EU-Erweiterung und Rechts­staat­lich­keit: „Die EU muss konsequenter sein“

EU-Erweiterung und Rechts­staat­lich­keit: „Die EU muss konsequenter sein“
Autor: Jan Eijking 16.09.2025

Seit dem russischen Angriffs­krieg gegen die Ukraine hat die Europäische Union die Debatte über Bei­tritts­­kandi­daten neu angestoßen. Im Zentrum stehen dabei die Ukraine, Moldau, Georgien, aber auch Länder des West­balkans. Wie kann eine Erweiterung die EU stärken? Welche Rolle spielen dabei ein wider­­stands­­fähiger Rechts­staat und eine funktio­nierende Demokratie von potenziellen Neu­mit­gliedern?

Funda Tekin, Direktorin des Instituts für Europäische Politik in Berlin, und Marko Trosanovski, Präsident des Instituts für Demokratie in Skopje, plädieren im Interview mit AufRuhr für weniger Check­listen und mehr Durch­­setzungs­­kraft.

Frau Tekin, Herr Trosanovski, Sie sind beide Expert*innen für Rechts­­staat­lich­keit und die EU-Erweiterung. Daher gleich einmal die brennendste Frage zum Anfang: Wenn Kandidaten in Sachen Rechts­­staat­lich­keit hohe Hürden meistern müssen, um in die EU zu kommen, während EU-Staaten wie Ungarn oder Polen hier Rück­schritte machen – kann man der EU dann nicht eigentlich Doppel­moral vorwerfen?

Marko Trosanovski: Ja, absolut. Es fehlt an Konsequenz. Verstöße gegen die Rechts­­staat­lichkeit bleiben bei bestehenden Mitgliedern oft folgenlos, während Reform­­bemühungen bei Beitritts­­kandidaten nicht immer anerkannt werden. Das ist frustrierend – und schadet dem gesamten EU-Erweiterungs­prozess.

Funda Tekin: Das Problem ist eindeutig strukturell. Das Vetorecht ermöglicht es einzelnen EU-Mitglieds­staaten, Fortschritte aus Gründen zu blockieren, die nichts mit der Rechts­­staat­lichkeit zu tun haben. Eine qualifizierte Mehr­heits­­entscheidung könnte den Prozess entpolitisieren. Aber selbst das würde noch nicht alle Probleme lösen.

Ein Portraitbild von Funda Tekin
© Robert Graeff

Funda Tekin ist Direktorin des Instituts für Europäische Politik in Berlin sowie Professorin am Institut für Politik­­wissen­schaften der Universität Tübingen. Sie leitet zurzeit das Projekt RESILIO-ACCESS.

Das Vetorecht ermöglicht es einzelnen EU-Mitglieds­staaten, Fortschritte aus Gründen zu blockieren, die nichts mit der Rechts­staat­lichkeit zu tun haben.

Funda Tekin

Treten wir noch einmal einen Schritt zurück: Sie erforschen beide im Projekt RESILIO-ACCESS, wie EU-Beitritts­­kandi­daten die Resilienz ihres Rechts­staats stärken können. Wie gehen Sie der Frage nach, und was haben Sie bisher heraus­gefunden?

FT: Wir wollen wissen, ob und wie der EU-Beitritts­­prozess die Rechts­­staat­lichkeit in bestimmten Ländern nicht nur verbessern, sondern auch wider­stands­­fähiger machen kann. Bei RESILIO-ACCESS schauen wir deshalb nicht nur auf Gesetze oder Institutionen, sondern auch auf die Praxis: Wie sieht eine wider­­stands­­fähige Rechts­­staat­lichkeit wirklich aus? Nehmen Sie die Türkei – dort sehen wir seit Beginn der Beitritts­gespräche Rück­­schritte. Das zeigt, wie fragil solche Entwicklungen sein können. Gleich­zeitig wirft es Fragen auf: Was läuft schief, was lässt sich daraus für andere Länder ableiten? Diese Fragen stehen für uns im Mittelpunkt.

Eine Grafik zeigt eine Karte der EU und ihrer Bewerberländer
© picture alliance

MT: Deshalb passen wir das Projekt länder­spezifisch an. In der EU-Beitritts­­debatte – etwa zum West­balkan oder dem „assoziierten Trio“ aus Ukraine, Georgien und Moldau – heißt es oft verkürzt: Reformen gegen Vorteile. Das greift zu kurz. Uns interessiert, wie sich Rechts­­staat­lich­keit lang­fristig und trag­fähig in den Beitritts­­ländern verankern lässt – im sozialen Kontext, im öffentlichen Vertrauen und im institu­tio­nellen Kern. Wir analysieren, wie stabil die rechts­staatlichen Strukturen sind, besonders bei poli­tischem Wandel. Und wir wollen wissen, welche Macht die EU-Konditio­nalität hat, also der Umstand, dass die EU Beitritts­­pers­pektiven und finanzielle Hilfen an bestimmte Bedingungen knüpft.

Was ist die Konditionalität der EU?

Die Konditio­nalität der EU ist ein politisches Steuerungs­instrument. Gelder, Handels­vorteile oder Mit­glied­schafts­perspektiven werden Ländern nur dann gewährt, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Zu diesen Bedingungen zählt unter anderem die Rechts­staat­lichkeit.

Die sogenannte Rechts­staat­lichkeits-Konditio­nalität hat für beitritts­willige Länder eine große Bedeutung: Ein EU-Beitritt ist nur möglich, wenn grundlegende Prinzipien des Rechts­staats – wie die Unab­hängig­keit der Justiz, der Kampf gegen Korruption oder die Meinungs­frei­heit – eingehalten werden. Beitritts­kandidaten müssen belegen, dass ihre Gerichte unabhängig sind, Gesetze fair angewendet werden und Korruption wirksam bekämpft wird. Solange diese Bedingungen nicht erfüllt sind, können Beitritts­ver­hand­lungen ausgesetzt oder Förder­gelder eingefroren werden.

FT: Wir haben schon in unserem Vorläufer­projekt gesehen: Es reicht nicht, wenn Institutionen formal existieren – entscheidend ist, ob sie auch funktionieren. Das bildet die aktuelle EU-Beitritts­­methodik kaum ab, die oft nur abhakt, ob bestimmte Kriterien erfüllt sind. Deswegen braucht es einen multi­­dimen­sionalen Ansatz, den wir bei RESILIO-ACCESS verfolgen.

Wie steht es denn aktuell um die Rechts­staatlichkeit in der EU?

FT: Rechts­staat­lichkeit ist nicht nur ein Wert, sondern sie ist grundlegend für das Funktionieren der EU. Der Rechts­­staat­lich­keits­bericht der Europäischen Kommission für 2025 verzeichnet zwar einige Fortschritte und berücksichtigt erstmals auch Beitritts­­länder wie Serbien oder Albanien. Aber einiges ist auch besorgnis­erregend. So tut sich in Ungarn nur wenig. Und in Polen geht der Wiederaufbau der Rechts­staat­lichkeit trotz politischem Wandel nur schleppend voran.

Insgesamt sehen wir eine Diskrepanz zwischen dem, was die EU vorgibt, und dem, was sie tatsächlich durchsetzt. Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) erlaubt der EU, bei Gefahr für oder tatsäch­licher Verletzung der Grundwerte der EU wie Menschen­rechte, Rechts­­staatlichkeit oder Demokratie gegen Mitglieds­staaten vorzugehen. Dieser Artikel bleibt aber weitgehend ineffektiv, weil er nicht zur vollständigen Anwendung kommt. Und selbst der Konditionalitäts­­mecha­nismus, der an den EU-Haushalt geknüpft ist, hat nur eine begrenzte Wirkung.

Ein Portraitbild von Marko Troshanovski

Marko Trosanovski ist Präsident des Institute for Democracy Societas Civilis (IDCSC) in Skopje, Nord­mazedonien. Der unabhängige und gemein­nützige Thinktank hat das Ziel, Demokratie, Solida­rität und Zivil­­gesell­schaft zu fördern. Arbeits­­schwer­­punkte des IDCSC liegen in den Bereichen Rechts­staat­lich­keit, multi­­kultu­relles und multi­­ethnisches Zusammen­­leben sowie EU-Integration und europäische Zusammen­­arbeit. Das IDCSC ist Projekt­­partner von RESILIO-ACCESS.

Fahnen mehrerer europäischer Länder hängen über einer Straße.
Im Juni 2024 hat Moldawien die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union aufgenommen – bisher ohne Entscheidung. © picture alliance

Wie zeigt sich das bei potenziellen Beitrittsländern?

MT: Es gibt in vielen Ländern Fortschritte, aber oft sind diese nicht anhaltend. In einigen Staaten sehen wir, wie politische Eliten Institutionen gezielt für eigene Zwecke nutzen. Und viele Reformen werden eher mit Blick auf politische Gewinne angegangen – also um auf EU-Listen einen Haken setzen zu können –, aber nicht aus Überzeugung. Rück­blickend muss ich sagen, dass Beitritte wie etwa von Griechenland, Bulgarien und Rumänien nach heutigen Standards verfrüht stattfanden. Das schadet der Glaub­würdigkeit.

In Zeiten geopolitischer Spannungen zwischen Russland und dem Westen ist die EU-Erweiterung ein heikles Thema, etwa bei kreml­nahen Kandidaten wie Serbien. Wie kann die EU damit umgehen?

FT: Die EU-Erweiterung folgt zwei Logiken: einer geopo­litischen und einer trans­formativen. Sie ist immer auch eine politische Entscheidung wie im Falle von Griechenland, Bulgarien oder Rumänien. Der russische Angriffs­­krieg gegen die Ukraine rückt die geopoli­tische Dimension erneut in den Vordergrund. Aber Voraus­­setzung bleibt eine stabile Rechts­­staat­lichkeit – und die funktioniert nur, wenn die rechts­staat­liche Basis stimmt. Zugleich muss die EU aufpassen: Lange Warte­zeiten untergraben ihre Glaub­­würdig­keit. Darum muss sie sich um flexible Ansätze bemühen, etwa um die schritt­­weise Integration über den europäischen Binnen­markt.

Rückblickend muss man sagen, dass Beitritte .. nach heutigen Standards verfrüht stattfanden. Das schadet der Glaubwürdigkeit.

Marko Trosanovski

MT: So eine schrittweise Integration kann eine Antwort auf geopolitische Spannungen sein. Der Beitritt der West­­balkan­­staaten zum europäischen Zahlungs­system SEPA ist ein Beispiel. Er vereinfacht Zahlungen in Euro zwischen diesen Ländern, er stärkt die wirt­schaft­liche Integration und gilt als ein kleiner, aber konkreter Schritt auf dem Weg in die EU. So wird die EU-Nähe spürbar und die Zustimmung steigt. Gleichzeitig sehen wir aber auch Frustration, etwa in Nord­mazedonien: Trotz teils erheblicher Reformen, einschließlich 50 Prozent Rechts­angleichung an die EU, wird der Beitritt immer wieder durch einzelne EU-Staaten blockiert – ob durch Griechenland, Frankreich oder Bulgarien. Das schwächt das Vertrauen in den Prozess und die Motivation im Land.

Kommen wir noch einmal zum Vorwurf der Doppelmoral zurück: Wie sollte die EU Ihrer Meinung nach agieren, damit es fair zuginge?

FT: Wichtig ist vor allem eines: Die EU muss konsequenter sein. Wer echte Reformen umsetzt, muss dafür belohnt werden. Und wer zurückfällt – egal ob Beitritts­kandidat oder EU-Mit­glieds­staat – muss mit klaren Konsequenzen rechnen.

MT: Wenn der EU-Beitritt glaubwürdig bleiben soll, muss die EU klare Maßstäbe setzen, diese fair durch­setzen und Fortschritte sichtbar belohnen. Sonst verlieren wir die Unter­stützung – in der EU genauso wie in den Beitritts­­ländern. Die EU und ihre Nachbarn müssen entscheiden, welche Art von Union sie aufbauen wollen.


RESILIO-ACCESS

RESILIO-ACCESS wird von der Stiftung Mercator unter­stützt und baut auf dem vorherigen Forschungs­projekt RESILIO auf. Unter der Leitung von Funda Tekin und am Institut für Europäische Politik in Berlin verankert, setzt sich RESILIO-ACCESS mit der Rechts­staat­lich­keit von EU-Beitritts­­kandi­daten aus­einander. Darüber hinaus sensibi­lisiert das Projekt für Risiken und Heraus­­forderungen der Rechts­­staatlichkeit und analysiert und bewertet die Instrumente der Erweiterung der EU.

RESILIO-ACCESS