Zwischen Bosporus und Bundestag: Perspektiven für die deutsch-türkische Zukunft

Eine Illustration zeigt eine Tasse Tee vor einer Brücke
Zwischen Bosporus und Bundestag: Perspektiven für die deutsch-türkische Zukunft
Autorin: Simone Kamhuber 28.10.2025

Ob Migration, Sicherheit oder demokra­tische Prozesse: Die deutsch-türkischen Beziehungen sind ein Balance­­akt zwischen Kooperation und gegen­­seitiger Kritik. Im Interview mit AufRuhr sprechen die Politik­­expertin Seren Selvin Korkmaz und der Journalist Ozan Demircan über eine neue Gleich­­gültig­keit in Berlin, die Bedeutung der Türkei für Europa und warum die Zivil­­gesell­schaft für die deutsch-türkische Partner­schaft immer wichtiger wird.

Seren Selvin Korkmaz und Ozan Demircan, beide Alumni des Zukunfts­forum Türkei Europa, beschäftigen sich beruflich intensiv mit der Türkei und ihren Beziehungen zu Deutschland und Europa. Korkmaz ist Politik­­analyti­kerin und Mit­gründerin des Istanbul Political Research Institute (IstanPol). Demircan berichtet seit vielen Jahren für das Handels­­blatt aus Istanbul. Im Gespräch zeigt sich schnell: Hier unterhalten sich die Richtigen.

Herr Demircan, wie würden Sie die Deutschland-Türkei-Beziehung im Moment beschreiben?

Demircan: Ehrlich gesagt nehme ich aus Berlin eine neue Gleich­­gültig­­keit gegenüber Ankara wahr. Einen Bruch, den ich als Journalist und Doppel­­staats­­bürger mit Verwunderung beobachte. Früher prägte die türkische Politik regelmäßig die deutsche Agenda. Ein Manöver Erdoğans führte fast unweigerlich zu einer Antwort aus Deutschland. Doch im neuen Koali­tions­­vertrag wurde die Türkei kaum erwähnt, Bundes­kanzler Friedrich Merz plant erst jetzt, Ende Oktober, einen Antritts­­besuch in Ankara. Wäre ich Funktionär einer türkischen Oppositions­­partei, wäre ich enttäuscht: Zwar gibt es von deutscher Seite noch Bekenntnisse zu Menschen­­rechten, aber die greifbare Unter­stützung flacht ab.

Frau Korkmaz, deckt sich das mit den Eindrücken, die Sie aus Brüssel bekommen?

Korkmaz: Ja, leider. Im Austausch mit Think­tank-Vertre­ter*innen und EU-Beamt*innen erkenne ich: Offiziell betonen Institutionen zwar, wie wichtig die Beziehungen zur Türkei sind. Aber auf Handlungs­ebene, etwa beim Thema Demo­kratie­­stärkung, geht die aktive Ausein­ander­setzung zurück.

© Privat

Seren Selvin Korkmaz ist Mitbe­grün­derin und Co-Direktorin des Istanbul Political Research Institute (IstanPol). Von November 2023 bis Juni 2024 war sie als politische Spezialistin im US-General­­konsulat in Istanbul tätig und beriet dort zur politischen Dynamik in der Türkei. Korkmaz ist Forscherin am Institut für Türkei­studien der Universität Stockholm und unterrichtet dort.

Offiziell betonen Institutionen, wie wichtig die Türkei sei. Aber auf Handlung­sebene nimmt die aktive Ausein­ander­setzung ab.

Seren Selvin Korkmaz

Was verursacht denn diesen Wandel?

Demircan: Ich glaube, im politischen Berlin haben viele erkannt: Ob Unter­stützung der Opposition oder Sanktionen gegen die Regierung – nichts davon hat wirklich die politischen Ziele erreicht, die Deutschland sich erhofft hatte.

Ob NATO, Energie oder Migra­tions­manage­ment: Europa ist in vielen Bereichen auf die Türkei angewiesen. Wie bewerten Sie dieses Spannungs­feld zwischen Kritik und Kooperation?

Demircan: In Europa dominiert seit Beginn des russischen Angriffs­­krieges gegen die Ukraine die Erzählung, dass die Türkei plötzlich unver­zicht­bar ist. Dabei war die Türkei immer wichtig. Der Fehler in Brüssel war, sich zu sehr auf die Person an der Staats­­spitze zu fokussieren – und darüber hinaus zu vergessen, wie zentral die Türkei als Partnerin ist. Der Ukraine­­krieg hat uns wieder daran erinnert. Ein Beispiel: Im März 2023 diskutierte Deutschland noch über die Lieferung von ein paar Tausend Helmen für Kiew, während türkische Drohnen längst russische Soldaten bekämpften.

Korkmaz: Ukraine, Syrien oder Aserbaidschan: Gerade die geopolitische Instabi­lität in diesen Regionen in den vergangenen Jahren hat die Rolle der Türkei in vielen Bereichen noch verstärkt – ob beim Thema Sicherheit, Investi­tionen, Wieder­­auf­bau oder Handel. All das macht Ankara unver­zicht­bar. Meine Beobachtung ist: Angesichts regionaler Konflikte akzeptieren europäische Staaten eine Art „autoritäre Stabi­lität“ in der Türkei und bevorzugen trans­aktionale Beziehungen mit ihr, anstatt auf Demokratie zu drängen.

Ein Portraitbild des Journalisten Ozan Demircan
© Redakteure Handelsblatt

Ozan Demircan ist seit 2025 als Senior-Korrespondent für „The Pioneer“ tätig. Davor arbeitete er 12 Jahre lang als Auslandskorrespondent für das Handelsblatt in Instanbul. Er hat einen Abschluss in Volks­­wirt­schaft von der Universität zu Köln und zeit­­gleich eine vier­jährige Ausbildung an der verlags­­unab­hängigen Kölner Journa­listen­­schule für Politik und Wirtschaft absolviert. Während seines Studiums nahm Demircan an Aus­tausch­­pro­grammen an der Higher School of Economics in Moskau sowie an der University of Shanghai teil.

Eine Illustration zeigt Silhouetten zweier Menschen, davor sind zwei sich greifende Hände zu sehen.
Wie gelingt die deutsch-türkische Kooperation trotz politischer Differenzen? © Tolga Akdogan

Die EU-Türkei-Flücht­lings­­vereinbarung wird zehn Jahre alt. Kritiker*innen sprechen von Macht­­politik und Doppel­­moral: Die EU überlässt Ankara die Geflüchteten, kritisiert aber gleich­zeitig die dortigen humanitären Zustände. Wie sehen Sie das?

Demircan: Grundsätzlich ist es normal, Macht als Druck­­mittel ein­zu­setzen – so machen es auch die USA oder China. Genau das hat Erdoğan getan. Aber heute hat dieses Hebel­­spiel mit den Geflüchteten an Gewicht verloren: Seit das bedrohliche Szenario einer Flucht­­bewegung aus Syrien vorbei ist, ist Migration in Europa längst ein innen­­poli­tisches Thema.

Korkmaz: Das sehe ich auch so, möchte aber ergänzen: Die Türkei verfolgt eine Politik der strategischen Autonomie. Das verschafft ihr auch beim Thema Migration Verhandlungs­­macht. Gleich­zeitig hat die türkische Gesell­schaft selbst die Hauptlast getragen, Millionen Geflüchtete aufgenommen und trotz aller Probleme keine große rechts­­extreme Bewegung hervor­­gebracht. Regierung wie Opposition vermeiden bislang eine offene Anti-Migra­tions-Agenda – das unterscheidet die Türkei von vielen EU-Staaten.

Eine Illustration zeigt einen Abflugbereich eines Flughafens.
Viele junge Türk*innen haben ein großes Bedürfnis, Europa kennenzulernen, sagt Ozan Demircan. Auch, wenn das dauerhafte Auswandern nicht möglich ist. © Tolga Akdogan

Im AufRuhr-Interview 2024 sagte TEFF-Alumni Fulya Koçukoğlu: „Die Beziehungen sind besser als ihr Ruf“. Wie sehen Sie das?

Korkmaz: In puncto Demokra­tisierung sehe ich diese Entwicklung nicht. Aber bei der Sicher­heits­­politik oder beim Handel etwa sind die Beziehungen tatsächlich gut. Beispiels­­weise kann Kritik an der Türkei real­­politisch für beide Seiten vorteil­­haft sein: Sie kann sowohl in der Türkei als auch in europäischen Ländern innen­­politisch genutzt werden. Studien zeigen, dass eine Macht­­demonstration gegen­über anderen Staaten wichtig ist, um innen­­politisch Rückhalt zu sichern. Das erklärt den Wider­spruch zwischen Ruf und Realität.

Demircan: Politik­wissen­schaftler*innen nennen das ein „Two-Level-Game“: kritisieren und eine Woche später Hände schütteln. Das kann strategisch sinnvoll sein. Unter den Nutz­­nießer*innen einer solchen Strategie kann sich auch meine Branche in Selbst­­kritik üben: Journa­list*innen stürzen sich auf Konflikte und Skandale. Dadurch gerät leicht in Vergessen­heit, was zum Beispiel auf zivil­­gesell­schaft­licher Ebene alles gut läuft.

Kritik an der Türkei kann realpolitisch für beide Seiten vorteilhaft sein: Sie kann sowohl in der Türkei als auch in europäischen Ländern innen­politisch genutzt werden. Studien zeigen, dass eine Macht­demonstration gegenüber anderen Staaten wichtig ist, um innen­politisch Rückhalt zu sichern.

Ozan Demircan

Welche Impulse aus der türkischen Zivil­­gesell­schaft beobachten Sie zurzeit? Und was kann die EU davon lernen?

Korkmaz: Trotz Repression bleibt die Zivil­­gesellschaft in der Türkei lebendig. Vor allem junge Initiativen an Universitäten leisten Erstaunliches. Sie schaffen Räume für Debatten über Demokratie und Zukunft – auch wenn Proteste schnell krimi­nalisiert werden. EU-Förderungen sind für ihr Über­leben zentral. Meine Sorge ist, dass durch den Fokus auf die Sicher­heits­­politik künftig weniger Mittel für Menschen­­rechte und Demokratie bleiben.

Demircan: Auch deutsche Stiftungen kürzen wegen knapper Budgets ihre Projekte. Und wenn die AfD weiterwächst, könnte künftig ein erheblicher Teil der ohnehin schrumpfenden Mittel in ihre Partei­­stiftung fließen – mit gravierenden Folgen auch für die Zivil­­gesellschafts­­förderung in der Türkei. Demokratie­­stärkung ist kein Selbst­­läufer, das kann sich gerade ein privile­gierter Teil der deutschen Bevölkerung von Teilen der türkischen Zivil­­gesellschaft abschauen.

Wenn Sie eine Idee nennen könnten, um die deutsch-türkischen Beziehungen für das nächste Jahrzehnt zu verbessern – welche wäre das?

Korkmaz: Aus meiner Sicht müssen deutsch-türkische Beziehungen in Zukunft zivil­­gesell­schaftlich noch breiter aufgestellt sein – und als mehr gesehen werden denn als Beziehungen auf politischer Führungs­­ebene. Diese Sicht­barkeit kann durch eine stärkere Öffent­lich­keits­­arbeit, gemeinsame Kommuni­kations­­platt­­formen und Austausch­­programme verbessert werden, die die bestehende Zusammen­­arbeit für Bürger*innen greif­barer machen.

Demircan: Ich würde damit anfangen, dass Bundes­­kanzler Friedrich Merz endlich nach Ankara kommt. Sein geplanter Besuch Ende Oktober ist also ein erster Schritt in die richtige Richtung.


Zukunftsforum Türkei Europa

Das Zukunfts­forum Türkei Europa bringt seit 2015 engagierte türkische und europäische Nachwuchs­­führungs­­kräfte jährlich zu einem intensiven Dialog zusammen. Die Programm­phase findet im Wechsel in der Türkei und in Deutschland sowie in anderen europäischen Ländern statt.

https://www.turkey-europe-future-forum.com/