Balanceakt der Rechtsstaatlichkeit: Polen im Wandel, Ungarn im Widerstand
Nach einem Jahrzehnt autoritärer Tendenzen sehen sich die Demokraten in Polen gestärkt. Ungarn hingegen bleibt auf Konfrontationskurs mit der EU. Kann Ministerpräsident Donald Tusk Polen zurück in die Spur der Rechtsstaatlichkeit führen? Und wie sorgt die EU für die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit in Ungarn unter Regierungschef Viktor Orbán? Ein Gastbeitrag von Jakub Jaraczewski von der Non-Profit-Organisation Democracy Reporting International.
Ungarn und Polen gelten seit knapp zehn Jahren als Synonyme für die Krise der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU. Die rechtsgerichteten Regierungen und parlamentarischen Mehrheiten unter Führung der Fidesz in Ungarn und der PiS in Polen sorgten dafür, dass die Unabhängigkeit der Justiz geschwächt, die Kontrolle der Exekutive beseitigt und Menschenrechte ausgehöhlt wurden. Damit sind auch die rechtsstaatlichen Grundwerte der EU bedroht. Die Behörden der Europäischen Union reagierten erst spät auf die besorgniserregenden Entwicklungen in Ungarn und Polen, langwierige und mühselige Auseinandersetzungen folgten – mit mäßigem Erfolg: Da die EU beide Länder im Visier hatte, verbündeten sich Budapest und Warschau gegen Brüssel. Zum Beispiel, indem sie sich gegenseitig vor dem wichtigsten Sanktionsmechanismus schützten – dem Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV). Für den darin enthaltenen Entzug der Stimmrechte im Rat ist wiederum Einstimmigkeit im EU-Rat erforderlich. Beide Länder waren bereit, sich im Fall solcher Abstimmungen gegenseitig zu decken.
Ein neues Kapitel für Polens Demokratie
Diese Front brach erst im Oktober 2023 – als die PiS bei den polnischen Parlamentswahlen ihre Macht verlor. Eine neue prodemokratische Mehrheit aus Parteien der Mitte, der Linken und der Rechten entstand und mit ihr die Regierung unter Ministerpräsident Donald Tusk. Er ist ein Veteran der polnischen Politik, zwischen 2007 und 2014 hatte er das Land schon einmal geführt. Seine neue Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Rechtsstaatlichkeit im Land wiederherzustellen. Diese Aufgabe übertrug Tusk vor allem dem erfahrenen Menschenrechtsverteidiger, Wissenschaftler und ehemaligen Ombudsmann für Bürgerrechte, Adam Bodnar. Tusk ernannte ihn zum Justizminister.
Ungarn behält antidemokratischen Kurs bei
In Ungarn zeigt sich derweil ein anderes Bild. Dort fuhr die Fidesz-Partei unter Premierminister Viktor Orbán bei den Parlamentswahlen im Jahr 2022 einen triumphalen Sieg ein – und schwächt weiterhin mit ihrer verfassungsgemäßen Mehrheit die innenpolitischen Kontrollmechanismen. Kritik aus dem Ausland schiebt sie beiseite und verfolgt stattdessen eine zunehmend russland- und chinafreundliche Außenpolitik. Die Fidesz richtet sich damit gegen die Bestrebungen der EU. Es überrascht daher nicht, dass sich die ungarische EU-Ratspräsidentschaft, die im Juli 2024 begann, als konfrontativ erweist. Ministerpräsident Orbán hat mehrfach gegen die Richtlinien der EU-Außenpolitik gehandelt. Insbesondere, als er den russischen Staatschef Wladimir Putin in Moskau besuchte.
Das in Budapest neu geschaffene Amt für den Schutz der Souveränität – angeblich dafür eingerichtet, Ungarn vor unzulässiger politischer Einflussnahme zu schützen – tat derweil das, was Expert*innen befürchtet hatten: Es ermittelte gegen freie Medien, Nichtregierungsorganisationen und Thinktanks, die der Fidesz-Regierung kritisch gegenüberstehen. Auch aggressive Äußerungen ungarischer Politiker*innen, wie die über die Umsiedlung von Migrant*innen von Ungarn nach Brüssel, lassen befürchten, dass die ungarische Ratspräsidentschaft auch in Zukunft konfliktreich sein wird.
EU erhöht Druck auf Ungarn
Tatenlos schaut die EU jedoch nicht zu. Indem sie finanziellen Druck ausübt, will sie Orbán zwingen, die Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land zu respektieren. Tatsächlich kann die Blockade von EU-Mitteln unkooperative Regierungen zum Umdenken zwingen. Ob dies auch im Fall der ungarischen Regierung gelingt, bleibt indes zweifelhaft. Orbán steht zwar vor einer Reihe von internen Herausforderungen – einer schwächelnden Wirtschaft und der aufstrebenden Oppositionspartei TISZA, die von dem politischen Außenseiter (und ehemaligen Verbündeten Orbáns) Peter Magyar angeführt wird. Orbáns Fidesz-Partei bleibt jedoch weiterhin beliebt und kontrolliert die öffentliche Meinung Ungarns.
Was bringt der kommende EU-Ratsvorsitz Polens?
Bis Ende 2024 wird Ungarn die Ratspräsidentschaft der EU noch innehaben. Ab Januar 2025 ist Polen am Zug. Die Tusk-Regierung wird sich im Rahmen ihrer Ratspräsidentschaft mit Sicherheit wieder für mehr Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzen. Doch leichtfallen wird ihr das nicht. Schließlich gilt es, auch im eigenen Land die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen – gegen den polnischen Präsidenten. Andrzej Duda war Mitglied der PiS und ist ein enger Verbündeter der derzeitigen Opposition. Er hat die Möglichkeit, praktisch jedes vom polnischen Parlament verabschiedete Gesetz zu stoppen. Entweder, indem er von seinem Vetorecht Gebrauch macht, das die regierende Mehrheit in einer Parlamentsabstimmung nicht aushebeln kann. Oder, indem er die Gesetze zur Überprüfung an das politisch kompromittierte Verfassungsgericht schickt, das sicher zugunsten der PiS und gegen die Wünsche von Tusk entscheiden wird. Duda machte dies bereits mit einem kürzlich verabschiedeten Gesetz vor. Es sollte die Unabhängigkeit des Nationalen Justizrates wiederherstellen, der 2018 von PiS-treuen Richter*innen übernommen wurde. Der Gesetzesentwurf wurde abgelehnt.
Dudas Amtszeit endet Mitte 2025. Die gesamte polnische EU-Ratspräsidentschaft wird somit wohl in seiner Amtszeit stattfinden. Versuche zur Reform der Justiz dürften also scheitern. Die Tusk-Regierung steht somit vor einem Dilemma: Kann sie sich auf EU-Ebene glaubhaft für mehr Rechtsstaatlichkeit einsetzen und eine starke, unabhängige Justiz fördern, wenn sie zugleich nicht imstande ist, die polnischen Gerichte und ihre Richter*innen zu reformieren? Kritiker*innen der polnischen Regierung, sowohl im In- als auch im Ausland, werden schnell auf diese Diskrepanz zwischen der Situation Polens und seinem Auftreten nach außen hinweisen.
Auch wenn Tusk im eigenen Land einige Erfolge verbuchen kann, wird Polen 2025 zu einer Zeit das Ruder der EU übernehmen, in der sein eigener Rechtsstaat geradezu zerrüttet ist. Die Hoffnungen, dass sich dies während der sechsmonatigen polnischen Ratspräsidentschaft ändert, sind gering.
re:constitution
Democracy Reporting International und das Forum Transregionale Studien leiten das von der Stiftung Mercator geförderte Programm „re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe“. Es fördert den Austausch zu Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in Europa über Disziplinen und Grenzen hinaus und bereitet das Thema für Journalist*innen und politische Entscheidungstragende gut verständlich auf.