„Hört doch besser zu!“ – wie ein neuer Journalismus die Demokratie stärkt

Vielfalt der Perspektiven – für modernen Journalismus unerlässlich.
„Hört doch besser zu!“ – wie ein neuer Journalismus die Demokratie stärkt
Autor: Oliver Haustein-Teßmer 03.09.2024

Bei Journalist*innen wächst die Sorge vor einer zunehmenden Medien­skepsis. Manche Zielgruppen miss­trauen insbesondere der politischen Bericht­erstattung. Gastautor Oliver Haustein-Teßmer erforscht neue Wege des digitalen Journalismus, der den gesellschaftlichen Zusammen­halt fördert. Für AufRuhr beschreibt er, was gegen Medien­skepsis hilft.

Im Superwahljahr 2024 haben viele Journalist*innen den Eindruck, dass etwas nicht stimmt mit ihrem Angebot. In einem Workshop der Bundes­zentrale für politische Bildung habe ich knapp 60 redaktionelle Führungs­kräfte aus Deutschland befragt: Wie attraktiv berichten ihre Medien über Politik und Wahlen? Sie bewerteten sich mit durch­schnittlich 2,8 von fünf Sternen. Erstaunlich, oder?

Medien sollen zur Information und Meinungs­bildung möglichst vieler Menschen beitragen. In Demokratien wie Deutschland wächst jedoch das Misstrauen gegen die Medien und das politische System als Ganzes. Kathleen Weser, Mitglied der Chef­redaktion der „Lausitzer Rundschau“ in Cottbus, berichtet, dass schon die Kontakt­aufnahme bei Recherchen schwierig sei. Gibt sich ein*e Kolleg*in als Journalist*in zu erkennen, fällt bei den Angesprochenen häufig die Klappe. Weser sagt: „Viele wollen gar nicht mit Medien reden.“

Doch woran liegt das? Berichte über Wahlumfragen, Partei­programme und PR-Statements von Politiker*innen haben mit dem Alltag der meisten Menschen wenig zu tun. Medien berücksichtigen zudem nicht alle Bevölkerungs­gruppen gleicher­maßen. Untersuchungen wie die der Neuen deutschen Medien­macher*innen und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz belegen: Frauen, Menschen mit Behinderung, Angehörige bestimmter Religionen oder Personen mit Migrations­geschichte kommen einfach zu wenig vor.

Oliver-Haustein Tessmer
© Bashir Abdulkareem

Oliver Haustein-Teßmer verantwortet ab August 2024 als Chief Transformation Officer den Prozess der digitalen Transformation in der Neuen Presse­gesellschaft, zu der die „Südwest Presse“, die „Märkische Oder­zeitung“ und die „Lausitzer Rundschau“ gehören. Als Mercator Fellow unter­sucht er, wie eine diverse, bedürfnis­orientierte und daten­gestützte Bericht­erstattung mehr Menschen eine Stimme gibt und neue Ziel­gruppen bindet.

In einem Forschungsprojekt an der Craig Newmark Graduate School of Journalism der City University of New York habe ich untersucht, wie sich dieser Mangel an journalistischer Vielfalt beheben lässt.

Guter Journalismus vermittelt

Inspiriert hat mich dabei die Partizipations­forschung, darunter das Projekt „The Citizens Agenda“. Es bittet Wahl­berechtigte in Europa oder in den USA, eigene Fragen an die Politik zu formulieren. Die von der Redaktion erfassten häufigsten Fragen können in Interviews mit Kandidierenden oder nach den Wahlen als Agenda veröffentlicht werden. Dieses Konzept ist auch für kleinere Redaktionen geeignet, die die Fragen kosten­günstig über Google Forms oder persönlich in Gruppen­dialogen einsammeln können – ein Weg, den „Richland Source“, ein lokales Medienhaus in Mansfield im US-Bundesstaat Ohio, erfolgreich beschritten hat.

Brittany Schock, Engagement & Solutions Editor bei „Richland Source“, sagte in einem Interview: „Wir haben die Rolle von Vermittler*innen übernommen“ – um an Politiker*innen weiter­zu­geben, was Bürger*innen interessiert.

Berichterstattung: Fachleute und Betroffene an einen Tisch, fordert Oliver Haustein-Teßmer.
Berichterstattung: Fachleute und Betroffene an einen Tisch, fordert Oliver Haustein-Teßmer. © Getty Images

Guter Journalismus nutzt viele Perspektiven

Auch ein Projekt aus Deutschland zeigt, wie sinnvoll es ist, neue Perspektiven journalistisch einzubeziehen. Bei der Bericht­erstattung über mangelnde Kitaplätze brachte das „karla Magazin“ aus Konstanz neben Fachleuten auch Familien mit Kindern an den Tisch eines Dialog­formates. Die Redaktion über­prüfte anschließend, wie das Format in der lokalen Politik ankam. „karla“-Gründer Michael Lünstroth sagte in einem Interview: „Mit den Vorschlägen wurde in der Kommunal­politik weiter­gearbeitet. Man sieht, da ist eine Veränderung angestoßen worden.“

Denn nicht nur Eltern wollen ihre Perspektive auf Kitakosten oder Betreuungs­zeiten mitteilen. Auch Journalist*innen sind meiner Meinung nach im Vorteil, wenn sie ihre Beiträge aus dem Blickwinkel verschiedener Ziel­gruppen angehen. Es geht also nicht um die schnelle Story, sondern um ein Umdenken bei der Recherche.

Andere Expert*innen wie der britische Journalist und Forscher Shirish Kulkarni möchten den Journalismus radikaler verändern. Er sagt, dass sich marginalisierte Gruppen durch strukturellen Rassismus in den „Mainstream-Medien“ falsch dargestellt sähen und daher kein Vertrauen in den Journalismus hätten. Sein Projekt „News for All“ in South Wales in Zusammen­arbeit mit der BBC empfiehlt daher ein lang­fristiges und tief­gehendes Zuhören auf Augenhöhe.

Guter Journalismus hört zu – drei Ansätze

  • Für einen erfolgreichen Dialog bedarf es neben auf­geschlossenen Journalist*innen der umsichtigen Moderation, die für Diskriminierungs­formen sensibel ist. Dies ist insbesondere wichtig, wenn es um marginalisierte Gruppen in der Gesellschaft geht.
  • Beim Dialog auf Augenhöhe bringen die Teilnehmenden ihre Fragen, Erfahrungen und Erwartungen ein. Respektieren Journalist*innen dies, können sie ihre Bericht­erstattung nicht nur bereichern, sondern Vertrauen aufbauen.
  • Die Rolle der Medienleute verändert sich: Journalist*innen ermöglichen Dialog und vermitteln. Beispiel Wahlen: Medien transportieren Fragen und gegebenen­falls Vorschläge und Lösungs­ansätze von Bürger*innen in die Öffentlichkeit.

Das sind drei zentrale Ableitungen aus meinem Forschungs­vorhaben. Dessen Erkenntnisse und Annahmen erproben die Lokal­redaktionen der „Märkischen Oderzeitung“ in Frankfurt (Oder) und der „Lausitzer Rundschau“ in Cottbus. Die Heraus­forderung, dass viele Menschen gar nicht mehr mit den Medien reden wollen, haben die Teams dabei überwunden: Sie setzen auf Vertrauens­personen vor Ort, die bei Dialogen mit bestimmten Ziel­gruppen, darunter Studierende, Senior*innen und Jugendliche, vermitteln.


Mercator Fellowship

Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideen­reich einem Forschungs- oder Praxis­vorhaben zu widmen. Zielgruppe sind heraus­ragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Praxis, die zu spezifischen Frage­stellungen mit Bezug zu den Themen und Handlungs­feldern der Stiftung Mercator arbeiten.