„Angst ist die größte Herausforderung für unsere Demokratien“
Rechtsstaatlichkeit ist eine der Grundlagen unserer Demokratie. Doch in vielen europäischen Ländern ist sie in Gefahr. Jennifer Orlando-Salling und Marcin Mrowicki erforschen, wie sich die Rechtsstaatlichkeit in Europa verändert. Sie nutzt einen historischen Ansatz, er seinen praktischen Blick aus dem Justizwesen. Im Rahmen eines Workshops in Berlin diskutierten die beiden, woraus sie Hoffnung für die Demokratie schöpfen und wie politisch Forschung sein darf. AufRuhr hat sie begleitet.
Berlin-Grunewald. Mildes Herbstlicht lässt die bunten Baumkronen vorm Fenster leuchten. Drinnen, im Seminarraum des Forums Transregionale Studien, wurde in den vergangenen drei Tagen viel nachgedacht. Inmitten von Flipcharts und Karteikarten soll es jetzt noch einmal ernst werden: Ein gutes Dutzend Rechtsexpert*innen aus ganz Europa diskutiert, ob Forschung eine gesellschaftliche Wirkung haben muss oder zumindest darauf abzielen sollte. Eine dieser großen Grundsatzfragen – und das direkt nach dem Lunchbuffet.
„Ich war immer ein Praktiker, das ist mir wichtig“, sagt Marcin Mrowicki. Er ist als Anwalt im polnischen Justizministerium tätig und lehrt an der Universität Warschau. „Es ist sinnlos, Forschung ohne sozialen Impact zu betreiben“, ist er überzeugt. In friedlichen Zeiten könne Wissenschaft im Elfenbeinturm stattfinden, doch „in Krisenzeiten müssen wir Verantwortung übernehmen – auch wenn das risikoreich für unsere Neutralität sein kann“.
Sollten Wissenschaftler*innen also öffentlich Position beziehen, gar politisch sein? Die Runde ist unentschieden. Schließlich liege es im Wesen von Wissenschaft, etabliertes Wissen stets zu hinterfragen, wendet jemand ein. Jennifer Orlando-Salling sieht darin keinen Widerspruch. „Als Forscher*innen sollten wir Position beziehen und sie falls nötig auch ändern“, sagt sie. „Wichtig ist dabei, immer so ehrlich und transparent wie möglich zu sein.“ Jennifer Orlando-Salling ist Malteserin und forscht an der Universität Kopenhagen. Sie meint: „Wissen ist immer politisch, und Schweigen ist nicht neutral. Schweigen bedeutet Einverständnis.“
Der Rechtsstaat als koloniales Erbe
Die Diskussion zum Thema „Impact“ nähert sich dem Ende. Es war der letzte von acht Workshops, die den Auftakt des Programms „re:constitution“ bildeten. Erschöpfte, aber beseelte Gesichter der Fellows. Jede*r von ihnen beschäftigt sich mit einem Forschungsthema, bei Jennifer Orlando-Salling ist es die Schnittstelle von Dekolonialität und Rechtsstaatlichkeit. Malta ist seit 60 Jahren unabhängig von Großbritannien, doch die Spuren der Kolonialherrschaft lassen sich noch heute nachverfolgen, auch im Rechtssystem. „Wir müssen die Auseinandersetzung mit Rechtsstaatlichkeit immer im Kontext der Gesellschaft sehen, in die sie eingebettet ist“, sagt sie. „Dazu müssen wir auch betrachten, welche Geschichten sich eine Gesellschaft über sich selbst erzählt und wie bestimmte Gruppen davon ausgeschlossen werden.“
Wer vom Recht gesehen wird und Zugang dazu hat, das ist für die Rechtswissenschaftlerin eine der zentralen Fragen ihrer Forschung. Das Anti-Abtreibungsgesetz in Malta etwa gehört zu den strengsten weltweit. Abtreibungen sind dort nur legal, wenn das Leben der Frau akut gefährdet ist. Für Jennifer Orlando-Salling ist dies nicht nur ein institutionelles Problem, sondern ein Beispiel dafür, wie traditionelle Vorstellungen von Recht auf unterschiedliche Weise auf die Gesellschaft wirken. Mangelnder rechtlicher Zugang kann auch Ungleichheit und Marginalisierung verstärken. Sie sagt: „Man muss sich mit der rechtsstaatlichen Infrastruktur historisch auseinandersetzen, um sie reformieren zu können.“
Rechtsprechung muss unabhängig und verbindlich sein
Einen anderen Forschungsschwerpunkt hat Marcin Mrowicki gewählt. Er analysiert Überprüfungsverfahren von Richter*innen in verschiedenen Ländern und welche Lektionen sich daraus für sein Heimatland Polen ableiten lassen. Nach einer Justizreform der nationalkonservativen PiS-Regierung wurden mehr als 2.500 Richter*innen vom Nationalen Justizrat unrechtmäßig ernannt. Der Prozess wurde von einer überwiegenden Mehrheit der polnischen Richter*innen zwischen 2018 und 2024 boykottiert. Nun ist die Regelung des Status der Neo-Richter*innen eine entscheidende Herausforderung für die neue Regierung.
Ohne eine starke, unabhängige Justiz gibt es keine freiheitliche Demokratie und keine Rechtsstaatlichkeit.
„Diese Ernennungspraxis ist ein sehr großes Problem für die Rechtsstaatlichkeit in Polen“, sagt Marcin Mrowicki. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Gerichtshof der Europäischen Union haben geurteilt, dass die Rechtsprechung durch derart besetzte Gerichte nicht im Einklang mit dem EU-Recht steht. Eine Scheidung etwa, die durch eine*n sogenannte*n Neo-Richter*in beschlossen wurde, wird von einem anderen Gericht möglicherweise nicht respektiert. Dadurch haben Bürger*innen keine Rechtssicherheit. „Ohne eine starke, unabhängige Justiz gibt es keine freiheitliche Demokratie und keine Rechtsstaatlichkeit“, sagt Marcin Mrowicki.
Europäische Demokratien – können wir optimistisch sein?
Im Gespräch der beiden Fellows wird deutlich: Rechtsstaatlichkeit ist nicht selbstverständlich, weder in Malta noch in Polen oder generell in Europa. „Angst ist für mich die größte Herausforderung für unsere Demokratien“, sagt Jennifer Orlando-Salling. „Die Angst vor Vielfalt und Unterschieden führt zur Spaltung unserer Gesellschaften.“ Marcin Mrowicki sieht im Aufstieg von populistischen Parteien und in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine die größte Gefahr für europäische Demokratien: „Nur wenn die Ukraine unabhängig bleibt, bleibt auch Europa frei.“
Schwere Themen waren das zum Abschluss des Tages. Noch eine Frage an die beiden Fellows: Sind sie trotz allem optimistisch? Marcin Mrowicki lächelt: „Die demokratische Mobilisierung, die wir im vergangenen Jahr in Polen erlebt haben, macht mir viel Hoffnung. Wir müssen für unsere Werte kämpfen.“ Jennifer Orlando-Salling ergänzt: „Ich bin eine optimistische Person, auch wenn es nicht immer leicht ist. Wir müssen Geduld haben und als Gesellschaft Brücken bauen, statt sie einzureißen.“
Es ist spät geworden in Berlin-Grunewald. Die Sonne steht inzwischen tief, doch sie hat noch etwas Kraft. Marcin Mrowicki hat gleich eine Verabredung. Jennifer Orlando-Salling möchte den Abend für Sightseeing nutzen. Am Montag wird der Kampf um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie weitergehen – mit den Mitteln der Wissenschaft.
re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe
Das Programm „re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe“ wird gemeinsam vom Forum Transregionale Studien und von Democracy Reporting International veranstaltet und von der Stiftung Mercator gefördert. Es zielt darauf, die Vernetzung zwischen Rechtspraktiker*innen und -wissenschaftler*innen in Europa zu unterstützen und fördert grenzüberschreitenden Austausch, Debatten und die berufliche Weiterentwicklung von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa.
www.reconstitution.eu/en/home