Der Anfang von allem

Für Elif Bayat hat sich seit ihrer Teilnahme an der meet!-Mercator-Europa-Tour vor vier Jahren vieles verändert. Heute hilft sie anderen jungen Menschen auf ihrem Weg ins Ausland.
In den vergangenen Jahren ist sie häufig umgezogen. Vor einigen Monaten arbeitete sie im Bundestag. Seit Tagen ist sie auf Reise. Elif Bayat ist weder Ministerin der Bundesregierung, noch Vorstandschefin eines internationalen Großkonzerns. Sie ist eine 22-jährige Bachelor-Studentin der Soziologie und Politikwissenschaft aus Bottrop-Batenbrock. Und ständig in Bewegung.

Beschreibt Elif ihren Alltag, reihen sich Städtenamen wie Frankfurt, Berlin, Brüssel nahtlos aneinander, durchmischt mit Titeln verschiedener Institutionen, Stipendien und Vereine. Davor, dazwischen, bald wieder: Auslandsaufenthalte. September 2020: Wintersemester in Paris, Februar 2021: Sommersemester in Istanbul. September desselben Jahres: Erasmus-Praktikum in der Landesvertretung Baden-Württemberg bei der Europäischen Union, Brüssel. Diesen Sommer studiert sie mit einem Stipendium der German-American Fulbright Association in den USA. Nächstes Jahr geht sie vielleicht nach Südamerika – oder doch nach Sri Lanka?
Viele ihrer Freund*innen aus der Schulzeit in Bottrop sind Zuhause geblieben. Manche studieren, typisch für Ruhrgebietler*innen, an den umliegenden Hochschulen in Bochum, Essen oder Dortmund. Denn dann können sie bei den Eltern wohnen. Was letztlich auch eine finanzielle Frage ist.
Elif Bayat ist damit Idealtyp und Glücksfall für die meet!-Mercator-Europa-Tour. Das Programm ermöglicht jungen Menschen aus dem Ruhrgebiet einen vollfinanzierten dreiwöchigen Aufenthalt in Europa. Rund 60 Menschen im Alter von 18-23 Jahren erhielten so die Chance, Europa aus erster Hand zu erfahren.
Jede*r findet für sich selbst heraus, welche Wege sinnvoll und gut für ihn oder sie sind.

Neues Verhandeln alter Traditionen
Elifs Großeltern kamen vor rund 50 Jahren aufgrund des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in die Region. In Zonguldak am Schwarzen Meer arbeiteten sie teilweise bereits unter Tage, die deutsche Bergbauindustrie suchte in der Region gezielt nach Arbeitskräften. „Damals gab es kaum Sprachkurse“, weiß Elif von ihren Vorfahr*innen. Ihr ist klar: Nichts von dem, was sie tut und erlebt, ist selbstverständlich. Sollte sie es einmal vergessen, erinnern sie die Gespräche mit den Daheimgebliebenen daran. „Meine Eltern verstehen nicht immer, was ich tue.“ Sie habe mit vielen Rollenbildern und Vorstellungen gebrochen, erklärt Elif. „Aber jede*r findet für sich selbst heraus, welche Wege sinnvoll und gut für ihn oder sie sind.“ Auch heute noch holpert der Dialog zwischen den Generationen zuweilen. Dennoch hängt in der Wohnung der Eltern ein gerahmter Zeitungsausschnitt über Elif. Und ihren Weg.
Im April während des Ramadans ist ihr das Fastenbrechen lieb. Mit Freund*innen und Bekannten beging sie es dieses Jahr in Frankfurt, wo sie an der Goethe-Universität studiert. Der interreligiöse Austausch ist Elif neben Nachhaltigkeitsthemen ein besonderes Anliegen. Seit vielen Jahren engagiert sie sich beispielsweise in der Jungen Islamkonferenz, war Stipendiatin des Deutschen Evangelischen Kirchentags 2019, nimmt teil an den Konferenzen der Plattform Dialogperspektiven. Religionen und Weltanschauungen im Gespräch, eine Konferenz mit Teilnehmenden aus ganz Europa.



Wie sie das so alles macht? Leichtes Achselzucken. In zwei Wochen würde es wieder etwas ruhiger. Und dann? Beschleunigt ihr Leben wieder. Weitere Städte, weitere Initiativen, viele To Dos. Und Elif: strahlt.
Die Gesprächspartnerin staunt, die vielen Themen und Aktivitäten der 22-Jährigen wirbeln einem um die Ohren, weder der Stift auf dem Papier noch der eigene Kopf können das galoppierende Tempo lange mithalten.
Die Sehnsucht war schon immer da
Die Sehnsucht nach dem Ausland, nach neuen Begegnungen, Sprachen, Impulsen war schon immer da. „In der frühen Schulzeit suchte ich Austausch mit anderen durch Engagement in der Schülervertretung.“ Später dann ihr größter Wunsch: ein Auslandsaufenthalt. Für ihre Eltern damals unvorstellbar. „Ich allein in einer anderen Familie, in einem anderen Land? Unmöglich. Meine Eltern kannten niemanden, dessen Kinder so etwas gemacht hätten.“ Elif verhandelte. Die Familie lud schließlich eine Gastschülerin aus Spanien nach Bottrop ein. Die Welt kam zu Besuch.
Elif Bayat suchte weiter nach Impulsen. Fand sie bei den Ruhrtalenten, einem Stipendienprogramm für Schüler*innen aus dem Ruhrgebiet. Gezielt sprach sie damals einen Talentscout an ihrer Schule an. Sie wurde die erste Stipendiatin des Programms in Bottrop. „Der erste Schritt ist noch schwer. Dann wird es immer leichter“, fasst sie ihre Erfahrungen zusammen.
Alles anders
Nach dem Abitur 2018 dann endlich der Sprung in eine ganz neue Welt: Mit der meet!-Mercator Europatour reiste Elif nach Dublin, dann nach Rom für ein Praktikum im Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. „Da war ich 19 Jahre alt und plötzlich bei den Vereinten Nationen.“ Ja, das fühlt sich manchmal irreal an. Aber dann geht es immer weiter. „meet! war der Anfang von allem.“
Seitdem folgten zahlreiche Stationen und Tätigkeiten: Hospitanz in der Jugendredaktion von Correctiv, Praktikum im Bundestag, Freiwilliges Soziales Jahr im Landtag von Nordrhein-Westfalen, aktive Mitgliedschaften bei der Grünen Jugend und im Jugendbeirat der Umweltorganisation WWF, Engagement beim feministischen Netzwerk F, das junge Frauen und nicht-binäre Menschen darin unterstützt, aktive Rollen in der Politik, insbesondere der Außenpolitik, einzunehmen. Es ist offensichtlich: Elif testet aus, sucht nach neuem Wissen – und strickt an ihrem Lebenslauf.
Dabei sucht sie immer wieder Rat bei den Menschen um sie herum und bei denen, die sie sich als Vorbilder aussucht. Sie fragt sehr gezielt, hört aufmerksam zu, macht sich augenscheinlich innerlich Notizen. „Das musste ich schon immer so machen und das habe ich schon immer so gemacht.“
Inzwischen wird sie selbst oft um Rat gefragt, wenn es um Auslandsaufenthalte geht. „Mir macht super viel Spaß zu teilen, was ich gelernt habe. Vielleicht ist es das, was mich antreibt: Weitergeben zu können, was ich bekommen habe. Gerade bei den ersten Schritten, die so schwer sind.“
War meet! tatsächlich der Beginn? Oder ist und war das sie selbst? Es heißt, der türkische Name Elif trage viele Bedeutungen. Genug, um zwei Bücher zu füllen. Elif Bayat treibt so viel, dass es für zwei Leben reichen würde.
meet! – Mercator Europa Tour
Die meet! – Mercator Europa Tour ermöglicht jungen Menschen aus dem Ruhrgebiet einen vollfinanzierten dreiwöchigen Aufenthalt in Europa. Das Programm richtet sich an Auszubildende nach dem (Fach-)Abitur sowie Studierende, die internationale Tätigkeitsfelder kennenlernen möchten.