EU-Türkei-Beziehungen: „Ohne gegen­seitiges Vertrauen wird die Türkei immer unberechen­bar bleiben“

Taussende Menschen mit Türkeiflaggen vor der Hagia Sophia
EU-Türkei-Beziehungen: „Ohne gegen­seitiges Vertrauen wird die Türkei immer unberechen­bar bleiben“
Autor: Felix Jung 04.02.2025

Überraschend wurde im Dezember 2024 das Assad-Regime in Syrien gestürzt. Ein Erfolg für den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, der die syrische Opposition seit vielen Jahren unter­stützt hat. Die Türkei gewinnt an Einfluss, auch in der Europäischen Union (EU). Die Politologin Hürcan Aslı Aksoy rät: Gerade jetzt brauchen die Türkei und die EU ein neues Kooperations­modell statt transaktionaler Beziehungen.

Frau Aksoy, die Herrschaft von Baschar al-Assad in Syrien hat ein Ende, die Türkei war maß­geblich am Sturz beteiligt. Was werden die nächsten Schritte von Präsident Erdoğan sein?
Niemand hat erwartet, dass das Regime so schnell fallen würde. Da Russland und der Iran nun kaum Einfluss mehr in Syrien haben, wird die Rolle der Türkei wichtiger. Aktuell verlangen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein Außen­minister Hakan Fidan, dass die kurdischen Volks­verteidigungs­einheiten in Syrien ihre Waffen nieder­legen. Außerdem sollen alle nicht syrischen Kämpfer*innen das Land verlassen. Für Ankara ist es sehr wichtig, dass im Süden des Landes kein autonomer kurdischer Staat entsteht.

Wie realistisch sind diese Pläne?
Normaler­weise werden die Waffen im letzten Teil eines Friedens­prozesses nieder­gelegt – nachdem beide Konflikt­parteien an einen Tisch gekommen sind und entsprechende Verträge unter­schrieben haben. Doch Erdoğan fängt von hinten an. Gleich­zeitig hat seine Regierung die Repression gegen kurdische Politiker*innen verstärkt. Das erschwert den Prozess meiner Meinung nach und macht seine Umsetzung weniger realistisch.

Was plant die türkische Regierung hinsichtlich der syrischen Geflüchteten?
Es gibt großen Unmut über die syrischen Geflüchteten innerhalb der türkischen Bevölkerung. Nach offiziellen Zahlen befinden sich heute über drei Millionen Syrer*innen in der Türkei. Viele Oppositions­parteien sind dafür, die Geflüchteten zurück­zu­schicken. Erdoğans Regierungs­partei AKP sieht das allerdings gelassener. In einer Rede erklärte Erdoğan, dass Syrer*innen, die in der Türkei bleiben wollten, dort weiterhin willkommen seien. Ihm sei klar, dass das Land in Trümmern liege und sich viele Syrer*innen in der Türkei ein neues Leben aufgebaut hätten. Sie einfach aus­zu­weisen, dürfte schwierig werden.

Dr. Hürcan Aslı Aksoy
© CATS

Dr. Hürcan Aslı Aksoy ist Politologin mit einem Schwerpunkt auf türkische Innen- und Außen­politik, EU-Türkei-Beziehungen, Krisen­management und Menschen­rechten. Seit Juni 2023 ist sie Leiterin des Centrums für angewandte Türkei­studien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, seit 2024 Wissen­schaftlerin in der Themen­linie „Auto­kratisierung als Heraus­forderung für die deutsche und europäische Politik“.

In den letzten Jahrzehnten gab es diverse Systemstürze im Nahen Osten. Ist der Sturz des Assad-Regimes ein Nach­zügler des Arabischen Frühlings?
Ich benutze in diesem Zusammenhang das Wort „Frühling“ nicht, weil es sich um arabische Aufstände gehandelt hat. Aufstände, die in einigen Fällen sehr blutig und in anderen chaotisch verlaufen sind. Es waren Aufstände gegen die damaligen auto­kratischen Regime, ein regionales Phänomen mit Domino­effekt. Heute wissen wir, dass die Aufstände nicht unbedingt demokratische Regime zur Folge hatten. Stattdessen sind viele Staaten im Nahen Osten noch autokratischer geworden, wenn wir beispiels­weise auf Ägypten oder Libyen blicken. Der Sturz Assads ist also keine Weiter­führung der arabischen Aufstände, sondern gehört zu einer anderen Epoche, die durch den Einmarsch Russlands in Syrien ab 2015/16 begonnen hatte.

Recep Tayyip Erdogan
Präsident Erdoğan bei einem öffentlichen Auftritt. © picture alliance

Erdoğan hingegen behält die Fäden weiter in der Hand. Was ist sein Erfolgs­rezept?
Er ist ein sehr erfahrener Politiker und seit 22 Jahren an der Macht. Auch wenn er seine Position für persönliche Interessen einsetzt und den Staat von einem parlamentarischen zu einem Präsidial­system umgebaut hat, wird er von der türkischen Bevölkerung gewählt. Was ihm diesen Erfolg bringt, sind sein Pragmatismus und taktisches Handeln.

Was Erdoğan Erfolg bringt, sind sein Pragmatismus und taktisches Handeln,

Hürcan Aslı Aksoy

Die Türkei ist für ihren Balance­akt zwischen westlichen und östlichen Fronten bekannt. Wie steht es um die Beziehungen zur EU?
Für die EU ist die Türkei unverzichtbar geworden. Sowohl in Bezug auf den Krieg in der Ukraine als auch auf die Spannungen in südlichen Nachbar­ländern Europas, zum Beispiel in Libyen. Beide Akteure wissen mittler­weile, wie sie miteinander arbeiten können, weil sie lange funktionierende wirtschaftliche und sicherheits­politische Beziehungen unterhalten. Trotzdem bleibt die Türkei unberechenbar.

ein Mann hängt eine türkische Flagge auf
Ein Demonstrant hisst die türkische Nationalflagge. © Getty Images

Weshalb bleibt sie unberechenbar?
Weil ein transaktionaler Beziehungsstil entsteht, etwa durch die EU-Türkei-Flüchtlings­vereinbarung. Das Motto „Wir geben dir Geld und du behältst die Geflüchteten in deinem Land“ sorgt für eine starke Gegen­reaktion der türkischen Bevölkerung. Sie ist genervt davon, dass die Türkei wie ein Türsteher agieren und sich gleich­zeitig an europäische Werte halten soll. Werte, die insbesondere seit dem 7. Oktober 2023 und durch die uneingeschränkte Unter­stützung Israels durch Europa und die USA selbst nicht eingehalten werden.

Was wünschen Sie sich statt transaktionaler Beziehungen?
Die EU muss anerkennen, dass die Türkei ein unverzichtbarer Partner ist und ihr auf Augenhöhe begegnen. Statt geschäftlicher Transaktionen sollte Transparenz geschaffen werden, damit neues Vertrauen wachsen kann. Solange es kein Vertrauen auf beiden Seiten gibt, wird die Türkei immer unberechenbar bleiben.

Wie ließe sich dieses Vertrauen herstellen?
Die EU sollte mit der Türkei in beiderseitigem Interesse zusammen­arbeiten und dabei an ihren Grund­prinzipien fest­halten. Zu Recht kritisiert das Europäische Parlament den repressiven und autokratischen Umgang mit den Kurd*innen in der Türkei. Doch dieselbe Kritik wurde nicht gegen das Vorgehen des israelischen Staates im Gaza-Krieg angebracht. Mit anderen Worten: Die EU handelt nicht nach ihren eigenen Werten. Trotz allem sind konflikthafte Partner­schaften möglich. Das ist kein Wunsch­denken, sondern meine realistische Analyse der Gegenwart.

Zu guter Letzt: Wie wird die erneute Trump-Präsidentschaft in den USA die EU-Türkei-Beziehungen beeinflussen?
Angesichts der neuen Trump-Regierung müssen die Türkei und die EU ihre nachbarschaftliche Zusammen­arbeit stärken. Was wir brauchen, sind neue Kooperationen für nationale und europäische Sicherheit – vom Schwarzen Meer über das östliche Mittel­meer bis nach Afrika.


Ankaras Balanceakt zwischen den Blöcken

Mehr über die außenpolitische Strategie der Türkei lesen Sie im Beitrag „Ankaras Balanceakt zwischen den Blöcken“ von Hürcan Aslı Aksoy im Magazin „Internationale Politik“.

internationalepolitik.de/ankaras-balanceakt-zwischen-den-bloecken