Zwischen Bosporus und Bundestag: Perspektiven für die deutsch-türkische Zukunft
Ob Migration, Sicherheit oder demokratische Prozesse: Die deutsch-türkischen Beziehungen sind ein Balanceakt zwischen Kooperation und gegenseitiger Kritik. Im Interview mit AufRuhr sprechen die Politikexpertin Seren Selvin Korkmaz und der Journalist Ozan Demircan über eine neue Gleichgültigkeit in Berlin, die Bedeutung der Türkei für Europa und warum die Zivilgesellschaft für die deutsch-türkische Partnerschaft immer wichtiger wird.
Seren Selvin Korkmaz und Ozan Demircan, beide Alumni des Zukunftsforum Türkei Europa, beschäftigen sich beruflich intensiv mit der Türkei und ihren Beziehungen zu Deutschland und Europa. Korkmaz ist Politikanalytikerin und Mitgründerin des Istanbul Political Research Institute (IstanPol). Demircan berichtet seit vielen Jahren für das Handelsblatt aus Istanbul. Im Gespräch zeigt sich schnell: Hier unterhalten sich die Richtigen.
Herr Demircan, wie würden Sie die Deutschland-Türkei-Beziehung im Moment beschreiben?
Demircan: Ehrlich gesagt nehme ich aus Berlin eine neue Gleichgültigkeit gegenüber Ankara wahr. Einen Bruch, den ich als Journalist und Doppelstaatsbürger mit Verwunderung beobachte. Früher prägte die türkische Politik regelmäßig die deutsche Agenda. Ein Manöver Erdoğans führte fast unweigerlich zu einer Antwort aus Deutschland. Doch im neuen Koalitionsvertrag wurde die Türkei kaum erwähnt, Bundeskanzler Friedrich Merz plant erst jetzt, Ende Oktober, einen Antrittsbesuch in Ankara. Wäre ich Funktionär einer türkischen Oppositionspartei, wäre ich enttäuscht: Zwar gibt es von deutscher Seite noch Bekenntnisse zu Menschenrechten, aber die greifbare Unterstützung flacht ab.
Frau Korkmaz, deckt sich das mit den Eindrücken, die Sie aus Brüssel bekommen?
Korkmaz: Ja, leider. Im Austausch mit Thinktank-Vertreter*innen und EU-Beamt*innen erkenne ich: Offiziell betonen Institutionen zwar, wie wichtig die Beziehungen zur Türkei sind. Aber auf Handlungsebene, etwa beim Thema Demokratiestärkung, geht die aktive Auseinandersetzung zurück.
Seren Selvin Korkmaz ist Mitbegründerin und Co-Direktorin des Istanbul Political Research Institute (IstanPol). Von November 2023 bis Juni 2024 war sie als politische Spezialistin im US-Generalkonsulat in Istanbul tätig und beriet dort zur politischen Dynamik in der Türkei. Korkmaz ist Forscherin am Institut für Türkeistudien der Universität Stockholm und unterrichtet dort.
Offiziell betonen Institutionen, wie wichtig die Türkei sei. Aber auf Handlungsebene nimmt die aktive Auseinandersetzung ab.
Was verursacht denn diesen Wandel?
Demircan: Ich glaube, im politischen Berlin haben viele erkannt: Ob Unterstützung der Opposition oder Sanktionen gegen die Regierung – nichts davon hat wirklich die politischen Ziele erreicht, die Deutschland sich erhofft hatte.
Ob NATO, Energie oder Migrationsmanagement: Europa ist in vielen Bereichen auf die Türkei angewiesen. Wie bewerten Sie dieses Spannungsfeld zwischen Kritik und Kooperation?
Demircan: In Europa dominiert seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine die Erzählung, dass die Türkei plötzlich unverzichtbar ist. Dabei war die Türkei immer wichtig. Der Fehler in Brüssel war, sich zu sehr auf die Person an der Staatsspitze zu fokussieren – und darüber hinaus zu vergessen, wie zentral die Türkei als Partnerin ist. Der Ukrainekrieg hat uns wieder daran erinnert. Ein Beispiel: Im März 2023 diskutierte Deutschland noch über die Lieferung von ein paar Tausend Helmen für Kiew, während türkische Drohnen längst russische Soldaten bekämpften.
Korkmaz: Ukraine, Syrien oder Aserbaidschan: Gerade die geopolitische Instabilität in diesen Regionen in den vergangenen Jahren hat die Rolle der Türkei in vielen Bereichen noch verstärkt – ob beim Thema Sicherheit, Investitionen, Wiederaufbau oder Handel. All das macht Ankara unverzichtbar. Meine Beobachtung ist: Angesichts regionaler Konflikte akzeptieren europäische Staaten eine Art „autoritäre Stabilität“ in der Türkei und bevorzugen transaktionale Beziehungen mit ihr, anstatt auf Demokratie zu drängen.
Ozan Demircan ist seit 2025 als Senior-Korrespondent für „The Pioneer“ tätig. Davor arbeitete er 12 Jahre lang als Auslandskorrespondent für das Handelsblatt in Instanbul. Er hat einen Abschluss in Volkswirtschaft von der Universität zu Köln und zeitgleich eine vierjährige Ausbildung an der verlagsunabhängigen Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft absolviert. Während seines Studiums nahm Demircan an Austauschprogrammen an der Higher School of Economics in Moskau sowie an der University of Shanghai teil.
Die EU-Türkei-Flüchtlingsvereinbarung wird zehn Jahre alt. Kritiker*innen sprechen von Machtpolitik und Doppelmoral: Die EU überlässt Ankara die Geflüchteten, kritisiert aber gleichzeitig die dortigen humanitären Zustände. Wie sehen Sie das?
Demircan: Grundsätzlich ist es normal, Macht als Druckmittel einzusetzen – so machen es auch die USA oder China. Genau das hat Erdoğan getan. Aber heute hat dieses Hebelspiel mit den Geflüchteten an Gewicht verloren: Seit das bedrohliche Szenario einer Fluchtbewegung aus Syrien vorbei ist, ist Migration in Europa längst ein innenpolitisches Thema.
Korkmaz: Das sehe ich auch so, möchte aber ergänzen: Die Türkei verfolgt eine Politik der strategischen Autonomie. Das verschafft ihr auch beim Thema Migration Verhandlungsmacht. Gleichzeitig hat die türkische Gesellschaft selbst die Hauptlast getragen, Millionen Geflüchtete aufgenommen und trotz aller Probleme keine große rechtsextreme Bewegung hervorgebracht. Regierung wie Opposition vermeiden bislang eine offene Anti-Migrations-Agenda – das unterscheidet die Türkei von vielen EU-Staaten.
Im AufRuhr-Interview 2024 sagte TEFF-Alumni Fulya Koçukoğlu: „Die Beziehungen sind besser als ihr Ruf“. Wie sehen Sie das?
Korkmaz: In puncto Demokratisierung sehe ich diese Entwicklung nicht. Aber bei der Sicherheitspolitik oder beim Handel etwa sind die Beziehungen tatsächlich gut. Beispielsweise kann Kritik an der Türkei realpolitisch für beide Seiten vorteilhaft sein: Sie kann sowohl in der Türkei als auch in europäischen Ländern innenpolitisch genutzt werden. Studien zeigen, dass eine Machtdemonstration gegenüber anderen Staaten wichtig ist, um innenpolitisch Rückhalt zu sichern. Das erklärt den Widerspruch zwischen Ruf und Realität.
Demircan: Politikwissenschaftler*innen nennen das ein „Two-Level-Game“: kritisieren und eine Woche später Hände schütteln. Das kann strategisch sinnvoll sein. Unter den Nutznießer*innen einer solchen Strategie kann sich auch meine Branche in Selbstkritik üben: Journalist*innen stürzen sich auf Konflikte und Skandale. Dadurch gerät leicht in Vergessenheit, was zum Beispiel auf zivilgesellschaftlicher Ebene alles gut läuft.
Kritik an der Türkei kann realpolitisch für beide Seiten vorteilhaft sein: Sie kann sowohl in der Türkei als auch in europäischen Ländern innenpolitisch genutzt werden. Studien zeigen, dass eine Machtdemonstration gegenüber anderen Staaten wichtig ist, um innenpolitisch Rückhalt zu sichern.
Welche Impulse aus der türkischen Zivilgesellschaft beobachten Sie zurzeit? Und was kann die EU davon lernen?
Korkmaz: Trotz Repression bleibt die Zivilgesellschaft in der Türkei lebendig. Vor allem junge Initiativen an Universitäten leisten Erstaunliches. Sie schaffen Räume für Debatten über Demokratie und Zukunft – auch wenn Proteste schnell kriminalisiert werden. EU-Förderungen sind für ihr Überleben zentral. Meine Sorge ist, dass durch den Fokus auf die Sicherheitspolitik künftig weniger Mittel für Menschenrechte und Demokratie bleiben.
Demircan: Auch deutsche Stiftungen kürzen wegen knapper Budgets ihre Projekte. Und wenn die AfD weiterwächst, könnte künftig ein erheblicher Teil der ohnehin schrumpfenden Mittel in ihre Parteistiftung fließen – mit gravierenden Folgen auch für die Zivilgesellschaftsförderung in der Türkei. Demokratiestärkung ist kein Selbstläufer, das kann sich gerade ein privilegierter Teil der deutschen Bevölkerung von Teilen der türkischen Zivilgesellschaft abschauen.
Wenn Sie eine Idee nennen könnten, um die deutsch-türkischen Beziehungen für das nächste Jahrzehnt zu verbessern – welche wäre das?
Korkmaz: Aus meiner Sicht müssen deutsch-türkische Beziehungen in Zukunft zivilgesellschaftlich noch breiter aufgestellt sein – und als mehr gesehen werden denn als Beziehungen auf politischer Führungsebene. Diese Sichtbarkeit kann durch eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit, gemeinsame Kommunikationsplattformen und Austauschprogramme verbessert werden, die die bestehende Zusammenarbeit für Bürger*innen greifbarer machen.
Demircan: Ich würde damit anfangen, dass Bundeskanzler Friedrich Merz endlich nach Ankara kommt. Sein geplanter Besuch Ende Oktober ist also ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Zukunftsforum Türkei Europa
Das Zukunftsforum Türkei Europa bringt seit 2015 engagierte türkische und europäische Nachwuchsführungskräfte jährlich zu einem intensiven Dialog zusammen. Die Programmphase findet im Wechsel in der Türkei und in Deutschland sowie in anderen europäischen Ländern statt.