Gehen oder bleiben?

Wer als junger Mensch keine beruflichen Perspektiven in der Heimat sieht, der kehrt ihr wohl oder übel den Rücken. So wie in Apulien. In der süditalienischen Region wird dieser „Braindrain“ zunehmend zum Problem. Die Initiative StartNet will gegensteuern: Sie vernetzt Schüler*innen und Lehrkräfte mit Akteur*innen aus Wirtschaft, Politik und Kultur – und sorgt für Begegnungen, die so manchen Jugendlichen zum Bleiben bewegen.
„Mein Traum ist es, mich selbstständig zu machen und in ein paar Jahren hier ein Reisebüro zu eröffnen. Kulturreisen durch meine Heimat Apulien zu organisieren – das müsste spannend sein.“ Alessia Lopasso sitzt im Klassenzimmer des Liceo Statale Marco Polo in Bari und erzählt von ihren Zukunftsplänen. Im vergangenen Jahr hat die 19-Jährige an dieser Oberschule das Abitur gemacht. Ihr Berufswunsch sei während eines mehrmonatigen Projekts im letzten Schuljahr gereift.
„Wir haben es das Jackpot-Projekt genannt“, sagt Alessia und berichtet von einer intensiven Zeit, in der sie und ihre Mitschüler*innen im Deutschunterricht den zeitgenössischen Jugendroman „Jackpot – Wer träumt, verliert“ von Stephan Knösel übersetzt haben. Darin geht es um die Zukunftssorgen von zwei Brüdern, die auf sich allein gestellt in einem sozialen Brennpunkt aufwachsen – und durch einen Zufall an sehr viel Geld gelangen. Richtig lebendig sei die Übersetzungsarbeit dadurch geworden, dass die ganze Klasse München, den Ort der Handlung, besucht und den Autor getroffen habe. Ebenso inspirierend sei die Begegnung mit den Austauschpartner*innen und den Gastfamilien gewesen. Einblicke in einen anderen Alltag, in andere Gewohnheiten und Befindlichkeiten erweitern den Horizont; sie haben Alessia und ihre ehemaligen Mitschüler*innen nachhaltig beeindruckt.


Spuren einer großen Vergangenheit
„Als wir das Freizeitprogramm für den Gegenbesuch unserer deutschen Austauschschüler*innen ausgearbeitet haben, wussten wir erst gar nicht, was wir denen hier zeigen sollten“, erinnert sich Alessia. Die junge Frau mit den großen braunen Augen schüttelt amüsiert den Kopf, wenn sie an ihre damalige Unsicherheit zurückdenkt: „Uns schien alles, was wir hier haben, nichts Besonderes zu sein.“ Erst als sich die Klasse gemeinsam mit ihrer Lehrerin intensiv mit Apulien und den kulturellen Schätzen beschäftigt habe, änderte sich ihr Blick auf die Heimat. In der Region, die sich entlang der adriatischen Küste vom Sporn bis zum Absatz des italienischen Stiefels erstreckt, gibt es vielerorts Spuren einer großen Vergangenheit zu entdecken: Burgen und Kathedralen aus der Zeit der Normannen, archäologische Funde aus der Römerzeit und Hinterlassenschaften weit älterer Kulturen.
Botschafter*innen für Kunst und Kultur
Auch für Mitschülerin Maria Mara haben sich während des Jackpot-Projekts die Weichen im Kopf neu gestellt. „In München haben wir die Pinakothek besucht und alte Gemälde angeschaut. So etwas hatte mich bis dahin überhaupt nicht interessiert. Dort aber haben wir über einige Bilder, über die Künstler*innen und ihre Zeit wirklich spannende Dinge erfahren“, erinnert sich die junge Italienerin mit den zarten Gesichtszügen. „Am Ende haben wir die Rolle eines Museumspädagogen eingenommen und versucht, uns gegenseitig unser neues Wissen zu vermitteln, also Botschafter*innen dieser Bilder zu sein“, berichtet Maria Mara. „Danach hatte ich richtig Lust, mich mehr mit Kultur zu befassen.“


Den früheren Plan, nach dem Abi bei irgendeiner Airline als Flugbegleiterin anzuheuern und durch die Welt zu fliegen, hat Maria Mara inzwischen verworfen. Seit ein paar Monaten studiert sie Sprachen an der Aldo-Moro-Universität in Bari. Noch ist ihr Berufsziel nicht konkret. „Aber im Gegensatz zu früher denke ich nicht mehr, dass man aus Apulien weggehen muss, wenn man jung ist und sich eine berufliche Zukunft aufbauen will. Wir haben viel Kultur hier. Daraus lässt sich etwas machen.“
Impulse mit Langzeiteffekt
Dass die Schüler*innen an Baris Marco-Polo-Oberschule solche Impulse mit Langzeiteffekt bekommen, ist nicht nur engagierten Lehrer*innen zu verdanken. Hinter dem ambitionierten Jackpot-Projekt steht StartNet, eine europäische Lernplattform für regionale Bildungsnetzwerke, die das Goethe-Institut in Rom mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Mercator angeschoben hat.

„Ziel der Initiative ist es, jungen Menschen in den südlichen Regionen Italiens den Übergang von der Schule ins Berufsleben zu erleichtern“, erklärt Angelika Bartholomäi vom Goethe-Institut in Rom. Projekte wie Jackpot sind das eine. Daneben kümmert sich StartNet um einen übergreifenden Rahmen: „Wir vernetzen sämtliche Akteure und Akteurinnen, auf die es in diesem Prozess ankommt: Schulen und Unternehmen, Institutionen, Politik und Zivilgesellschaft.“ In einem Land, das vor so gravierenden Problemen stehe wie Italien, wo einige Regionen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit und Abwanderung zu kämpfen hätten, könne sich auch das Goethe-Institut nicht darauf beschränken, Sprachkurse und Kulturveranstaltungen anzubieten. In den Jahren nach der Wirtschaftskrise von 2008 hat sich die Situation zugespitzt. In der Region Apulien waren im Jahr 2014 rund 58 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos. Seither sinken die Werte, doch sie liegen immer noch bei mehr als 40 Prozent.
Fachkräfte händeringend gesucht
Eine wichtige Säule des StartNet-Engagements sind Fortbildungsangebote für Lehrer*innen. Sie sollen lernen, wie sie Schüler*innen möglichst früh bei der beruflichen Orientierung unterstützen können. Diesem Ziel dienen auch sogenannte Expert*innenbesuche in Schulen, bei denen Menschen aus unterschiedlichen Branchen aus ihrem Berufsalltag erzählen und Einblicke in das breite Spektrum der Unternehmenslandschaft Apuliens geben.

„In den vergangenen 30 Jahren haben wir diesen Austausch vernachlässigt“, sagt Cesare De Palma von der regionalen Arbeitgeberorganisation Confindustria Puglia. „Die Jugendlichen kennen die in der Region ansässigen Unternehmen nicht. Sie wissen nicht, dass Apulien zum Beispiel in der Chemie und Robotik stark aufgestellt ist.“ Sie hätten auch keine Vorstellung davon, welche Anforderungen die Firmen an künftige Arbeitnehmer*innen haben und welche Perspektiven diese ihnen bieten können.
Etliche Unternehmen sind nun Teil des StartNet-Netzwerks, denn auch sie haben ein Interesse daran, ihre wirtschaftliche Zukunft mit gut ausgebildetem Personal zu sichern. Derzeit sehen sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass viele junge Menschen in Süditalien gleich nach dem Schulabschluss der Heimat den Rücken kehren, weil sie glauben, dort ohnehin keinen Arbeitsplatz zu finden. In einigen Zukunftsbranchen gibt es deswegen schon jetzt Personalengpässe: Lebensmittelchemiker*innen, Kommunikationselektroniker*innen, Fachleute für Robotik und Bionik, aber auch IT-, Web- und Marketing-Expert*innen werden händeringend gesucht.
Tourismus und Blue Economy bieten gute Chancen
In den kommenden Jahrzehnten könnten ganze Branchen ausbluten – falls es nicht gelingt, den Abwanderungstrend zu stoppen. Aktuelle Statistiken zeigen eine alarmierende Entwicklung: Vom Beginn der Wirtschaftskrise bis 2017 sind mehr als 150.000 junge Menschen zwischen 15 und 34 Jahren ausgewandert. Damit ist diese Altersgruppe in Apulien in weniger als einem Jahrzehnt um 14 Prozent geschrumpft.
Eine der größeren Aktionen, die StartNet bisher auf die Beine gestellt hat, war das StartNet Camp im Dezember 2018. Bei dieser zweitägigen Berufsmesse in Apuliens Barockstadt Lecce konnten sich Schüler*innen über ausgewählte Wirtschaftszweige informieren: Tourismus, Denkmalschutz, Mode und Design, Lebensmittelproduktion sowie Blue Economy, also nachhaltige Technologien. „In diesen Sektoren könnten in Zukunft viele Arbeitsplätze entstehen, weil schlichtweg Bedarf an deren Dienstleistungen oder Produkten besteht“, sagt Cesare De Palma. Voraussetzung für eine positive Entwicklung all dieser Branchen sei jedoch, dass die Unternehmen das erforderliche Personal rekrutieren können.

Die neuesten StartNet-Produkte sind eine Broschüre und eine App, die Schüler*innen bei der Berufswahl Orientierung geben sollen. „Diese Tools können auch die sogenannten Navigator*innen in den Berufsberatungsstellen nutzen“, sagt StartNet-Managerin Bartholomäi. „Auch die Leute, die diesen Job jetzt machen, brauchen Anleitung. Berufsberatung hat es bis vor Kurzem in Italien gar nicht gegeben.“
Zum Bleiben motivieren
Es wird noch Jahre dauern, bis sich Resultate der StartNet-Initiative in den Arbeitslosenstatistiken niederschlagen. Aber ein Anfang ist gemacht. Auch an der De-Pace-Oberschule in Lecce hat StartNet dafür gesorgt, dass sich die Lehrkräfte im Unterricht inzwischen stärker auf berufsbezogene Projekte fokussieren als noch vor einigen Jahren. „Wir haben verstanden, dass wir schon an der Schule den Motor zünden müssen, damit unsere jungen Leute hier, in ihrer Heimat, beruflich durchstarten können“, sagt Schulleiterin Silvia Madaro Metrangolo.



Eine ihrer Klassen erarbeitete in den vergangenen Monaten Antworten auf folgende Frage: „Wie bringe ich einen ‚Agriturismo‘, also einen ländlichen Urlaubsbetrieb, erfolgreich an den Start?“ Danilo di Francesco, derzeit Schüler der 12. Klasse, hatte Spaß daran – von der finanziellen Kalkulation bis zum Umgang mit dem Hotelbuchungssystem, das auch auf den Rechnern in der Schule läuft. Gern würde er in seiner Heimat bleiben – und in dem Land mit der roten Erde und den jahrhundertealten Olivenbäumen vielleicht einen Ferienbetrieb aufbauen. Vor allem aber sei ihm wichtig, möglichst bald unabhängig von der Familie zu sein, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. „Dafür würde ich überall hingehen“, sagt der breitschultrige, freundliche junge Mann.
Seine Mitschülerin Fabiana, die das Abiturzeugnis seit einem Jahr in der Tasche hat und derzeit Design und Literatur studiert, ist dagegen fest entschlossen, die Heimat allenfalls für ein paar Auswärtssemester zu verlassen. Sie möchte in oder nahe ihrer Heimatstadt Lecce leben. „Es braucht junge Leute, um unsere Region vital zu halten“, sagt die Studentin. Das sei ihr durch das Engagement ihrer Lehrer*innen im letzten Schuljahr klar geworden. Später, nach ihrem Studium, möchte Fabiana selbst unterrichten. Ehrgeiz blitzt aus den Augen der zierlichen Frau. „Dann will auch ich junge Menschen zum Bleiben motivieren.“
StartNet – Netzwerk Übergang Schule Beruf
Das Projekt StartNet bringt Schulen, Institutionen, Unternehmen, Jugendverbände und die Zivilgesellschaft in Apulien und in der Basilikata an einen Tisch, um jungen Menschen Einblicke in die Arbeitswelt und Perspektiven für ihre Zukunft zu bieten.