„Hört doch besser zu!“ – wie ein neuer Journalismus die Demokratie stärkt
Bei Journalist*innen wächst die Sorge vor einer zunehmenden Medienskepsis. Manche Zielgruppen misstrauen insbesondere der politischen Berichterstattung. Gastautor Oliver Haustein-Teßmer erforscht neue Wege des digitalen Journalismus, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. Für AufRuhr beschreibt er, was gegen Medienskepsis hilft.
Im Superwahljahr 2024 haben viele Journalist*innen den Eindruck, dass etwas nicht stimmt mit ihrem Angebot. In einem Workshop der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich knapp 60 redaktionelle Führungskräfte aus Deutschland befragt: Wie attraktiv berichten ihre Medien über Politik und Wahlen? Sie bewerteten sich mit durchschnittlich 2,8 von fünf Sternen. Erstaunlich, oder?
Medien sollen zur Information und Meinungsbildung möglichst vieler Menschen beitragen. In Demokratien wie Deutschland wächst jedoch das Misstrauen gegen die Medien und das politische System als Ganzes. Kathleen Weser, Mitglied der Chefredaktion der „Lausitzer Rundschau“ in Cottbus, berichtet, dass schon die Kontaktaufnahme bei Recherchen schwierig sei. Gibt sich ein*e Kolleg*in als Journalist*in zu erkennen, fällt bei den Angesprochenen häufig die Klappe. Weser sagt: „Viele wollen gar nicht mit Medien reden.“
Doch woran liegt das? Berichte über Wahlumfragen, Parteiprogramme und PR-Statements von Politiker*innen haben mit dem Alltag der meisten Menschen wenig zu tun. Medien berücksichtigen zudem nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen. Untersuchungen wie die der Neuen deutschen Medienmacher*innen und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz belegen: Frauen, Menschen mit Behinderung, Angehörige bestimmter Religionen oder Personen mit Migrationsgeschichte kommen einfach zu wenig vor.
Oliver Haustein-Teßmer verantwortet ab August 2024 als Chief Transformation Officer den Prozess der digitalen Transformation in der Neuen Pressegesellschaft, zu der die „Südwest Presse“, die „Märkische Oderzeitung“ und die „Lausitzer Rundschau“ gehören. Als Mercator Fellow untersucht er, wie eine diverse, bedürfnisorientierte und datengestützte Berichterstattung mehr Menschen eine Stimme gibt und neue Zielgruppen bindet.
In einem Forschungsprojekt an der Craig Newmark Graduate School of Journalism der City University of New York habe ich untersucht, wie sich dieser Mangel an journalistischer Vielfalt beheben lässt.
Guter Journalismus vermittelt
Inspiriert hat mich dabei die Partizipationsforschung, darunter das Projekt „The Citizens Agenda“. Es bittet Wahlberechtigte in Europa oder in den USA, eigene Fragen an die Politik zu formulieren. Die von der Redaktion erfassten häufigsten Fragen können in Interviews mit Kandidierenden oder nach den Wahlen als Agenda veröffentlicht werden. Dieses Konzept ist auch für kleinere Redaktionen geeignet, die die Fragen kostengünstig über Google Forms oder persönlich in Gruppendialogen einsammeln können – ein Weg, den „Richland Source“, ein lokales Medienhaus in Mansfield im US-Bundesstaat Ohio, erfolgreich beschritten hat.
Brittany Schock, Engagement & Solutions Editor bei „Richland Source“, sagte in einem Interview: „Wir haben die Rolle von Vermittler*innen übernommen“ – um an Politiker*innen weiterzugeben, was Bürger*innen interessiert.
Guter Journalismus nutzt viele Perspektiven
Auch ein Projekt aus Deutschland zeigt, wie sinnvoll es ist, neue Perspektiven journalistisch einzubeziehen. Bei der Berichterstattung über mangelnde Kitaplätze brachte das „karla Magazin“ aus Konstanz neben Fachleuten auch Familien mit Kindern an den Tisch eines Dialogformates. Die Redaktion überprüfte anschließend, wie das Format in der lokalen Politik ankam. „karla“-Gründer Michael Lünstroth sagte in einem Interview: „Mit den Vorschlägen wurde in der Kommunalpolitik weitergearbeitet. Man sieht, da ist eine Veränderung angestoßen worden.“
Denn nicht nur Eltern wollen ihre Perspektive auf Kitakosten oder Betreuungszeiten mitteilen. Auch Journalist*innen sind meiner Meinung nach im Vorteil, wenn sie ihre Beiträge aus dem Blickwinkel verschiedener Zielgruppen angehen. Es geht also nicht um die schnelle Story, sondern um ein Umdenken bei der Recherche.
Andere Expert*innen wie der britische Journalist und Forscher Shirish Kulkarni möchten den Journalismus radikaler verändern. Er sagt, dass sich marginalisierte Gruppen durch strukturellen Rassismus in den „Mainstream-Medien“ falsch dargestellt sähen und daher kein Vertrauen in den Journalismus hätten. Sein Projekt „News for All“ in South Wales in Zusammenarbeit mit der BBC empfiehlt daher ein langfristiges und tiefgehendes Zuhören auf Augenhöhe.
Guter Journalismus hört zu – drei Ansätze
- Für einen erfolgreichen Dialog bedarf es neben aufgeschlossenen Journalist*innen der umsichtigen Moderation, die für Diskriminierungsformen sensibel ist. Dies ist insbesondere wichtig, wenn es um marginalisierte Gruppen in der Gesellschaft geht.
- Beim Dialog auf Augenhöhe bringen die Teilnehmenden ihre Fragen, Erfahrungen und Erwartungen ein. Respektieren Journalist*innen dies, können sie ihre Berichterstattung nicht nur bereichern, sondern Vertrauen aufbauen.
- Die Rolle der Medienleute verändert sich: Journalist*innen ermöglichen Dialog und vermitteln. Beispiel Wahlen: Medien transportieren Fragen und gegebenenfalls Vorschläge und Lösungsansätze von Bürger*innen in die Öffentlichkeit.
Das sind drei zentrale Ableitungen aus meinem Forschungsvorhaben. Dessen Erkenntnisse und Annahmen erproben die Lokalredaktionen der „Märkischen Oderzeitung“ in Frankfurt (Oder) und der „Lausitzer Rundschau“ in Cottbus. Die Herausforderung, dass viele Menschen gar nicht mehr mit den Medien reden wollen, haben die Teams dabei überwunden: Sie setzen auf Vertrauenspersonen vor Ort, die bei Dialogen mit bestimmten Zielgruppen, darunter Studierende, Senior*innen und Jugendliche, vermitteln.
Mercator Fellowship
Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxisvorhaben zu widmen. Zielgruppe sind herausragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Praxis, die zu spezifischen Fragestellungen mit Bezug zu den Themen und Handlungsfeldern der Stiftung Mercator arbeiten.