Auf Sendung gegen Diskriminierung

Porträt von Carlotta Niewels, 19-jährige Abiturientin, Podcasterin und betitelt als Anne Frank Botschafterin.
Auf Sendung gegen Diskriminierung
Autorin: Cornelia Heim Fotos: Mika Volkmann 12.05.2020

Carlotta Niewels ist 19 und auf dem Sprung hinaus in die Welt. Noch im Abi-Jahr hat sie einen Podcast gestartet: „ZUHÖREN statt nur gaffen“ – und wurde dafür mit dem Titel der Anne Frank Botschafterin geehrt. Was hat es mit beidem auf sich? Spuren­suche in der Provinz.

Ihr Zuhause ist ein fröhliches gelbes Häuschen abseits der dörflichen Haupt­straße, im Garten flattert die blaue Fahne der Europäischen Union. „Hier ist doch nichts“, hatte sich Carlotta Niewels am Telefon gewundert, dass wir sie besuchen wollen – um sie zu erleben in der Umgebung, in der sie auf­gewachsen ist und die ihr Denken mit­geprägt hat. Erster Eindruck: Es wirkt wie eine heile Welt. Carlotta selbst ist nur noch sporadisch daheim, längst befindet sich die 19-Jährige auf dem Sprung: morgen Sprach­kurs in Madrid, im Frühjahr Urlaub auf Bali, danach wohl Summer School, ein Angebot des Anne Frank Zentrums Amsterdam. Schließlich darf sich die junge Frau seit ein paar Monaten ganz offiziell „Anne Frank Botschafterin“ nennen. Wie lebt so ein Teenager, dem die deutsche Vergangenheit alles andere als egal ist?

Wir sind in Overath, 25 Kilometer östlich von Köln im Rheinisch-Bergischen Kreis. Mit Bus und Regional­bahn dauert es vom Kölner Haupt­bahn­hof aus eine gute Stunde bis hier hinaus aufs Land. Die örtliche Bus­halte­stelle ist gleich ums Eck, nur drei Minuten Fuß­weg von ihrem Zuhause entfernt, direkt an der Haupt­straße. Carlotta reicht selbst gebackenes Bananen­brot, es gibt Cappuccino mit aufgeschäumter Hafer­milch. Durch die boden­tiefen Fenster fällt warmes Licht in den offenen Ess- und Wohn­bereich, am einladenden Holz­tisch beginnt die junge Gast­geberin zu erzählen. Aus dem Ordner mit den wichtigen Dokumenten zieht sie eine sorgsam verwahrte Ehren­urkunde. Darauf ein ernstes jugendliches Gesicht, das aus der Vergangenheit fast ein wenig mahnend, so scheint es, herüber­blickt: Anne Frank.

Demokratie leben

Im Sommer 2019 hat die heute 19-jährige Carlotta Niewels ihr Abitur gemacht – Leistungs­kurse: Geschichte und Biologie. Im September wurde sie zur Anne Frank Botschafterin gekürt. Obwohl sie die Ehrung im Anne Frank Zentrum in Berlin nur per Video­stream mit­verfolgen konnte – „Ich war zu dem Zeit­punkt leider auf Pilger­reise“ –, bedeutet ihr die Ernennung viel. „Das ist ein Titel, den man trägt, weil man damit etwas repräsentiert.“ Dass man sich für die Demokratie einsetze? „Ja, das hört sich so groß an“, sagt Carlotta, die es für sich bescheidener aus­drücken mag: „Ich hoffe, einen kleinen Beitrag für eine offene Gesellschaft zu leisten.“ Bisweilen, schiebt sie gleich hinter­her, verspüre sie aber auch Sorge, „dass ich das nicht füllen kann, dass ich das gar nicht verdiene“. Dabei scheint die nach­denkliche junge Frau geradezu prädestiniert für diesen Titel zu sein, so engagiert und offen, wie sie sich zeigt. Kaum verwunderlich, dass sie zu ihren Schul­zeiten am Paul-Klee-Gymnasium in Overath auch im Schüler­sprecher-Team war. Nachhaltig­keits­projekte wie Kleider­börsen oder Plastik­müll­sammlungen lagen ihr besonders am Herzen.

Carlotta Niewels vor dem Kölner Dom
Anne-Frank-Botschafterin Carlotta Niewels. © Mika Volkmann

Als „Peer Guide“ aktiv im Austausch mit Gleich­altrigen

Zu Anne Frank ist sie per Zufall gekommen. Es war Frühsommer 2018, elfte Klasse, als eine Geschichts­lehrerin fragte, wer im Rahmen des Anne-Frank-Botschafter*innen-Programms bei der Anne-Frank-Wander­aus­stellung, die damals in Köln gastierte, als Tour­guide mitmachen wolle. Carlotta hob den Finger und wurde aus 90 Bewerber*innen ausgesucht. Die Idee: Gleich­altrige als „Peer Guide“ durch „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“ zu führen. Nur der erste Teil der Ausstellung widmet sich dem Teenager Anne Frank, ihrem Versteck in Amsterdam, ihren Sehnsüchten, dem Tage­buch, dem Verrat und dem grausamen Tod im Konzentrations­lager Bergen-Belsen. Im zweiten Teil geht es um Sinn­fragen, die wohl in jeder Pubertät auftauchen: Wer bin ich? Wo fühle ich mich zugehörig? Wie werde ich von anderen gesehen? Aber auch um Fragen des Mit­einanders: Werde ich in eine Schublade gesteckt? Stecke ich andere in Schubladen? Fühle ich mich aus­gegrenzt? Es ging folglich insbesondere darum, mit anderen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, sie zum Nachdenken anzuregen. „Das fand ich spannend“, erzählt Carlotta rück­blickend. In der Zeit fuhr sie oft in die Kölner Innen­stadt und gab dort zwei Stunden während oder auch nach der Schul­zeit den Guide für Schüler*innen ab der neunten Klasse aufwärts.

Der Kölner Dom aus der Perspektive des Kölner Hauptbahnhofs
In Köln besuchte sie Transperson Emmet. © Mika Volkmann
Carlotta Niewels im Zug
Für ihren Podcast reist Carlotta zu spannenden Persönlichkeiten. © Mika Volkmann

Raus aus der „Bubble“

Viel habe sie dabei gelernt. „Alleine, sich vor 25 bis 30 Jugendliche hin­zu­stellen, hat mich selbst­bewusster gemacht.“ Von dem, was die Gleich­altrigen berichteten, war sie teil­weise richtig schockiert, in ihrer eigenen friedlichen „Bubble“ hatte sie solche Art von Diskriminierung bisher nicht erlebt: „Jude“, so erzählten manche, werde oft noch als Schimpf­wort verwendet. Deshalb, keine Frage, beschloss Carlotta nach der Guide-Erfahrung, mit dem Programm weiter­zu­machen und zur Anne Frank Botschafterin zu werden. Bei einem langen Wochenende im Anne Frank Zentrum in Berlin „konnten wir alles in Workshops vertiefen“. Letzter Schritt für alle Absolvent*innen auf dem Weg zur offiziellen Botschafter*in: ein eigenes Projekt!

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Warum macht Carlotta ihren Podcast und was will sie damit erreichen? Im Video erklärt sie es.

Podcast, um ins Gespräch zu kommen

Schon beim Wochenendseminar in Berlin hatte sich für sie heraus­kristallisiert, was ihr Ding sein sollte: Menschen zu befragen, die nicht der Norm entsprechen. Und dann zu podcasten, „weil das junge Leute anspricht“. Denn Diskriminierung, findet Carlotta, komme irgendwie aus einer bequemen Haltung. Vor­urteile seien oft nur Mittel, die Welt einzuordnen in Bekanntes und Unbekanntes, Nahes und Fremdes. „Nur wenn man darüber redet, wird alles besser.“ Der Vater, Journalist beim Kölner Stadt-Anzeiger, nein, der habe damit gar nichts zu tun. Kommunikation scheint gleich­wohl ihre große Stärke zu sein, rede­gewandt ist sie in jedem Fall. Titel und Motto ihres Podcasts: „ZUHÖREN statt nur gaffen“.

Carlotta Niewels in Ihrem Zimmer in Overath vor ihrem Laptop
Cutten hat Carlotta sich selbst beigebracht. © Mika Volkmann
Carlotta Niewels vor einem Mikrofon. Im Hintergrund steht ein Laptop. Sie nimmt ihren Podcast auf.
Mit ihrem Podcast will Carlotta auch während des Studiums weitermachen. © Mika Volkmann

Drei Folgen – drei Geschichten

Dafür hat sie sich auf den Weg gemacht. Nach Hannover ist sie gefahren zu Ninia, nach Köln zu Emmet und nach Bonn zu Britta. Eine klein­wüchsige Frau, eine Trans­person und eine Blinde hat sie im Gespräch porträtiert. Alles während ihrer Abitur­phase. Beim Debüt hatte sie noch zwei jüngere Mit­streiter aus ihrer Schule an der Seite. „Den beiden wurde es zu viel, die sind danach aus­gestiegen“, erzählt Carlotta. Zwischen 30 und 45 Minuten lang sind ihre Geschichten. Zunächst diente das Smartphone als Auf­nahme­gerät – „Qualität grenz­wertig“ –, Cutten hat sie sich mithilfe von YouTube-Tutorials bei­gebracht. Ein Freund hat das Logo zum Podcast designt, passende Sticker wurden besorgt – wir sollen unbedingt welche mitnehmen und verkleben. Denn mit der Resonanz hapert es noch. Und das ist in der Tat schade. 220 Menschen haben den Erstling gehört, „die anderen viel weniger“. Das Lokalradio vor Ort habe einen Hinweis auf den Podcast aus­geschlagen – „zu wenig Lokal­bezug“ –, und auch die Zeitung habe sich nicht wieder gemeldet. „Das habe ich mir in meiner Anfangs­euphorie viel leichter vor­gestellt.“ So findet man ihren äußerst hörens­werten Podcast bei Soundcloud oder Spotify nur, wenn man davon weiß.

„Ich frage – ihr müsst nicht antworten“

Sehr glücklich ist sie im Nachhinein aber, dass ihr erster Gast Ninia LaGrande war – eine bekannte, kleinwüchsige Poetry-Slammerin, die durch­aus wort­gewandt schildern konnte, wie sie im Alltag Diskriminierung erlebt: wenn Blicke ausgrenzen, Arroganz alle Gefühle tötet. Paare, die die Hände ineinander verschränkt über sie hin­weg­schwenkten, als ob sie lediglich eine 1,40 Meter hohe Bahn­schranke sei. „Vieles passiert unbewusst“, hat Carlotta mittler­weile erkannt. Auch wenn sie sich bemüht, keinem auf die Füße zu treten – „ja, klein­wüchsig ist der richtige Begriff, ich habe extra nach­gefragt“ –, ist sie gegen Fett­näpfchen nicht gefeit. Als sie in der zweiten Folge Emmet fragt, wie eigentlich sein alter Name lautet, erklärt er ihr, das sei jetzt aber ein absolutes No-Go, Trans­personen dürfe man nicht nach ihrer früheren Identität aushorchen. „Voll peinlich!“, schämt sich Carlotta noch Monate später. Zu Hause hätte sie die Szene am liebsten heraus­geschnitten. Sie hat sich dann aber doch nur auf die vielen „Ähms“ und „Öhms“ beschränkt und das Gespräch ansonsten belassen, wie es war: „Weil es so vielleicht anderen hilft, nicht ähnliche Fehler zu machen.“ Sie selbst ist mit ihren Worten sensibler geworden, seit sie weiß, „Details können eine große Rolle spielen.“

Carlotta Niewels Ehrenurkunde
Carlotta ist eine von 250 Botschafter*innen. © Mika Volkmann
Carlotta Niewels hält ein Handy in die Kamera, auf dem ihr Instagram-Profil ihres Podcasts zu sehen ist.
„Ihr Ding“: Menschen befragen und podcasten. © Mika Volkmann

Hier geht’s zu Carlottas Podcast „ZUHÖREN statt nur gaffen“:

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Kurz bevor wir gehen, stellt Carlotta Niewels noch ihr Weihnachts­geschenk auf den Holz­tisch: ein Stand­mikrofon. Ja, die frisch­gebackene Anne Frank Botschafterin will den Podcast in losen Folgen weiter ausbauen. Warum? „Wir reden doch viel zu oft nur über­einander statt miteinander.“ Im Herbst dieses Jahres sollen parallel dazu Auszug und Studium folgen, am liebsten Umwelt-, Sozialwissenschaften und/oder Politik. Fürs Leben gelernt hat Carlotta aber jetzt schon unschätzbar viel. Anne Frank hätte das bestimmt gefallen.

Anne Frank Botschafter*innen

Das Anne-Frank-Botschafter*innen-Programm soll junge Menschen dabei unter­stützen, sich für eine demokratische Gesellschaft und gegen Diskriminierung, Rassismus und Anti­semitismus ein­zu­setzen.

www.annefrankbotschafterinnen.de