Das doppelte Demokratie­problem der EU

Das doppelte Demokratie­problem der EU
Autor*innen: John Morijn, Maximilian von Linden, Antonia Brand 08.04.2025

Die neue EU-Kommission setzt auf einen „Schutz­schild für die Demokratie“ – doch ihr Fokus liegt auf äußeren Bedrohungen. Dabei untergräbt der Demokratie­abbau in Mitglieds­staaten längst die Legitimität der Europäischen Union selbst.

John Morijn, Henrik Enderlein Fellow an der Hertie School, analysiert gemeinsam mit seinen Studierenden Antonia Brand und Maximilian von Linden, warum die EU-Kommission ihre eigenen Mittel viel stärker nutzen sollte, um die Demokratie in Europa von innen heraus zu schützen.

Die Bedrohung von innen

Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa sind bedroht. Wer aktuell darüber redet, meint wahrscheinlich Russland, den Krieg in der Ukraine oder die jüngsten Vorstöße der neuen US-Administration. Dabei gerät außer Blick, dass die Demokratie in der Europäischen Union (EU) auch von innen erodiert. Dieser Fehler scheint auch der EU-Kommission mit ihren Plänen für einen Europäischen Schutz­schild für die Demokratie unterlaufen zu sein. Das muss sich dringend ändern.

Das innere Demokratie­problem der EU beginnt in den Mitglied­staaten. Mehrere von ihnen, darunter Griechenland oder Rumänien, sind in den letzten Jahren in Demokratie-Rankings beständig nach unten gerutscht. Ungarn wird seit 2022 durch das Europäische Parlament sogar nicht länger als voll­wertige Demokratie eingestuft. Und in vielen Staaten, darunter auch Deutschland und Österreich, verzeichnen extreme, teils verfassungs­feindliche Parteien Wahl­erfolge.

Das Problem betrifft aber auch die EU als Ganzes, denn ihr System und ihre Legitimität sind untrennbar mit der nationalen Ebene verknüpft. Dies veranschaulicht Art. 10, Abs. 2 des EU-Gründungs­vertrages (EUV):

John Morijn
© Simon Pugh Photography

John Morijn ist Stiftungs­­professor für Recht und Politik in den inter­­nationalen Beziehungen an der Universität Groningen sowie der von der Stiftung Mercator finanzierte Henrik-Enderlein-Fellow 2024/25 an der Hertie School of Governance in Berlin. Sein Forschungs­interesse liegt im Bereich des Schutzes von Demokratie und Rechts­staatlichkeit in der EU.

Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. Die Mitglied­staaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungs­chef*innen und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegen­über ihrem nationalen Parlament oder gegen­über ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechen­schaft ablegen müssen.

Dies bedeutet im Umkehrschluss: Abgeordnete und Regierungs­vertreter*innen, die national nicht mehr nach demokratischen Standards gewählt werden, repräsentieren Bürgerinnen und Bürger auch auf EU-Ebene nicht mehr adäquat. Dies ist etwa der Fall für Ungarn, wo laut der Organisation für Sicherheit und Zusammen­arbeit in Europa (OSZE) die nationalen Wahlen der letzten zehn Jahre zwar „frei, aber nicht fair“ gewesen sind.

Damit hat die EU nun ein akutes und doppeltes Demokratie­problem: in einigen Mitglied­staaten und auf EU-Ebene. Dies unterminiert einer­seits die Legitimität aller europäischen Entscheidungen und ist anderer­seits eine fundamentale Bedrohung für ihr Fortbestehen.

Die Kommission schafft nun zwar einen Schutz­schild gegen äußere Gefahren…

„Unsere demokratischen Systeme und Institutionen [werden] angegriffen“. Mit dieser Fest­stellung räumen die politischen Leit­linien der neuen EU-Kommission nun in der Tat dem Schutz der Demokratie einen prominenten Platz ein. Allerdings folgt dieser Erkenntnis eine unzureichende Analyse. Zwar wird richtiger­weise darauf verwiesen, dass es eine äußere Bedrohung gibt, die auf eine „tief­greifende Veränderung des Informations­raums“ zurück­gehe und durch digitale Manipulations- und Propaganda­aktivitäten seitens Russlands und anderer Akteure zu charakterisieren sei. Der Angriff auf die europäische Demokratie von innen findet aber keine Erwähnung.

Folglich ist auch der sogenannte Europäische Schutz­schild für die Demokratie, das Vorzeige­projekt der neuen Kommission, lediglich nach außen gerichtet. Der Schutz­schild soll verschiedene Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Demokratie bündeln. Dazu gehören: 1. die Verbesserung der Digital- und Medien­kompetenz durch „Prebunking“, 2. ein europäisches Fakten­prüfer-Netz, 3. verstärkte Durch­setzung des Gesetzes über digitale Dienste und 4. ein stärkeres Vorgehen gegen Deepfakes. Letztere hätten sich, so die Leit­linien, „auf Wahlen in ganz Europa ausgewirkt“.

Maximilian von Linden
© privat

Maximilian von Linden konzentriert sich als Politik­wissenschaftler auf aktuelle Frage­stellungen der deutschen Außen- und Sicherheits­politik. Neben dem Master­studium an der Hertie School in Berlin ist er als politischer Analyst in der Unternehmens­beratung tätig. Zuvor hat er bereits Erfahrung an der deutschen Botschaft in Kopenhagen und bei verschiedenen NGOs gesammelt.

 … sollte aber lieber die Bedrohung von innen priorisieren

Die Kommission behandelt das doppelte innere Demokratie­problem also nicht in ihren politischen Leit­linien. Dabei hat sie bereits jetzt zwei Instrumente an der Hand, die einen wirksamen Schutz­schild nach innen darstellen können.

Erstens kann sie als Hüterin der Verträge im Rahmen des Art. 258 AEUV Vertrags­verletzungs­verfahren einleiten. Diese Möglichkeit könnte auch zum Schutze der europäischen Demokratie eingesetzt werden. Schließlich sind die Mitglieder durch die Verträge dazu verpflichtet, die Demokratie im eigenen Land, insbesondere die Durchführung freier und fairer Wahlen, zu schützen. Hierbei macht eine Innovation der Kommission Hoffnung: Sie hat sich bei ihrer Klage vor dem Europäischen Gerichts­hof gegen Ungarn wegen homophober Gesetze direkt auf Art. 2 EUV gestützt, der alle Grundwerte der EU, einschließlich der Demokratie, enthält. Ein Urteil wird im Sommer 2025 erwartet. Dieses Vorgehen könnte als Muster für zukünftige demokratie­schützende Vertrags­verletzungs­verfahren dienen.

Ein zweites Instrument ist die Regulierung der Finanzierung für die europäischen politischen Parteien. Diese müssen nämlich im Rahmen ihrer Registrierung bei der Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen (APPF) ihre Treue zur Grundrechte-Charta und zu den in Art. 2 EUV festgelegten Grund­werten der EU, einschließlich der Demokratie, bekunden. Schließlich soll kein europäisches Steuergeld für politische Kräfte auf EU-Ebene aus­gegeben werden, die die Demokratie in der EU von innen heraus zerstören. Das Treue­bekenntnis ist also keine Formalität – oder sollte zumindest keine sein. Bisher lässt die Kommission dieses scharfe Schwert allerdings ungenutzt. Und das, obwohl es inzwischen mit den Patrioten für Europa eine neue europäische Partei gibt, deren nationale Mitglieds­parteien, wie die ungarische Fidesz, die italienische Lega und die österreichische FPÖ, an Regierungen beteiligt sind – oder nach Exekutivmacht greifen – um die Demokratie zu unter­graben.

Antonia Brand
© privat

Antonia Brand ist Politik­wissenschaftlerin mit Fokus auf deutscher und europäischer Außen- und Sicherheits­politik. Nach Stationen bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington DC und in der Verteidigungs­politik als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundes­tag studiert sie aktuell im Master International Affairs/International Security an der Hertie School of Governance in Berlin.

Die neue EU-Kommission setzt auf einen „Schutz­schild für die Demokratie“. © Symbolbild, KI generiert

Die Kommission sollte diese Handlungs­option ernster nehmen. Nicht zuletzt die aktuelle Debatte um den Ausschluss der AfD von der deutschen Parteien­finanzierung zeigt, wie sehr politische Parteien das Versiegen steuer­finanzierter Förderung fürchten. Ein eventuelles Urteil des Bundes­verfassungs­gerichts hierzu könnte auch Implikationen für die Finanzierung der europäischen Partei Europa der Souveränen Nationen haben, der die AfD angehört. Aktuell wird eine europa­rechtliche Novelle der europäischen Parteien­finanzierung verhandelt. Im Raum steht dabei die Idee, dass bereits die nach­gewiesene Demokratie­feindlichkeit einer einzelnen nationalen Mitgliedspartei dazu führen kann, dass die gesamte europäische Partei von der EU-Finanzierung aus­geschlossen wird. Die Kommission sollte diese Novelle nun mit Hochdruck vorantreiben.

Demokratiedefizite in einer zunehmenden Zahl an Mitglieds­staaten übertragen sich auf die EU-Ebene. Die Vorzeige­initiative Europäischer Schutz­schild für Demokratie wird dieses doppelte Demokratie­problem alleine nicht lösen, denn er zielt vor allem auf digitale äußere Bedrohungen ab. Die Kommission sollte deshalb andere, schon existierende Instrumente wirkungs­voller einsetzen.


Henrik Enderlein Fellowship

Das Henrik Enderlein Fellowship wird jedes Jahr an Personen vergeben, die sich für eine starke Europäische Union einsetzen. Wissen­­schaftler*innen, Akademiker*innen und politischen Entscheidungs­­träger*innen ermöglicht es Forschungs­­aufenthalte an der Hertie School. Das Stipendium bietet den Träger*innen Raum für Vernetzung und ermöglicht es ihnen, dringende Fragen der europäischen und nationalen Agenda anzugehen. Das Henrik Enderlein Fellowship erinnert an den verstorbenen Präsidenten der Hertie School und Gründer des Jacques Delors Centre, Henrik Enderlein. Gefördert wird es von der Stiftung Mercator.

www.hertie-school.org/henrik-enderlein-fellowship