen am Leben.“ Immerhin, mehr als 80 inter­nationale Medien haben bereits über den X-Prozess berichtet. Ein Erfolg. Die Klägerinnen sind derweil beim Kammer­gericht Berlin in Berufung gegangen. Sollte dies keine Klärung bringen, ist Josephine Ballon schon auf den nächsten Schritt vorbereitet: Eine Vorlage an den Europäischen Gerichts­hof hält sie für möglich. Am langen Atem wird es nicht scheitern.


HateAid

HateAid ist eine gemein­nützige Organisation, die sich für Menschen­rechte im digitalen Raum einsetzt und sich auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene gegen digitale Gewalt und ihre Folgen engagiert.

hateaid.org