Wie geht es der Demokratie in Polen, Sonia Horonziak?

Am 18. Mai wählt Polen einen neuen Staatspräsidenten. Europa blickt mit Sorge auf die nahende Abstimmung. Zwar regiert seit Ende 2023 mit Donald Tusk wieder eine proeuropäische Koalition, doch das Land ist tief gespalten. Das Vertrauen der Bürger*innen in staatliche Institutionen sei erschüttert, russische Versuche, den Wahlkampf zu beeinflussen, seien spürbar, sagt Sonia Horonziak vom Institut für öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych), einem Thinktank in Warschau. Als Expertin für Wahlprozesse in Zentral- und Osteuropa arbeitet sie mit dem Thinktank Democracy Reporting International zusammen. Wie der polnische Staat Vertrauen zurückgewinnen kann und warum es Grund zur Hoffnung gibt, erklärt Sonia Horonziak im Gespräch mit AufRuhr.
Frau Horonziak, wie würden Sie den aktuellen Zustand der Demokratie in Polen beschreiben?
Polen ist nach wie vor eine Demokratie – wenngleich ich von einer „mangelhaften Demokratie“ spreche. Denn unsere Gewaltenteilung wurde systematisch geschwächt: Viele unserer heutigen Probleme sind ein Erbe der achtjährigen PiS-Regierung unter Jarosław Kaczyński. Obwohl Donald Tusk seit 2023 polnischer Ministerpräsident war, wird die neue Regierung noch immer viel zu tun haben, wenn sie das Vertrauen wiederherstellen und rechtsstaatliche Prinzipien stärken will.
Wo sehen Sie die größten Schwächen im demokratischen System Polens?
Besonders kritisch ist der Zustand der polnischen Justiz. Der Fakt, dass mindestens 40 der Richter*innen des Obersten Gerichtes von der PiS-Partei entfernt und mit ihr nahestehenden Richter*innen ersetzt wurden, ist weiterhin problematisch. Denn gerade dieses Gericht soll nach der Wahl über die Rechtmäßigkeit der Wahlergebnisse entscheiden.

Dr. Sonia Horonziak ist Expertin für demokratische Wahlen und politische Teilhabe. Als Programmleiterin am Institut für öffentliche Angelegenheiten in Warschau analysiert sie die Herausforderungen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Polen und Mitteleuropa – mit besonderem Fokus auf Wahlen, Desinformation und gesellschaftliche Polarisierung. Hierfür arbeitet sie mit Democracy Reporting International zusammen.
Beeinträchtigt diese Situation das Vertrauen der Bürger*innen in den Staat?
Auf jeden Fall. Das Vertrauen befindet sich auf einem historischen Tiefstand, dafür ist auch die vorherige Regierung mit verantwortlich. In aktuellen Umfragen zeigt sich, dass viele Menschen wenig Vertrauen in die politischen Parteien, Gerichte und staatlichen Institutionen Polens haben. Selbst wenn die Präsidentschaftswahl korrekt abläuft, bleibt bei vielen ein Gefühl des Misstrauens.
Demokratie braucht digitale Transparenz
Democracy Reporting International (DRI) setzt sich nicht nur in Polen für faire Wahlen ein: In Deutschland klagt die Organisation derzeit gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) gegen die Social-Media-Plattform X (ehemals Twitter), um einen besseren Zugang zu öffentlichen Daten zu erstreiten. Ihr Ziel: freie Forschung zur digitalen Wahlbeeinflussung – ein zentrales Thema auch bei den Wahlen in Polen.
Welche Rolle spielen soziale Medien in diesem Wahlkampf?
Eine entscheidende. Gerade junge Wähler*innen beziehen ihre Informationen fast ausschließlich über soziale Netzwerke wie Facebook, YouTube, Instagram und TikTok. Leider ist Polen beim Thema Regulierung hintendran: Der Digital Services Act (DSA) der EU wird hier noch nicht umgesetzt, da es keine zuständige nationale Behörde gibt. Das ist ein Vorteil für alle, die Desinformation, darunter auch prorussische Narrative, verbreiten.
Hat die Desinformation einen großen Einfluss auf den Wahlkampf?
Ja, sehr! Fast täglich finden Cyberangriffe auf die Regierung und andere politische Parteien statt. Die wichtigsten Plattformen wie die Website der Regierungspartei wurden bereits gehackt. Dazu kommen gezielte Desinformationskampagnen, die online gestreut werden. Meistens handelt es sich dabei um Propaganda gegen die Ukraine, mit dem Ziel, antiukrainische Stimmung unter den Pol*innen zu verbreiten oder Kandidat*innen zu unterstützen, die kritischer gegenüber der Europäischen Union oder der NATO eingestellt sind.
Das polnische Justizsystem ist nach wie vor problematisch, es wird sowohl von polnischen Expert*innen als auch von Expert*innen der EU als verfassungswidrig eingestuft.
Wie bewertet die EU die Lage der Demokratie in Polen?
Die EU hatte wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit ein Verfahren gegen Polen eingeleitet, das von 2015 bis 2023 lief. Es wurde jedoch nach dem Regierungswechsel von Donald Tusk vorschnell beendet. Das war aus meiner Sicht ein Fehler. Das polnische Justizsystem ist nach wie vor problematisch, es wird sowohl von polnischen Expert*innen als auch von Expert*innen der EU als verfassungswidrig eingestuft. Das Oberste Gericht ist nicht neutral und könnte beispielsweise die Wahl für ungültig erklären, wenn ein*e Kandidat*in gewinnt, der*die nicht aus derselben Partei stammt wie die Richter*innen. Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, könnte die Entscheidung des Gerichtes von beiden Seiten des politischen Spektrums infrage gestellt werden.
Ist es möglich, dass die Menge an Desinformation die Präsidentschaftswahl so stark beeinflussen könnte, wie es Ende 2024 in Rumänien der Fall war?
Natürlich besteht die Gefahr, dass diese Art von Desinformation die prorussische Stimmung im Land stärkt, immerhin vertreten einige Kandidat*innen bei den Präsidentschaftswahlen genau solche Ansichten. Glücklicherweise ist der gesellschaftliche Widerstand gegen prorussische Narrative groß, und die Spitzenkandidat*innen lehnen solche Ideen ab. Auch wenn ein ähnliches Szenario wie in Rumänien eher unwahrscheinlich erscheint, bedeutet das nicht, dass solche Inhalte nicht entschieden bekämpft werden sollten.
Ist nachvollziehbar, woher diese Fake News stammen?
Die genaue Quelle dieser Angriffe lässt sich nur schwer ermitteln. Wir können jedoch orten, dass sie aus dem Osten Polens und höchstwahrscheinlich aus Russland oder Belarus kommen. Das passt auch damit zusammen, dass hauptsächlich jene Parteien Zielscheibe der Cyberangriffe und Desinformationskampagnen sind, die proeuropäisch oder proukrainisch eingestellt sind.

Wie reagieren die Präsidentschaftskandidat*innen auf diese Desinformationskampagnen?
Für mich ist besonders alarmierend, dass prorussische Desinformation zunehmend von Kandidat*innen selbst verbreitet wird. Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Grzegorz Braun postet beispielsweise nachweislich prorussische Narrative und schürt Ängste vor ukrainischen Geflüchteten. Es gibt auch einen offen Pro-Putin-Kandidaten, Maciej Maciak, der den russischen Präsidenten für seinen Widerstand gegen den Westen lobt.
Die polnische Regierung hat das „Umbrella Project“ als Mittel gegen Desinformation lanciert. Für wie effektiv halten Sie es?
Bisher ist dessen Bilanz eher enttäuschend. Zwar können Bürger*innen nun Falschinformationen in den sozialen Medien melden, doch die Masse an Desinformation ist schlichtweg überwältigend. Hinzu kommt, dass Plattformen wie Facebook ihre eigenen Faktenchecks reduziert beziehungsweise abgeschafft haben. Das verschärft die Situation zusätzlich.
Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden, um die polnische Demokratie zu stärken?
In der Regel wird erst reagiert, wenn offensichtlich gegen die demokratische Grundordnung verstoßen wurde. Das muss sich ändern: Wir brauchen nicht nur Mechanismen, die nach einer Wahl aktiv werden, sondern solche, die während des Wahlkampfes eingreifen. Außerdem müssen wir Bürger*innen besser schulen, wenn es um Medienkompetenz und den Umgang mit Desinformation geht.
Gibt es trotzdem Anlass zur Hoffnung?
Natürlich. Einige Präsidentschaftskandidat*innen setzen klare proeuropäische und konstruktive Akzente: Sie sprechen über Polens Rolle in der NATO, über die Unterstützung der Ukraine und über die Chancen einer starken Einbindung in die EU. Ich hoffe sehr, dass diese Stimmen bei der Wahl mehr Gehör finden. Und dass Polen im Herzen Europas zurück zu einer stabilen liberalen Demokratie findet.
Democracy Reporting International
Democracy Reporting International (DRI) ist eine unabhängige Organisation mit Sitz in Berlin, die sich weltweit für die Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und politischer Teilhabe einsetzt. DRI arbeitet mit lokalen Partnern, beobachtet Wahlprozesse, analysiert Desinformation und berät Regierungen, Parlamente und die Zivilgesellschaft. In Polen unterstützt DRI Projekte zur Stärkung transparenter Wahlen und zur Abwehr von Desinformationskampagnen.