„Der EU-Ministerrat ist eine demokratische Blackbox“

Korruptionsskandale wie Qatargate oder die geheimen Chatverhandlungen zwischen der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem US-Pharmakonzern Pfizer haben das Vertrauen in die Europäische Union (EU) erschüttert. Doch es gibt Bewegung: Die Antikorruptionsorganisation Transparency International setzt sich dafür ein, die Regeln für Transparenz und Rechenschaft in Brüssel zu verschärfen. Nicholas Aiossa, Leiter des EU-Büros der NGO, erklärt, wie die EU mit klaren Standards wieder mehr demokratische Glaubwürdigkeit gewinnen kann.
Herr Aiossa, Sie sind Leiter des EU-Büros von Transparency International. Was macht Ihre NGO in Brüssel?
Als Watchdog-Organisation wollen wir Korruption bekämpfen, den Rechtsstaat stärken und illegale Finanzflüsse eindämmen. In Brüssel sind wir so etwas wie eine Botschaft für die „Transparency International“-Bewegung – wir beobachten, analysieren und fordern Reformen, wenn EU-Institutionen ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
Was für Reformen zum Beispiel?
Nach jahrelangem Druck unsererseits hat sich die Transparenz in Bezug auf Lobbyarbeit deutlich verbessert. Seit 2015 müssen Lobbytreffen mit Kommissionsbeamt*innen öffentlich gemacht werden, seit 2023 auch alle Treffen zwischen EU-Abgeordneten und Lobbyist*innen. Unsere Plattform EU Integrity Watch sammelt diese Daten, sodass Bürger*innen sich selbst einen Einblick verschaffen können.
Es steht auch der Vorwurf im Raum, dass EU-Gelder verschwendet würden. Wo sehen Sie hier die größten Missstände?
Ein zentrales Problem ist die missbräuchliche Verwendung von Fördermitteln, etwa in Ungarn, wo öffentliche Gelder zum Beispiel in eine Brücke ins Nirgendwo fließen oder politischen Netzwerken um Ministerpräsident Viktor Orbán zugutekommen. Die EU hat darauf mit Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft und Instrumenten wie der sogenannten Konditionalitätsverordnung reagiert, in deren Zuge Mittel ausgesetzt wurden – ein wichtiger Schritt nach vorn.

Nicholas Aiossa ist Direktor von Transparency International EU. Seit 2014 ist er für die NGO tätig und hat eine Reihe von Kampagnen von Transparency International für die EU-Gesetzgebung koordiniert. Dazu gehörte die erfolgreiche Verabschiedung der EU-Whistleblower-Richtlinie und der Konditionalitätsverordnung zur Rechtsstaatlichkeit. Darüber hinaus hat er das Team für politische Integrität geleitet, das sich auf die Verbesserung der Ethikregelungen der EU-Institutionen konzentriert.
Gibt es auch Probleme innerhalb der EU-Institutionen?
Absolut. Abgeordnete des EU-Parlamentes erhalten zum Beispiel eine allgemeine Ausgabenpauschale von rund 5.000 Euro im Monat – ohne Belegpflicht. Das ergibt, auf alle Parlamentarier*innen gerechnet, etwa 40 Millionen Euro im Jahr. Die Summe ist relativ betrachtet zwar nicht besonders groß, trotzdem verursacht so etwas einen ernsthaften Rufschaden. Die Standards, deren Einhaltung die EU von Ländern wie Ungarn einfordert, gelten offenbar nicht für das eigene Haus.
Ein anderes Beispiel: Einige Abgeordnete haben lukrative Nebenjobs bei Firmen, die sie gleichzeitig regulieren. So gibt es etwa Parlamentarier*innen, die im Aufsichtsrat großer Unternehmen sitzen, von denen sie direkt profitieren. Sie bringen Änderungsanträge ein, die diesen Unternehmen nutzen. Wir finden das skandalös, doch für viele Abgeordnete ist das völlig normal geworden. Dabei könnten Nebenjobs schlicht verboten werden.
Wer entscheidet über den Haushalt der EU?
Der Haushalt wird in drei Hauptschritten beschlossen. Zunächst gibt es den „mehrjährigen Finanzrahmen“ (MFR), der in der Regel sieben Jahre gilt und Haushaltsprioritäten setzt. In einem zweiten Schritt werden spezifische Haushaltsprogramme beschlossen – etwa Horizont Europa, das zentrale Forschungs- und Innovationsprogramm der EU. Die EU-Kommission macht dazu einen Vorschlag, der an die beiden Mitgesetzgeber – den Rat der Europäischen Union mit Minister*innen der Mitgliedsländer und das Europäische Parlament – geht. Dabei kommt eine Reihe konkreter Finanzinstrumente heraus, unter anderem Zuschüsse beziehungsweise Grants, also direkte Zahlungen an entsprechende Projekte. Im dritten Schritt folgt dann der jährliche Haushalt.

Ist der Prozess Ihrer Meinung nach transparent genug?
Im Europäischen Parlament ist die Entscheidungsfindung relativ transparent: Von außen sind Debatten, Änderungsanträge oder Abstimmungen nachvollziehbar. Ganz anders sieht es im Rat der Europäischen Union, dem Ministerrat, aus: Hier herrscht Intransparenz. Seine Prozesse sind eine Blackbox. Bürger*innen erfahren kaum, wie ihre nationalen Regierungen im Ministerrat verhandeln. Das untergräbt seine demokratische Verantwortung.
Wie steht es um das Vertrauen in die Institutionen der EU?
Skandale wie Pfizergate zeigen mangelnde Transparenz auf höchster Ebene. Die EU-Kommission hat Journalist*innen hier jahrelang die Einsicht verweigert und behauptet, nicht im Besitz der SMS zu sein. Jetzt hat der Europäische Gerichtshof gegen die EU-Kommission entschieden.

Welche Rolle spielt Transparenz für die Fähigkeit der EU, angemessen auf politische Ereignisse wie den Ukrainekrieg oder Trumps Rückkehr ins Weiße Haus zu reagieren?
In Zeiten großer Unsicherheit über die transatlantische Zusammenarbeit und eines allgemeinen Rechtsrucks braucht die EU neue Mechanismen. Daher auch die Diskussion über strategische Unabhängigkeit. Transparenz ist dabei fundamental: Wir können keine demokratische Debatte führen, wenn wir nicht wissen, was überhaupt zur Debatte steht. Sei es im Hinblick auf steigende Verteidigungsausgaben oder auf einen möglichen Rückbau des Green Deal. Wir brauchen also neue Reformimpulse. Aber im Moment sehe ich keinen politischen Willen, sich ernsthaft mit diesen Fragen einer größeren Transparenz zu befassen.
Letzten Monat wurde die Debatte um EU-Förderungen für NGOs neu entfacht. Der Europäische Rechnungshof hat dabei einen Mangel an Transparenz kritisiert. Gibt es also auch Reformbedarf bei den NGOs selbst?
Reformen sind notwendig, um die Transparenz und die Verwaltung der EU-Mittel zu verbessern. Aber diese Debatte wird derzeit politisiert. Der Europäische Rechnungshof hat NGOs herausgegriffen, obwohl die Probleme oft in den Förderprogrammen liegen, nicht bei den Organisationen selbst. Wir befürworten stärkere Kontrollen, aber für alle Geldempfänger, nicht nur NGOs. Leider wird das Thema derzeit benutzt, um zivilgesellschaftliche Akteure gezielt zu diskreditieren.
Zusammengefasst: Was schlagen Sie für die Zukunft der EU vor?
Strukturelle Reformen: ein Nebenjobverbot für Abgeordnete, eine Belegpflicht für Ausgabenpauschalen, mehr Transparenz im Ministerrat, eine stärkere Kontrolle der Lobbyarbeit und klarere Ethikregeln. Und vor allem: eine politische Führung auf Ebene der EU, die bereit ist, diese Reformen auch umzusetzen. Skandale wie Pfizergate und Qatargate können auch Chancen für Selbstreflexion sein – wenn die EU sie ernst nimmt.
Transparency International EU
Transparency International EU ist Teil der globalen Antikorruptionsbewegung Transparency International, die über 100 Ortsverbände in der ganzen Welt hat.
Die Aufgabe von Transparency International EU ist es, Korruption zu verhindern und Integrität, Transparenz und Rechenschaftspflicht in den Institutionen, der Politik und der Gesetzgebung der Europäischen Union zu fördern. Das EU-Büro der globalen „Transparency International“-Bewegung setzt sich dafür ein, dass Entscheidungsprozesse in den EU-Mitgliedsstaaten offen, fair und frei von unzulässiger Einflussnahme sind.