Middle Power Brasilien: „Was wir wollen, ist eine multipolare Welt“
Am 18. und 19. November 2024 treffen sich die führenden Industrienationen zum G20-Gipfel in Rio de Janeiro. Middle-Power-Staaten wie Brasilien spielen dabei eine zentrale Rolle. AufRuhr hat mit Feliciano de Sá Guimarães, Professor am Institut für Internationale Beziehungen der Universität São Paulo, über Brasiliens künftigen Einfluss in der internationalen Gemeinschaft gesprochen. Und über die Auswirkungen für die EU.
Herr de Sá Guimarães, Brasilien wird oft als Middle Power, als mittelgroße Macht bezeichnet. Was halten Sie von diesem Begriff?
Das Konzept der mittelgroßen Macht wird in Brasilien kontrovers diskutiert. Viele unserer Politiker*innen sehen unser Land in der Tat als eine Mittelmacht. Andere sind wiederum der Meinung, dass diese Kategorie für Brasiliens tatsächliche Macht in der Welt nicht ausreicht.
Was ist eine Mittelmacht?
„The Canadian Encyclopedia“ definiert eine Mittelmacht oder eine „Middle Power“ als einen Staat, der auf der Weltbühne weniger Einfluss ausübt als eine Supermacht. Während Supermächte wie die USA oder China einen großen Einfluss auf andere Länder haben, besitzen Mittelmächte wie Brasilien, Kanada oder Belgien einen mäßigen Einfluss auf das internationale Geschehen.
Welche Rolle spielt diese Einteilung in der Politik?
Ob Brasilien als Mittelmacht oder als aufstrebende Macht eingestuft wird, hängt weitgehend von der Perspektive und der strategischen Vision der amtierenden Regierung ab. Die linke Arbeiterpartei unter Präsident Lula da Silva lehnt die Bezeichnung „Mittelmacht“ entschieden ab. Stattdessen positioniert sie Brasilien als aufstrebende Macht. Immerhin ist Brasilien das fünftgrößte Land der Welt und rangiert an achter oder neunter Stelle der größten Volkswirtschaften. Diese Selbstwahrnehmung zeigt die Ambitionen Brasiliens, eine führende Rolle auf der Weltbühne zu spielen und sich für Reformen in multilateralen Institutionen wie G20 sowie für eine gerechtere Weltordnung einzusetzen.
In den USA und anderen Ländern würden viele solche Ambitionen eher dem rechten politischen Spektrum zuordnen.
Das stimmt, allerdings war die Bolsonaro-Regierung so eng mit Trump und der extremen Rechten der USA verbunden, dass sie die Welt nicht mehr anhand der eigenen nationalen Machtkapazitäten eingeteilt hat. Für Menschen wie Bolsonaro oder Trump ist die Welt in Konservative und Globalist*innen gespalten. Diese Kategorisierung zählt durchaus zu den Verschwörungsnarrativen. Zu den Globalist*innen gehören demnach das kommunistische China, die Linke in Brasilien oder Europa und natürlich alle internationalen Institutionen, einschließlich der Vereinten Nationen. Sie verschwören sich angeblich, um Brasiliens konservative Geschichte zu zerstören.
Was passierte, nachdem Trump abgewählt wurde?
Nachdem Biden Trump geschlagen hatte, haben sich Brasilien und die USA ein gutes Stück entfremdet. Bolsonaro änderte zudem Brasiliens Haltung zu Wladimir Putin, weil er dort ebenfalls eine konservative Regierung sah. Unter der Bolsonaro-Regierung gab es also nie die Vorstellung, dass Brasilien eine Mittelmacht oder eine aufstrebende Macht ist.
Feliciano de Sá Guimarães ist akademischer Direktor und Senior Researcher am Brasilianischen Zentrum für Internationale Beziehungen (CEBRI) in Rio de Janeiro. Derzeit ist Guimarães außerordentlicher Professor am Institut für Internationale Beziehungen der Universität von São Paulo. Außerdem ist er Chefredakteur des CEBRI Journals. Für den European Council on Foreign Relations (ECFR) ist Feliciano de Sá Guimarães als brasilianischer Partner tätig.
https://www.iri.usp.br/br/pessoas/professores/feliciano-de-sa-guimaraes
Glauben Sie, dass Trumps Wiederwahl dies ändert?
Die Wiederwahl Donald Trumps gibt den Rechtsextremen, Jair Bolsonaro und seinen politischen Verbündeten, in Brasilien zweifelsohne Auftrieb. Schon vor der US-Wahl hat Bolsonaro damit begonnen, Trumps möglichen Sieg für sich zu nutzen – als Signal dafür, dass auch er bei den brasilianischen Parlamentswahlen 2026 erfolgreich sein könnte. Allerdings sollte man Trumps Einfluss auf die brasilianische Innenpolitik nicht überbewerten. Immerhin wird die politische Landschaft Brasiliens von einer Reihe interner Faktoren geprägt. Lula bleibt dank seiner Regierungsbilanz und einer starken politischen Basis der Favorit bei den kommenden Wahlen.
Und wie ist Ihre persönliche Einschätzung?
Meiner Meinung nach befinden wir uns irgendwo dazwischen. Das Streben nach größerem Einfluss auf das Weltgeschehen ist sehr kostspielig, und die bisherigen Versuche Brasiliens waren oft mit erheblichen Herausforderungen und Rückschlägen verbunden. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist eine Erklärung des Iran aus dem Jahr 2010. Damals vermittelten Brasilien und die Türkei ein Abkommen über den Austausch von Kernbrennstoffen mit dem Iran. Brasilien konnte sich jedoch nicht gegen die Großmächte, insbesondere die USA, durchsetzen.
Welche Rolle kann Brasilien in der Welt spielen?
Brasilien rühmt sich damit, keine Feinde zu haben. 1864 bis 1870 waren wir das letzte Mal in einen regionalen Krieg verwickelt, das war während des Tripel-Allianz-Krieges. Allerdings stellt uns die heutige globale Situation vor große Herausforderungen. Besonders die Spannungen zwischen China und den USA werden sich mit Donald Trump wahrscheinlich weiter verschärfen. Hier wird Brasilien voraussichtlich an seiner langjährigen Tradition der Neutralität festhalten. Eine zu enge Parteinahme würde Brasiliens Wirtschaftsbeziehungen mit beiden Mächten gefährden und außerdem seine strategische Autonomie einschränken.
Brasilien strebt nicht danach, die bestehende internationale Ordnung zu zerschlagen.
Aber Brasilien ist BRICS-Mitglied, arbeitet also aktiv mit China zusammen – und auch mit Russland.
Es ist richtig, dass Brasilien mit beiden Staaten zusammenarbeitet und seine wirtschaftlichen Beziehungen zu China und Russland seit der Gründung von BRICS exponenziell gewachsen sind. Doch die derzeitigen internationalen Institutionen sind nicht so strukturiert, dass sie den Interessen Brasiliens wirklich dienen. Sie zu reformieren, ist daher dringend notwendig. Und lassen Sie mich diesen Punkt betonen: Brasilien strebt nicht danach, die bestehende internationale Ordnung zu zerschlagen. Was wir fordern, ist eine gerechtere Vertretung: mehr Mitspracherecht, einen ständigen Sitz an den wichtigsten Verhandlungstischen und den Einfluss, der der Größe Brasiliens, seiner Wirtschaft und seinem Beitrag zur Weltpolitik entspricht.
Trotzdem wird das BRICS-Bündnis vom Westen teils als Provokation wahrgenommen.
Was das angeht, müssen wir sehr vorsichtig sein. Als Mitglied dürfen wir nicht zulassen, dass sich BRICS zu einer antiwestlichen Koalition entwickelt. Es gibt mehrere BRICS-Versionen innerhalb von BRICS. Diejenige mit antiwestlichen Zügen ist nicht die brasilianische Version. Denn Brasilien wird für immer ein Partner des Westens bleiben.
Von den Europäer*innen würde ich gerne Verständnis für Brasiliens Haltung gegenüber Russland sehen.
Sie arbeiten mit dem European Council on Foreign Relations zusammen. Wie schätzen Sie die derzeitige Beziehung zwischen Brasilien und der EU ein?
Am wichtigsten ist der Abschluss des MERCOSUR-Abkommens. Die Europäische Union muss der Welt zeigen, dass sie gegenüber den Vereinigten Staaten eine strategische Autonomie behält. Unabhängig vom Abkommen pflegen wir schon jetzt viele gute bilaterale Beziehungen zu europäischen Staaten, zu Deutschland und Frankreich beispielsweise.
Was wünschen Sie sich von der EU?
Von den Europäer*innen würde ich gerne zwei Dinge sehen. Erstens: Wir wünschen uns mehr Verständnis für unsere Haltung gegenüber Russland. Viele Europäer*innen haben zu Beginn des Ukrainekrieges erwartet, dass wir auf der Seite der EU stehen. Brasilien hat versucht, ihnen zu vermitteln, dass wir die Invasion zwar offiziell verurteilen, aber niemals Waffen an die Ukraine verkaufen werden. Diese Entscheidung spiegelt unsere umfassendere Vision wider: Um eine wirklich multipolare Welt zu schaffen, ist Russlands Beteiligung unerlässlich.
Und wie lautet Ihr zweiter Wunsch?
Zweitens glaube ich, dass die EU Brasilien und Indien zu seinen Schlüsselpartnern unter den BRICS-Staaten machen sollte. Brasilien und Indien sind keine unbedeutenden Akteure der BRICS. Wir haben dort erheblichen Einfluss und können den Dialog mit Mitgliederstaaten fördern.
Und was möchte Brasilien?
Was streben wir letztendlich an? Eine multipolare Welt. Eine Welt, die die Vielfalt der globalen Perspektiven widerspiegelt und gerechte Chancen für Zusammenarbeit und Entwicklung bietet.
Re:Order | European Council on Foreign Relations
Der European Council on Foreign Relations (ECFR) ist ein 2007 gegründeter paneuropäischer Thinktank mit Büros in Berlin, London, Paris, Rom, Madrid, Sofia, Warschau und Washington. Ziel des ECFR ist es, europäische Sichtweisen in nationale politische Diskurse einzubringen und Perspektiven für eine gemeinsame europäische Außenpolitik aufzuzeigen.
Das “Middle Power Portrait” des European Council on Foreign Relations (ECFR) über Brasilien ist ab sofort verfügbar: https://ecfr.eu/publication/brazil-europes-bridge-to-the-global-south/