Rechtsstaatlichkeit: Hält sich die EU an ihre eigenen Prinzipien?
Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) sind zu Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Doch die Institutionen der EU würden ihren eigenen Prinzipien nur bedingt gerecht, sagt die Rechtswissenschaftlerin Barbara Grabowska-Moroz. Im Interview erklärt sie, wie Rechtspopulismus und mangelnde Rechtsstaatlichkeit zusammenhängen. Und was sich in der EU dringend ändern sollte.
Frau Grabowska-Moroz, Sie sind Direktorin der Rule of Law Clinic. Womit beschäftigen Sie sich?
Die Rule of Law Clinic ist ein Projekt des CEU Democracy Institute in Budapest. Unser Ziel ist es, das Konzept der Rechtsstaatlichkeit mit Leben zu füllen. Wir wollen zeigen, wie wichtig seine Umsetzung ist: Menschen erleiden unmittelbar darunter, wenn sie keinen Zugang zu einer Gerichtsbarkeit haben. Denken Sie beispielsweise an die Geflüchteten, die vom Frontex-Skandal betroffen waren, die LGBTQ+-feindlichen Gesetze in Ungarn oder die Migrationsabkommen mit Drittländern. Uns interessiert, wie die EU auf diese Entwicklungen reagiert.
Sie haben gerade einen Bericht herausgegeben, der genau das untersucht.
Unser Bericht ist eine Ergänzung zum jährlichen „Bericht über die Rechtsstaatlichkeit“, den die EU seit fünf Jahren veröffentlicht. Er hat 27 Kapitel – eines für jedes EU-Mitglied – und untersucht, wie es um die europäische Rechtsstaatlichkeit bestellt ist. Was jedoch fehlt, ist ein Kapitel über die EU selbst. Denn die EU hat sehr viel Macht. Aber niemand kontrolliert, wie gut sie sich als Institution an die eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien hält.
Barbara Grabowska-Moroz ist Senior Research Fellow und Direktorin der Rule of Law Clinic am CEU Democracy Institute in Budapest. Von 2018 bis 2021 war sie Postdoc-Forscherin im RECONNECT-Projekt der Universität Groningen. Davor arbeitete sie acht Jahre als Juristin und Projektkoordinatorin bei der Helsinki Foundation for Human Rights.
Zu welchem Ergebnis kommt Ihr Bericht?
Es ist viel Luft nach oben, kurz gesagt. Nehmen wir das Beispiel der Pressefreiheit. Die EU hat mit dem Europäischen Medienfreiheitsgesetz und der Anti-SLAPP-Richtlinie zum Schutz von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen neue rechtliche Standards gesetzt. Unklar ist aber, wie die EU ihren Mitgliedern hilft, diese Gesetze auch durchzusetzen. In Ländern wie Ungarn ist die Situation für Journalist*innen verheerend, doch die EU-Kommission hat am Europäischen Gerichtshof (EuGH) bisher erst ein einziges Verfahren wegen Verletzung der Pressefreiheit angestoßen.
In Ihrem Bericht kritisieren Sie auch die Migrationspolitik der EU. Warum?
2016 wurde das EU-Türkei-Abkommen geschlossen, auf dessen Basis Geflüchtete aus dem Mittleren Osten in der Türkei festgehalten wurden und die EU nicht betreten konnten. Menschen, die davon betroffen waren, wollten das Abkommen am EuGH anfechten. Das Gericht verweigerte dies mit dem Hinweis darauf, dass nicht die EU selbst den Vertrag geschlossen habe, sondern die Mitgliedsstaaten. Die politische Maßnahme kommt also von der EU, doch betroffene Personen können auf EU-Ebene nicht gerichtlich dagegen vorgehen.
Handelt es sich dabei um eine Verletzung der Menschenrechte?
Ja. Im Zuge dieser „weichen“ Abkommen, etwa mit der Türkei oder Tunesien, sendet die EU viele Fördergelder an Drittländer, ohne dass auf EU-Seite jemand für die Konsequenzen verantwortlich gemacht werden kann. In besagten Drittländern gab es Fälle von Menschenrechtsverletzungen, die mit EU-Geldern finanziert, aber nicht juristisch verfolgt wurden. Ein weiteres Beispiel ist der sogenannte Frontex-Skandal: Die EU-Grenzschutzagentur war an illegalen Pushbacks von Geflüchteten beteiligt, ohne dass es rechtliche Konsequenzen gab.
Es fehlt aktuell an politischem Willen, Rechtsstaatlichkeit zu priorisieren.
Die Rechtsstaatlichkeit auf EU-Ebene ist also nicht garantiert. Wie kann das sein?
Die EU kann auf dem Papier die besten Gesetze haben – wenn sie nicht durchgesetzt werden, haben sie keinen Wert. Es fehlt aktuell an politischem Willen, Rechtsstaatlichkeit zu priorisieren, vor allem bei den EU-Kommissar*innen, aber auch bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten. Wenn die Rechtsstaatlichkeit verletzt wird, könnten zum Beispiel nach Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union Rechte von EU-Mitgliedern eingeschränkt werden. Doch dies passiert kaum.
Ein solches Verfahren wurde 2022 gegen Ungarn gestartet. Die Regierung unter Viktor Orbán hatte Gesetze verabschiedet, die sich gegen die LGBTQ+-Community richteten.
Wir sehen, dass die EU-Mitgliedsstaaten entscheiden, ob ein Verfahren beim EuGH angestrengt wird. Und das hängt stark vom aktuellen politischen Willen ab. Zudem weist das Beispiel von Ungarn auf ein weiteres Problem hin: Im November 2024 fand dazu eine Anhörung am EuGH statt – zwei Jahre, nachdem die Anti-LGBTQ+-Gesetze verabschiedet worden sind. Die EU ist den Regierungen, die Regeln verletzen, immer einige Schritte hinterher.
Inwieweit halten EU-Institutionen die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit ein? Der Bericht der Rule of Law Clinic hat es untersucht.
Neben Ungarn erleben populistische Parteien auch in anderen europäischen Ländern starken Zuspruch. Gibt es einen Zusammenhang mit der Krise der Rechtsstaatlichkeit?
Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Demokratie sind sehr eng miteinander verbunden. Wenn eines dieser Elemente fehlt oder untergraben wird, dann wirkt sich das auch auf die anderen aus. In Ungarn beispielsweise beeinflussen Anti-LGBTQ+-Gesetze das Leben der Menschen. Menschen, die ihnen ausgesetzt sind, können jedoch nicht den EuGH anrufen. Denn Einzelpersonen können am EuGH nur Klagen gegen EU-Institutionen, nicht aber gegen EU-Mitgliedsstaaten oder andere Personen vorbringen. Man sieht: Rechtspopulistische Politik und mangelnde Rechtsstaatlichkeit hängen zusammen.
Was muss sich ändern?
Grundsätzlich sind Änderungen des EU-Vertrages nötig, allerdings brauchen wir dafür politischen Willen, der aktuell nicht vorhanden ist. Das hat auch mit dem Aufstieg rechtspopulistischer Regierungen zu tun. Gleichzeitig muss Rechtsstaatlichkeit im täglichen Geschäft der EU-Institutionen stärker durchgesetzt werden. Die EU-Kommission sollte ständig verfolgen, inwieweit die Mitgliedsstaaten dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gerecht werden, und bei Verletzungen schneller reagieren – notfalls mittels des Artikels 7. Es reicht nicht, einen jährlichen Bericht mit Empfehlungen herauszugeben – die Empfehlungen müssen auch umgesetzt werden.
CEU Democracy Institute
Das Democracy Institute (DI) der Central European University (CEU) etabliert in Zusammenarbeit mit der Beratungsorganisation „The Good Lobby Profs“ eine Rule of Law Clinic. Diese soll durch konkrete Prozessinterventionen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Öffentlichkeit für prinzipielle rechtsstaatliche Implikationen einzelner Verfahren schaffen. Das Ziel ist es, Personen, die sich in Wissenschaft und Praxis für die Rechtsstaatlichkeit einsetzen, zu vernetzen und zu stärken sowie Entscheider*innen zu informieren und einen wesentlichen Beitrag zum Rechtsstaatlichkeitsdiskurs zu leisten.