Balanceakt der Rechts­staatlichkeit: Polen im Wandel, Ungarn im Widerstand

Der EU-Gipfel als Treffpunkt: Der polnische Premierminister Donald Tusk (links) und der ungarische Premierminister Victor Orbán (rechts) im Austausch.
Balanceakt der Rechts­staatlichkeit: Polen im Wandel, Ungarn im Widerstand
Autor: Jakub Jaraczewski 17.09.2024

Nach einem Jahrzehnt autoritärer Tendenzen sehen sich die Demokraten in Polen gestärkt. Ungarn hingegen bleibt auf Konfrontations­kurs mit der EU. Kann Minister­präsident Donald Tusk Polen zurück in die Spur der Rechts­staatlichkeit führen? Und wie sorgt die EU für die Einhaltung von Rechts­staatlichkeit in Ungarn unter Regierungs­chef Viktor Orbán? Ein Gastbeitrag von Jakub Jaraczewski von der Non-Profit-Organisation Democracy Reporting International.

Ungarn und Polen gelten seit knapp zehn Jahren als Synonyme für die Krise der Rechts­staatlichkeit innerhalb der EU. Die rechts­gerichteten Regierungen und parlamentarischen Mehrheiten unter Führung der Fidesz in Ungarn und der PiS in Polen sorgten dafür, dass die Unabhängigkeit der Justiz geschwächt, die Kontrolle der Exekutive beseitigt und Menschen­rechte ausgehöhlt wurden. Damit sind auch die rechts­staatlichen Grundwerte der EU bedroht. Die Behörden der Europäischen Union reagierten erst spät auf die besorgnis­erregenden Entwicklungen in Ungarn und Polen, langwierige und mühselige Auseinander­setzungen folgten – mit mäßigem Erfolg: Da die EU beide Länder im Visier hatte, verbündeten sich Budapest und Warschau gegen Brüssel. Zum Beispiel, indem sie sich gegen­seitig vor dem wichtigsten Sanktions­mechanismus schützten – dem Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV). Für den darin enthaltenen Entzug der Stimm­rechte im Rat ist wiederum Ein­stimmigkeit im EU-Rat erforderlich. Beide Länder waren bereit, sich im Fall solcher Abstimmungen gegen­seitig zu decken.

Ein neues Kapitel für Polens Demokratie

Diese Front brach erst im Oktober 2023 – als die PiS bei den polnischen Parlaments­wahlen ihre Macht verlor. Eine neue pro­demokratische Mehrheit aus Parteien der Mitte, der Linken und der Rechten entstand und mit ihr die Regierung unter Minister­präsident Donald Tusk. Er ist ein Veteran der polnischen Politik, zwischen 2007 und 2014 hatte er das Land schon einmal geführt. Seine neue Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Rechts­staatlichkeit im Land wieder­her­zu­stellen. Diese Aufgabe übertrug Tusk vor allem dem erfahrenen Menschen­rechts­verteidiger, Wissenschaftler und ehemaligen Ombudsmann für Bürger­rechte, Adam Bodnar. Tusk ernannte ihn zum Justiz­minister.

Die Arbeit beginnt: Donald Tusk tritt sein Amt als Premierminister an – große Aufgaben liegen vor ihm und seinem Kabinett.
Die Arbeit beginnt: Donald Tusk tritt sein Amt als Premierminister an – große Aufgaben liegen vor ihm und seinem Kabinett. © Getty Images

Ungarn behält antidemokratischen Kurs bei

In Ungarn zeigt sich derweil ein anderes Bild. Dort fuhr die Fidesz-Partei unter Premier­minister Viktor Orbán bei den Parlaments­wahlen im Jahr 2022 einen triumphalen Sieg ein – und schwächt weiterhin mit ihrer verfassungs­gemäßen Mehrheit die innen­politischen Kontroll­mechanismen. Kritik aus dem Ausland schiebt sie beiseite und verfolgt stattdessen eine zunehmend russland- und china­freundliche Außen­politik. Die Fidesz richtet sich damit gegen die Bestrebungen der EU. Es überrascht daher nicht, dass sich die ungarische EU-Rats­präsidentschaft, die im Juli 2024 begann, als konfrontativ erweist. Minister­präsident Orbán hat mehrfach gegen die Richt­linien der EU-Außen­politik gehandelt. Insbesondere, als er den russischen Staats­chef Wladimir Putin in Moskau besuchte.

Das in Budapest neu geschaffene Amt für den Schutz der Souveränität – angeblich dafür eingerichtet, Ungarn vor unzulässiger politischer Einfluss­nahme zu schützen – tat derweil das, was Expert*innen befürchtet hatten: Es ermittelte gegen freie Medien, Nicht­regierungs­organisationen und Thinktanks, die der Fidesz-Regierung kritisch gegen­über­stehen. Auch aggressive Äußerungen ungarischer Politiker*innen, wie die über die Umsiedlung von Migrant*innen von Ungarn nach Brüssel, lassen befürchten, dass die ungarische Rats­präsidentschaft auch in Zukunft konflikt­reich sein wird.

EU erhöht Druck auf Ungarn

Tatenlos schaut die EU jedoch nicht zu. Indem sie finanziellen Druck ausübt, will sie Orbán zwingen, die Rechts­staatlichkeit im eigenen Land zu respektieren. Tatsächlich kann die Blockade von EU-Mitteln unkooperative Regierungen zum Umdenken zwingen. Ob dies auch im Fall der ungarischen Regierung gelingt, bleibt indes zweifel­haft. Orbán steht zwar vor einer Reihe von internen Heraus­forderungen – einer schwächelnden Wirtschaft und der aufstrebenden Oppositions­partei TISZA, die von dem politischen Außen­seiter (und ehemaligen Verbündeten Orbáns) Peter Magyar angeführt wird. Orbáns Fidesz-Partei bleibt jedoch weiterhin beliebt und kontrolliert die öffentliche Meinung Ungarns.

Andrzej Duda ist bereits seit 2015 in seinem Amt als Präsident Polens. 2025 wird das Präsidialamt neu gewählt.
Andrzej Duda ist bereits seit 2015 in seinem Amt als Präsident Polens. 2025 wird das Präsidialamt neu gewählt. © picture alliance

Was bringt der kommende EU-Ratsvorsitz Polens?

Bis Ende 2024 wird Ungarn die Rats­präsidentschaft der EU noch innehaben. Ab Januar 2025 ist Polen am Zug. Die Tusk-Regierung wird sich im Rahmen ihrer Rats­präsidentschaft mit Sicherheit wieder für mehr Rechts­staatlichkeit und Menschen­rechte einsetzen. Doch leicht­fallen wird ihr das nicht. Schließlich gilt es, auch im eigenen Land die Rechts­staatlichkeit wieder­her­zu­stellen – gegen den polnischen Präsidenten. Andrzej Duda war Mitglied der PiS und ist ein enger Verbündeter der derzeitigen Opposition. Er hat die Möglichkeit, praktisch jedes vom polnischen Parlament verabschiedete Gesetz zu stoppen. Entweder, indem er von seinem Vetorecht Gebrauch macht, das die regierende Mehrheit in einer Parlaments­abstimmung nicht aushebeln kann. Oder, indem er die Gesetze zur Über­prüfung an das politisch kompromittierte Verfassungs­gericht schickt, das sicher zugunsten der PiS und gegen die Wünsche von Tusk entscheiden wird. Duda machte dies bereits mit einem kürzlich verabschiedeten Gesetz vor. Es sollte die Unabhängigkeit des Nationalen Justiz­rates wieder­herstellen, der 2018 von PiS-treuen Richter*innen übernommen wurde. Der Gesetzes­entwurf wurde abgelehnt.

Dudas Amtszeit endet Mitte 2025. Die gesamte polnische EU-Rats­präsidentschaft wird somit wohl in seiner Amts­zeit statt­finden. Versuche zur Reform der Justiz dürften also scheitern. Die Tusk-Regierung steht somit vor einem Dilemma: Kann sie sich auf EU-Ebene glaubhaft für mehr Rechts­staatlichkeit einsetzen und eine starke, unabhängige Justiz fördern, wenn sie zugleich nicht imstande ist, die polnischen Gerichte und ihre Richter*innen zu reformieren? Kritiker*innen der polnischen Regierung, sowohl im In- als auch im Ausland, werden schnell auf diese Diskrepanz zwischen der Situation Polens und seinem Auftreten nach außen hinweisen.

Auch wenn Tusk im eigenen Land einige Erfolge verbuchen kann, wird Polen 2025 zu einer Zeit das Ruder der EU übernehmen, in der sein eigener Rechts­staat geradezu zerrüttet ist. Die Hoffnungen, dass sich dies während der sechs­monatigen polnischen Rats­präsidentschaft ändert, sind gering.


re:constitution

Democracy Reporting Inter­national und das Forum Trans­regionale Studien leiten das von der Stiftung Mercator geförderte Programm „re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe“. Es fördert den Austausch zu Fragen der Rechts­staatlichkeit und der Demokratie in Europa über Disziplinen und Grenzen hinaus und bereitet das Thema für Journalist*innen und politische Entscheidungs­tragende gut verständlich auf.

www.reconstitution.eu