EU-Türkei-Beziehungen: „Ohne gegenseitiges Vertrauen wird die Türkei immer unberechenbar bleiben“

Überraschend wurde im Dezember 2024 das Assad-Regime in Syrien gestürzt. Ein Erfolg für den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, der die syrische Opposition seit vielen Jahren unterstützt hat. Die Türkei gewinnt an Einfluss, auch in der Europäischen Union (EU). Die Politologin Hürcan Aslı Aksoy rät: Gerade jetzt brauchen die Türkei und die EU ein neues Kooperationsmodell statt transaktionaler Beziehungen.
Frau Aksoy, die Herrschaft von Baschar al-Assad in Syrien hat ein Ende, die Türkei war maßgeblich am Sturz beteiligt. Was werden die nächsten Schritte von Präsident Erdoğan sein?
Niemand hat erwartet, dass das Regime so schnell fallen würde. Da Russland und der Iran nun kaum Einfluss mehr in Syrien haben, wird die Rolle der Türkei wichtiger. Aktuell verlangen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein Außenminister Hakan Fidan, dass die kurdischen Volksverteidigungseinheiten in Syrien ihre Waffen niederlegen. Außerdem sollen alle nicht syrischen Kämpfer*innen das Land verlassen. Für Ankara ist es sehr wichtig, dass im Süden des Landes kein autonomer kurdischer Staat entsteht.
Wie realistisch sind diese Pläne?
Normalerweise werden die Waffen im letzten Teil eines Friedensprozesses niedergelegt – nachdem beide Konfliktparteien an einen Tisch gekommen sind und entsprechende Verträge unterschrieben haben. Doch Erdoğan fängt von hinten an. Gleichzeitig hat seine Regierung die Repression gegen kurdische Politiker*innen verstärkt. Das erschwert den Prozess meiner Meinung nach und macht seine Umsetzung weniger realistisch.
Was plant die türkische Regierung hinsichtlich der syrischen Geflüchteten?
Es gibt großen Unmut über die syrischen Geflüchteten innerhalb der türkischen Bevölkerung. Nach offiziellen Zahlen befinden sich heute über drei Millionen Syrer*innen in der Türkei. Viele Oppositionsparteien sind dafür, die Geflüchteten zurückzuschicken. Erdoğans Regierungspartei AKP sieht das allerdings gelassener. In einer Rede erklärte Erdoğan, dass Syrer*innen, die in der Türkei bleiben wollten, dort weiterhin willkommen seien. Ihm sei klar, dass das Land in Trümmern liege und sich viele Syrer*innen in der Türkei ein neues Leben aufgebaut hätten. Sie einfach auszuweisen, dürfte schwierig werden.

Dr. Hürcan Aslı Aksoy ist Politologin mit einem Schwerpunkt auf türkische Innen- und Außenpolitik, EU-Türkei-Beziehungen, Krisenmanagement und Menschenrechten. Seit Juni 2023 ist sie Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, seit 2024 Wissenschaftlerin in der Themenlinie „Autokratisierung als Herausforderung für die deutsche und europäische Politik“.
In den letzten Jahrzehnten gab es diverse Systemstürze im Nahen Osten. Ist der Sturz des Assad-Regimes ein Nachzügler des Arabischen Frühlings?
Ich benutze in diesem Zusammenhang das Wort „Frühling“ nicht, weil es sich um arabische Aufstände gehandelt hat. Aufstände, die in einigen Fällen sehr blutig und in anderen chaotisch verlaufen sind. Es waren Aufstände gegen die damaligen autokratischen Regime, ein regionales Phänomen mit Dominoeffekt. Heute wissen wir, dass die Aufstände nicht unbedingt demokratische Regime zur Folge hatten. Stattdessen sind viele Staaten im Nahen Osten noch autokratischer geworden, wenn wir beispielsweise auf Ägypten oder Libyen blicken. Der Sturz Assads ist also keine Weiterführung der arabischen Aufstände, sondern gehört zu einer anderen Epoche, die durch den Einmarsch Russlands in Syrien ab 2015/16 begonnen hatte.

Erdoğan hingegen behält die Fäden weiter in der Hand. Was ist sein Erfolgsrezept?
Er ist ein sehr erfahrener Politiker und seit 22 Jahren an der Macht. Auch wenn er seine Position für persönliche Interessen einsetzt und den Staat von einem parlamentarischen zu einem Präsidialsystem umgebaut hat, wird er von der türkischen Bevölkerung gewählt. Was ihm diesen Erfolg bringt, sind sein Pragmatismus und taktisches Handeln.
Was Erdoğan Erfolg bringt, sind sein Pragmatismus und taktisches Handeln,
Die Türkei ist für ihren Balanceakt zwischen westlichen und östlichen Fronten bekannt. Wie steht es um die Beziehungen zur EU?
Für die EU ist die Türkei unverzichtbar geworden. Sowohl in Bezug auf den Krieg in der Ukraine als auch auf die Spannungen in südlichen Nachbarländern Europas, zum Beispiel in Libyen. Beide Akteure wissen mittlerweile, wie sie miteinander arbeiten können, weil sie lange funktionierende wirtschaftliche und sicherheitspolitische Beziehungen unterhalten. Trotzdem bleibt die Türkei unberechenbar.

Weshalb bleibt sie unberechenbar?
Weil ein transaktionaler Beziehungsstil entsteht, etwa durch die EU-Türkei-Flüchtlingsvereinbarung. Das Motto „Wir geben dir Geld und du behältst die Geflüchteten in deinem Land“ sorgt für eine starke Gegenreaktion der türkischen Bevölkerung. Sie ist genervt davon, dass die Türkei wie ein Türsteher agieren und sich gleichzeitig an europäische Werte halten soll. Werte, die insbesondere seit dem 7. Oktober 2023 und durch die uneingeschränkte Unterstützung Israels durch Europa und die USA selbst nicht eingehalten werden.
Was wünschen Sie sich statt transaktionaler Beziehungen?
Die EU muss anerkennen, dass die Türkei ein unverzichtbarer Partner ist und ihr auf Augenhöhe begegnen. Statt geschäftlicher Transaktionen sollte Transparenz geschaffen werden, damit neues Vertrauen wachsen kann. Solange es kein Vertrauen auf beiden Seiten gibt, wird die Türkei immer unberechenbar bleiben.
Wie ließe sich dieses Vertrauen herstellen?
Die EU sollte mit der Türkei in beiderseitigem Interesse zusammenarbeiten und dabei an ihren Grundprinzipien festhalten. Zu Recht kritisiert das Europäische Parlament den repressiven und autokratischen Umgang mit den Kurd*innen in der Türkei. Doch dieselbe Kritik wurde nicht gegen das Vorgehen des israelischen Staates im Gaza-Krieg angebracht. Mit anderen Worten: Die EU handelt nicht nach ihren eigenen Werten. Trotz allem sind konflikthafte Partnerschaften möglich. Das ist kein Wunschdenken, sondern meine realistische Analyse der Gegenwart.
Zu guter Letzt: Wie wird die erneute Trump-Präsidentschaft in den USA die EU-Türkei-Beziehungen beeinflussen?
Angesichts der neuen Trump-Regierung müssen die Türkei und die EU ihre nachbarschaftliche Zusammenarbeit stärken. Was wir brauchen, sind neue Kooperationen für nationale und europäische Sicherheit – vom Schwarzen Meer über das östliche Mittelmeer bis nach Afrika.
Ankaras Balanceakt zwischen den Blöcken
Mehr über die außenpolitische Strategie der Türkei lesen Sie im Beitrag „Ankaras Balanceakt zwischen den Blöcken“ von Hürcan Aslı Aksoy im Magazin „Internationale Politik“.
internationalepolitik.de/ankaras-balanceakt-zwischen-den-bloecken