Das doppelte Demokratieproblem der EU

Die neue EU-Kommission setzt auf einen „Schutzschild für die Demokratie“ – doch ihr Fokus liegt auf äußeren Bedrohungen. Dabei untergräbt der Demokratieabbau in Mitgliedsstaaten längst die Legitimität der Europäischen Union selbst.
John Morijn, Henrik Enderlein Fellow an der Hertie School, analysiert gemeinsam mit seinen Studierenden Antonia Brand und Maximilian von Linden, warum die EU-Kommission ihre eigenen Mittel viel stärker nutzen sollte, um die Demokratie in Europa von innen heraus zu schützen.
Die Bedrohung von innen
Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa sind bedroht. Wer aktuell darüber redet, meint wahrscheinlich Russland, den Krieg in der Ukraine oder die jüngsten Vorstöße der neuen US-Administration. Dabei gerät außer Blick, dass die Demokratie in der Europäischen Union (EU) auch von innen erodiert. Dieser Fehler scheint auch der EU-Kommission mit ihren Plänen für einen Europäischen Schutzschild für die Demokratie unterlaufen zu sein. Das muss sich dringend ändern.
Das innere Demokratieproblem der EU beginnt in den Mitgliedstaaten. Mehrere von ihnen, darunter Griechenland oder Rumänien, sind in den letzten Jahren in Demokratie-Rankings beständig nach unten gerutscht. Ungarn wird seit 2022 durch das Europäische Parlament sogar nicht länger als vollwertige Demokratie eingestuft. Und in vielen Staaten, darunter auch Deutschland und Österreich, verzeichnen extreme, teils verfassungsfeindliche Parteien Wahlerfolge.
Das Problem betrifft aber auch die EU als Ganzes, denn ihr System und ihre Legitimität sind untrennbar mit der nationalen Ebene verknüpft. Dies veranschaulicht Art. 10, Abs. 2 des EU-Gründungsvertrages (EUV):

John Morijn ist Stiftungsprofessor für Recht und Politik in den internationalen Beziehungen an der Universität Groningen sowie der von der Stiftung Mercator finanzierte Henrik-Enderlein-Fellow 2024/25 an der Hertie School of Governance in Berlin. Sein Forschungsinteresse liegt im Bereich des Schutzes von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU.
Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten. Die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef*innen und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen.
Dies bedeutet im Umkehrschluss: Abgeordnete und Regierungsvertreter*innen, die national nicht mehr nach demokratischen Standards gewählt werden, repräsentieren Bürgerinnen und Bürger auch auf EU-Ebene nicht mehr adäquat. Dies ist etwa der Fall für Ungarn, wo laut der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die nationalen Wahlen der letzten zehn Jahre zwar „frei, aber nicht fair“ gewesen sind.
Damit hat die EU nun ein akutes und doppeltes Demokratieproblem: in einigen Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene. Dies unterminiert einerseits die Legitimität aller europäischen Entscheidungen und ist andererseits eine fundamentale Bedrohung für ihr Fortbestehen.
Die Kommission schafft nun zwar einen Schutzschild gegen äußere Gefahren…
„Unsere demokratischen Systeme und Institutionen [werden] angegriffen“. Mit dieser Feststellung räumen die politischen Leitlinien der neuen EU-Kommission nun in der Tat dem Schutz der Demokratie einen prominenten Platz ein. Allerdings folgt dieser Erkenntnis eine unzureichende Analyse. Zwar wird richtigerweise darauf verwiesen, dass es eine äußere Bedrohung gibt, die auf eine „tiefgreifende Veränderung des Informationsraums“ zurückgehe und durch digitale Manipulations- und Propagandaaktivitäten seitens Russlands und anderer Akteure zu charakterisieren sei. Der Angriff auf die europäische Demokratie von innen findet aber keine Erwähnung.
Folglich ist auch der sogenannte Europäische Schutzschild für die Demokratie, das Vorzeigeprojekt der neuen Kommission, lediglich nach außen gerichtet. Der Schutzschild soll verschiedene Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Demokratie bündeln. Dazu gehören: 1. die Verbesserung der Digital- und Medienkompetenz durch „Prebunking“, 2. ein europäisches Faktenprüfer-Netz, 3. verstärkte Durchsetzung des Gesetzes über digitale Dienste und 4. ein stärkeres Vorgehen gegen Deepfakes. Letztere hätten sich, so die Leitlinien, „auf Wahlen in ganz Europa ausgewirkt“.

Maximilian von Linden konzentriert sich als Politikwissenschaftler auf aktuelle Fragestellungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Neben dem Masterstudium an der Hertie School in Berlin ist er als politischer Analyst in der Unternehmensberatung tätig. Zuvor hat er bereits Erfahrung an der deutschen Botschaft in Kopenhagen und bei verschiedenen NGOs gesammelt.
… sollte aber lieber die Bedrohung von innen priorisieren
Die Kommission behandelt das doppelte innere Demokratieproblem also nicht in ihren politischen Leitlinien. Dabei hat sie bereits jetzt zwei Instrumente an der Hand, die einen wirksamen Schutzschild nach innen darstellen können.
Erstens kann sie als Hüterin der Verträge im Rahmen des Art. 258 AEUV Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Diese Möglichkeit könnte auch zum Schutze der europäischen Demokratie eingesetzt werden. Schließlich sind die Mitglieder durch die Verträge dazu verpflichtet, die Demokratie im eigenen Land, insbesondere die Durchführung freier und fairer Wahlen, zu schützen. Hierbei macht eine Innovation der Kommission Hoffnung: Sie hat sich bei ihrer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Ungarn wegen homophober Gesetze direkt auf Art. 2 EUV gestützt, der alle Grundwerte der EU, einschließlich der Demokratie, enthält. Ein Urteil wird im Sommer 2025 erwartet. Dieses Vorgehen könnte als Muster für zukünftige demokratieschützende Vertragsverletzungsverfahren dienen.
Ein zweites Instrument ist die Regulierung der Finanzierung für die europäischen politischen Parteien. Diese müssen nämlich im Rahmen ihrer Registrierung bei der Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen (APPF) ihre Treue zur Grundrechte-Charta und zu den in Art. 2 EUV festgelegten Grundwerten der EU, einschließlich der Demokratie, bekunden. Schließlich soll kein europäisches Steuergeld für politische Kräfte auf EU-Ebene ausgegeben werden, die die Demokratie in der EU von innen heraus zerstören. Das Treuebekenntnis ist also keine Formalität – oder sollte zumindest keine sein. Bisher lässt die Kommission dieses scharfe Schwert allerdings ungenutzt. Und das, obwohl es inzwischen mit den Patrioten für Europa eine neue europäische Partei gibt, deren nationale Mitgliedsparteien, wie die ungarische Fidesz, die italienische Lega und die österreichische FPÖ, an Regierungen beteiligt sind – oder nach Exekutivmacht greifen – um die Demokratie zu untergraben.

Antonia Brand ist Politikwissenschaftlerin mit Fokus auf deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik. Nach Stationen bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington DC und in der Verteidigungspolitik als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag studiert sie aktuell im Master International Affairs/International Security an der Hertie School of Governance in Berlin.

Die Kommission sollte diese Handlungsoption ernster nehmen. Nicht zuletzt die aktuelle Debatte um den Ausschluss der AfD von der deutschen Parteienfinanzierung zeigt, wie sehr politische Parteien das Versiegen steuerfinanzierter Förderung fürchten. Ein eventuelles Urteil des Bundesverfassungsgerichts hierzu könnte auch Implikationen für die Finanzierung der europäischen Partei Europa der Souveränen Nationen haben, der die AfD angehört. Aktuell wird eine europarechtliche Novelle der europäischen Parteienfinanzierung verhandelt. Im Raum steht dabei die Idee, dass bereits die nachgewiesene Demokratiefeindlichkeit einer einzelnen nationalen Mitgliedspartei dazu führen kann, dass die gesamte europäische Partei von der EU-Finanzierung ausgeschlossen wird. Die Kommission sollte diese Novelle nun mit Hochdruck vorantreiben.
Demokratiedefizite in einer zunehmenden Zahl an Mitgliedsstaaten übertragen sich auf die EU-Ebene. Die Vorzeigeinitiative Europäischer Schutzschild für Demokratie wird dieses doppelte Demokratieproblem alleine nicht lösen, denn er zielt vor allem auf digitale äußere Bedrohungen ab. Die Kommission sollte deshalb andere, schon existierende Instrumente wirkungsvoller einsetzen.
Henrik Enderlein Fellowship
Das Henrik Enderlein Fellowship wird jedes Jahr an Personen vergeben, die sich für eine starke Europäische Union einsetzen. Wissenschaftler*innen, Akademiker*innen und politischen Entscheidungsträger*innen ermöglicht es Forschungsaufenthalte an der Hertie School. Das Stipendium bietet den Träger*innen Raum für Vernetzung und ermöglicht es ihnen, dringende Fragen der europäischen und nationalen Agenda anzugehen. Das Henrik Enderlein Fellowship erinnert an den verstorbenen Präsidenten der Hertie School und Gründer des Jacques Delors Centre, Henrik Enderlein. Gefördert wird es von der Stiftung Mercator.