„Der EU-Ministerrat ist eine demokratische Blackbox“

Wer vergibt EU-Gelder, an wen und wofür? Von außen sind die Prozesse schwer nachzuvollziehen.
„Der EU-Ministerrat ist eine demokratische Blackbox“
Autor: Jan Eijking Illustrationen: Tobias Wandres 10.06.2025

Korruptionsskandale wie Qatargate oder die geheimen Chat­ver­handlungen zwischen der EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen und dem US-Pharma­konzern Pfizer haben das Vertrauen in die Europäische Union (EU) erschüttert. Doch es gibt Bewegung: Die Anti­korruptions­organisation Transparency International setzt sich dafür ein, die Regeln für Transparenz und Rechen­schaft in Brüssel zu verschärfen. Nicholas Aiossa, Leiter des EU-Büros der NGO, erklärt, wie die EU mit klaren Standards wieder mehr demokratische Glaub­würdigkeit gewinnen kann.

Herr Aiossa, Sie sind Leiter des EU-Büros von Transparency Inter­national. Was macht Ihre NGO in Brüssel?

Als Watchdog-Organisation wollen wir Korruption bekämpfen, den Rechts­staat stärken und illegale Finanz­flüsse eindämmen. In Brüssel sind wir so etwas wie eine Botschaft für die „Transparency International“-Bewegung – wir beobachten, analysieren und fordern Reformen, wenn EU-Institutionen ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.

Was für Reformen zum Beispiel?

Nach jahrelangem Druck unserer­seits hat sich die Transparenz in Bezug auf Lobby­arbeit deutlich verbessert. Seit 2015 müssen Lobby­treffen mit Kommissions­beamt*innen öffentlich gemacht werden, seit 2023 auch alle Treffen zwischen EU-Abgeordneten und Lobbyist*innen. Unsere Plattform EU Integrity Watch sammelt diese Daten, sodass Bürger*innen sich selbst einen Einblick verschaffen können.

Es steht auch der Vorwurf im Raum, dass EU-Gelder verschwendet würden. Wo sehen Sie hier die größten Miss­stände?

Ein zentrales Problem ist die miss­bräuchliche Verwendung von Förder­mitteln, etwa in Ungarn, wo öffentliche Gelder zum Beispiel in eine Brücke ins Nirgendwo fließen oder politischen Netz­werken um Minister­präsident Viktor Orbán zu­gute­kommen. Die EU hat darauf mit Ermittlungen der Europäischen Staats­anwaltschaft und Instrumenten wie der sogenannten Konditionalitäts­verordnung reagiert, in deren Zuge Mittel aus­gesetzt wurden – ein wichtiger Schritt nach vorn.

Nicholas Aiossa
© Transparency International EU

Nicholas Aiossa ist Direktor von Transparency International EU. Seit 2014 ist er für die NGO tätig und hat eine Reihe von Kampagnen von Transparency Inter­national für die EU-Gesetz­gebung koordiniert. Dazu gehörte die erfolg­reiche Verabschiedung der EU-Whistle­blower-Richt­linie und der Konditionalitäts­verordnung zur Rechts­staatlichkeit. Darüber hinaus hat er das Team für politische Integrität geleitet, das sich auf die Verbesserung der Ethik­regelungen der EU-Institutionen konzentriert.

Gibt es auch Probleme innerhalb der EU-Institutionen?

Absolut. Abgeordnete des EU-Parlamentes erhalten zum Beispiel eine allgemeine Ausgaben­pauschale von rund 5.000 Euro im Monat – ohne Beleg­pflicht. Das ergibt, auf alle Parlamentarier*innen gerechnet, etwa 40 Millionen Euro im Jahr. Die Summe ist relativ betrachtet zwar nicht besonders groß, trotzdem verursacht so etwas einen ernst­haften Rufschaden. Die Standards, deren Einhaltung die EU von Ländern wie Ungarn einfordert, gelten offenbar nicht für das eigene Haus.

Ein anderes Beispiel: Einige Abgeordnete haben lukrative Neben­jobs bei Firmen, die sie gleich­zeitig regulieren. So gibt es etwa Parlamentarier*innen, die im Aufsichts­rat großer Unternehmen sitzen, von denen sie direkt profitieren. Sie bringen Änderungs­anträge ein, die diesen Unternehmen nutzen. Wir finden das skandalös, doch für viele Abgeordnete ist das völlig normal geworden. Dabei könnten Neben­jobs schlicht verboten werden.

Wer entscheidet über den Haushalt der EU?

Der Haushalt wird in drei Haupt­schritten beschlossen. Zunächst gibt es den „mehr­jährigen Finanz­rahmen“ (MFR), der in der Regel sieben Jahre gilt und Haushalts­prioritäten setzt. In einem zweiten Schritt werden spezifische Haushalts­programme beschlossen – etwa Horizont Europa, das zentrale Forschungs- und Innovations­programm der EU. Die EU-Kommission macht dazu einen Vorschlag, der an die beiden Mit­gesetz­geber – den Rat der Europäischen Union mit Minister*innen der Mitglieds­länder und das Europäische Parlament – geht. Dabei kommt eine Reihe konkreter Finanz­instrumente heraus, unter anderem Zuschüsse beziehungs­weise Grants, also direkte Zahlungen an entsprechende Projekte. Im dritten Schritt folgt dann der jährliche Haushalt.

Wer bringt Licht ins Dunkel der EU-Prozesse?
Wer bringt Licht ins Dunkel der EU-Prozesse? © Tobias Wandres

Ist der Prozess Ihrer Meinung nach transparent genug?

Im Europäischen Parlament ist die Entscheidungs­findung relativ transparent: Von außen sind Debatten, Änderungs­anträge oder Abstimmungen nach­voll­zieh­bar. Ganz anders sieht es im Rat der Europäischen Union, dem Ministerrat, aus: Hier herrscht Intransparenz. Seine Prozesse sind eine Blackbox. Bürger*innen erfahren kaum, wie ihre nationalen Regierungen im Minister­rat verhandeln. Das untergräbt seine demokratische Verantwortung.

Wie steht es um das Vertrauen in die Institutionen der EU?

Skandale wie Pfizergate zeigen mangelnde Transparenz auf höchster Ebene. Die EU-Kommission hat Journalist*innen hier jahre­lang die Einsicht verweigert und behauptet, nicht im Besitz der SMS zu sein. Jetzt hat der Europäische Gerichts­hof gegen die EU-Kommission entschieden.

Wissen, wofür Institutionen öffentliches Geld ausgeben – das ist die Forderung von Transparency International.
Wissen, wofür Institutionen öffentliches Geld ausgeben – das ist die Forderung von Transparency International. © Tobias Wandres

Welche Rolle spielt Transparenz für die Fähigkeit der EU, angemessen auf politische Ereignisse wie den Ukraine­krieg oder Trumps Rückkehr ins Weiße Haus zu reagieren?

In Zeiten großer Unsicherheit über die transatlantische Zusammen­arbeit und eines allgemeinen Rechts­rucks braucht die EU neue Mechanismen. Daher auch die Diskussion über strategische Unabhängigkeit. Transparenz ist dabei fundamental: Wir können keine demokratische Debatte führen, wenn wir nicht wissen, was über­haupt zur Debatte steht. Sei es im Hinblick auf steigende Verteidigungs­aus­gaben oder auf einen möglichen Rückbau des Green Deal. Wir brauchen also neue Reform­impulse. Aber im Moment sehe ich keinen politischen Willen, sich ernsthaft mit diesen Fragen einer größeren Transparenz zu befassen.

Letzten Monat wurde die Debatte um EU-Förderungen für NGOs neu entfacht. Der Europäische Rechnungs­hof hat dabei einen Mangel an Transparenz kritisiert. Gibt es also auch Reform­bedarf bei den NGOs selbst?

Reformen sind notwendig, um die Transparenz und die Verwaltung der EU-Mittel zu verbessern. Aber diese Debatte wird derzeit politisiert. Der Europäische Rechnungs­hof hat NGOs heraus­gegriffen, obwohl die Probleme oft in den Förder­programmen liegen, nicht bei den Organisationen selbst. Wir befürworten stärkere Kontrollen, aber für alle Geld­empfänger, nicht nur NGOs. Leider wird das Thema derzeit benutzt, um zivil­gesell­schaftliche Akteure gezielt zu diskreditieren.

Zusammengefasst: Was schlagen Sie für die Zukunft der EU vor?

Strukturelle Reformen: ein Neben­job­verbot für Abgeordnete, eine Beleg­pflicht für Ausgaben­pauschalen, mehr Transparenz im Ministerrat, eine stärkere Kontrolle der Lobby­arbeit und klarere Ethik­regeln. Und vor allem: eine politische Führung auf Ebene der EU, die bereit ist, diese Reformen auch umzusetzen. Skandale wie Pfizergate und Qatargate können auch Chancen für Selbst­reflexion sein – wenn die EU sie ernst nimmt.


Transparency International EU

Transparency International EU ist Teil der globalen Anti­korruptions­bewegung Transparency International, die über 100 Orts­verbände in der ganzen Welt hat.

Die Aufgabe von Transparency International EU ist es, Korruption zu verhindern und Integrität, Transparenz und Rechen­schafts­pflicht in den Institutionen, der Politik und der Gesetz­gebung der Europäischen Union zu fördern. Das EU-Büro der globalen „Transparency Inter­national“-Bewegung setzt sich dafür ein, dass Entscheidungs­prozesse in den EU-Mitglieds­staaten offen, fair und frei von unzulässiger Einfluss­nahme sind.

transparency.eu