Neues Leben für die abgehängten Regionen

Leere Straße in Kleinstadt
Neues Leben für die abgehängten Regionen
Autorin: Julien Wilkens 19.07.2022

In den Hauptstädten Europas brummt das staats­bürgerliche Leben, Vereine und Verbände buhlen um Finanzierung und politische Unter­stützung für ihre Anliegen. Doch wie sieht es abseits aus? Was macht diese „civic deserts“ – also Wüsten der Zivil­gesellschaft – aus, und welche Konsequenzen für die Demokratie entwickeln sich daraus, wenn Menschen keine zusammen­haltende Gemeinschaft mehr formen? In der groß angelegten Studie „civic deserts“ haben Forscher*innen um Louisa Slavkova, Gründungs­mit­glied und Direktorin der Sofia Platform Foundation, einer Organisation für Demokratie­förderung in Bulgarien, diesen blinden Fleck der Forschung beleuchtet.

Louisa Slavkova, Sie kartografieren in Ihrer politischen Forschung „From ‚civic deserts‘ to civic cohesion“ (zu Deutsch: „Von Wüsten der Zivil­gesellschaft zu bürgerlichem Zusammen­halt“), zivil­gesell­schaftliche Wüsten in Mittel- und Osteuropa. Wie genau sehen diese Orte aus?

Die meisten können sich diese Orte vorstellen: Die Infrastruktur ist herunter­gekommen, Gebäude sind verfallen, Bus­halte­stellen verwahrlost. Ein bisschen wie in einem alten Western: Da wehen Grasbüschel durch die leere Straße. Diese bürger­schaftlichen Wüsten befinden sich oft auch geografisch in der Peripherie. Es sind grenz­nahe Gebiete, schlecht erschlossen, kaputte Straßen, kaum öffentlicher Nahverkehr. Typisch ist auch, dass nur wenige junge Menschen dort leben, Schulen oder staatliche Kranken­häuser fehlen oder in einem schlechten Zustand sind. In solchen Gegenden ist auch das Gemeinschafts­leben in einem schlechten Zustand.

Louisa Slavkova
© Gergana Pavlova

Louisa Slavkova
ist Gründungsmitglied und Direktorin der Sofia Plattform, einer Organisation für Demokratieförderung, die in Osteuropa sowie in Europas südlichen und östlichen Nachbarländern aktiv ist. Zuvor war sie als Programmleiterin beim European Council on Foreign Relations (ECFR) tätig.

Sie leben und arbeiten in Sofia, einer lebendigen, pulsierenden, regen Groß­stadt. Doch Sie unter­suchen die absolute Peripherie – Bulgariens Nordosten, Ungarns Norden und Nordosten, Polens Nordosten und Rumäniens Süden. Warum?

Wenn wir uns Wahlausgänge anschauen, gibt es große Unter­schiede in Mittel- und Osteuropa zwischen den Metropolen und den Rand­gebieten. In den USA fiel außer­dem auf, dass insbesondere junge Leute, die keine Möglichkeit zu gemeinschaftlichem Engagement haben, eher populistisch wählten. Aus den USA stammt auch das Konzept der „civic deserts“. Wir haben den Terminus aus dem US-Kontext auf die EU über­tragen und die Länder Bulgarien, Ungarn, Polen und Rumänien unter­sucht. Denn auch hier stimmt: Wer wenig Möglichkeiten zum Austausch, zum bürgerlichen Dialog hat, der oder die gibt die Stimme eher populistischen Führer*innen und fällt auf Fake News rein.

Auch auf dem Land gibt es eine Zivil­gesellschaft, Vereine und Verbände, die sich staats­bürgerlich engagieren. Was unter­scheidet sie von denen in den Städten?

Wenn es in solchen Gegenden Organisationen der Zivil­gesellschaft gibt, dann über­nehmen sie eher die Rolle des Dienst­leisters für lokale Behörden. Sie leisten Hilfe für Ältere oder Kinder ohne Eltern. Sie springen da ein, wo der Staat versagt. Aber sie wirken nicht als Motor des Zusammenhalts: Sie machen keine kleinen ehren­amtlichen Kampagnen mit den Menschen vor Ort, leiten keine Diskussions­foren, führen keine Aufräum- oder Verschönerungs­kampagnen durch. Da gibt es einen offensichtlichen Unterschied zwischen Zentren und Randgebieten.

Europa-Karte
Untersucht wurde die absolute Peripherie – Bulgariens Nordosten, Ungarns Norden und Nordosten, Polens Nordosten und Rumäniens Süden. © Civic Europe

Sie haben Ihre Untersuchung während der Pandemie gemacht. Wie untersuchen Sie Orte, die per Definition wenig Infrastruktur haben, ohne hinzufahren?

Es war natürlich ein Problem, die Peripherie aus dem Homeoffice zu studieren. Wir hatten auf ein Schnee­ball­system gesetzt, bei dem uns Vereine und Verbände andere Akteurinnen und Akteure des gemein­schaftlichen Engagements nennen sollten, um so etwas wie eine Karte des zivil­gesell­schaftlichen Lebens in den Peripherien zu erstellen. Doch der Rücklauf war nicht besonders groß. Auf der anderen Seite mussten ja alle durch die Corona­pandemie technologisch affiner werden, selbst in abgelegenen Gegenden. Wir konnten uns zwar nicht vor Ort umsehen, aber die Menschen haben plötzlich angefangen, auf E-Mails zu antworten. Sonst war eher das Telefon noch das Mittel der Wahl. Ein weiterer Grund für den geringen Rücklauf auf die Frage, welche Akteurinnen und Akteure sie noch kennen, ist, dass die Menschen in den „civic deserts“ nicht daran gewöhnt sind, in Netzwerken zu denken. Sie denken daran, was sie machen, nicht daran, dass es auch andere gibt und eine Zusammen­arbeit der gemeinsamen Sache dienen könnte.

Portraitbild eine Mannes
Wie Orten wieder Leben einhauchen, dort, wo die öffentliche Bibliothek schon lange dicht... © Civic Europe
Kinderzeichnung eines Hauses
... und Kinder­lachen rar ist, dort, wo kein Bus mehr fährt und Populist*innen auf Stimmen­fang gehen? © Civic Europe

Um Leben in die Wüsten der Zivil­gesellschaft zu bringen, müssen sowohl die bestehenden Akteurinnen und Akteure unter­stützt als auch räumliche Möglichkeiten für Gemeinschaft geschaffen werden.

Louisa Slavkova

Aber informelle Netzwerke der gegen­seitigen Hilfe gab es doch insbesondere zu kommunistischen Zeiten in diesen Ländern …

In kommunistischen Staaten gab es zwar solche informellen Netzwerke. Die wurden aber eher dazu genutzt, sich mal Mehl auszuborgen oder sich gegen­seitig bei Kleinig­keiten zu helfen. Das aber sind keine zivil­gesell­schaftlichen Netzwerke, die auf Solidarität und gegen­seitigem Vertrauen beruhen. Im Gegenteil: Die Staats­sicherheit war ja in den Ost­block­staaten sehr aktiv, daher war das gegen­seitige Misstrauen besonders stark verbreitet – und ist es zum Teil immer noch! Auch heute noch ist das Misstrauen gegen­über politischen Verantwortlichen und lokalen Behörden in Mittel- und Osteuropa besonders groß.

Wie stärkt man zivilgesellschaftliches Leben in den „civic deserts“?

Wir müssen in diese Orte investieren, aber richtig. Wir müssen die – wenigen – lokalen Akteurinnen und Akteure einbeziehen, damit sie zum Beispiel das neue Gemeinschafts­haus als das ihre wahrnehmen und nicht als etwas, was von außen, von oben kommt. Dabei sollten die Menschen in den Regionen selbst entscheiden, welcher Ort ein Ort der Gemeinschaft, der Zusammen­kunft wird. In unseren Expert*innen-Interviews sagte jemand, in jedem Dorf, in jeder Wüste gebe es „diese eine verrückte Person“. Damit ist einfach nur eine engagierte Person gemeint, die sich für die lokale Gemeinschaft starkmacht – und dabei meist recht einsam agiert. Ein Problem ist: Es fehlt zuerst an den Räumlichkeiten. Es gibt keine öffentliche Bibliothek und keine öffentliche Einrichtung, in der Zivil­gesellschaft zustande kommen könnte. Oder aber sie werden nicht als Ort für die Allgemeinheit verstanden. Als ich neulich in Berlin war, ging ich in Mitte an einer Stadt­bücherei vorbei, dort saßen obdach­lose Menschen, die an den Tischen im Café ihr Essen aßen. Natürlich wurden sie nicht verscheucht, eine öffentliche Bücherei ist schließlich als Gemeinschafts­einrichtung gedacht. Solche Orte müssen gestärkt werden. Um Leben in die Wüsten der Zivil­gesellschaft zu bringen, müssen also sowohl die bestehenden Akteurinnen und Akteure unterstützt als auch räumliche Möglichkeiten für Gemeinschaft geschaffen werden.


Civic Europe

Civic Europe ist ein Inkubator für lokale zivil­gesell­schaftliche Initiativen, Organisationen und Einzel­personen in Mittel-, Ost- und Südeuropa, umgesetzt durch den Verein MitOst und die Sofia Platform Foundation.

civic-europe.eu