Ukraine: Zwölf Lügen und Legenden über das Land
Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit, lautet eine Weisheit, die sich derzeit auch im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt. Seit dem 24. Februar 2022 begleiten gezielte Desinformationen und Verschwörungserzählungen die ausgeweitete russische Aggression. Die Lügen verhindern den Friedensprozess in der Ukraine. AufRuhr deckt auf.
#Mythos 1: Der Krieg begann am 24. Februar 2022
„In der vergangenen Nacht ist geschehen, was viele Beobachter lange befürchtet hatten“, schreibt SPIEGEL Online am 24. Februar 2022 morgens um kurz vor sechs Uhr. „Wladimir Putin kündigte die Militäroperation in der Ukraine an. Nur wenige Minuten später ließ er seinen Worten Taten folgen.“ Eine Stunde später fasst ZEIT ONLINE zusammen: „Russland hat über mehrere Flanken einen Angriff auf die Ukraine gestartet. Aus Kiew und anderen ukrainischen Städten wird von Einschlägen berichtet.“ Ebenfalls etwa zu jener Zeit verkündet der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter: „Friedliche ukrainische Städte werden angegriffen. Dies ist ein Angriffskrieg.“
Drei Tage danach prägt Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz den Begriff der Zeitenwende. Denn Putins Aggression bedrohe, so Scholz, die Ordnung der Nachkriegszeit, die Welt sei nach dem Angriff nicht mehr dieselbe wie zuvor.
Es ist richtig, dass an jenem Donnerstag im Februar russische Bodentruppen in die Ukraine vordrangen. Sie rückten mit Panzern und schwerem Geschütz über die Grenzen – im Norden von Belarus, aus dem Osten von Russland und im Süden von der annektierten Halbinsel Krim aus. Sie brachten und bringen großes Leid über die etwa 45 Millionen Ukrainer*innen – und bis zum 23. Januar den Tod für 7.068 Zivilist*innen, darunter 438 Kinder, so eine Statistik der Vereinten Nationen.
Doch auch wenn der 24. Februar 2022 zu Recht in die Geschichtsbücher eingehen wird, begann Putins Krieg gegen sein Nachbarland viel früher – im Jahr 2014, genauer am 20. Februar 2014. Damals, nur zwei Jahre nach der Fußball-Europameisterschaft, die in der Ukraine und Polen stattgefunden hatte, und nachdem Demonstrierende auf dem Maidan-Platz in der Hauptstadt Kiew vergeblich eine Annäherung der Ukraine an Europa gefordert hatten, besetzten russische Milizen die Krim und entfachten einen Krieg im Donbass. Seine Invasion begründete Putin mit der Aussage, die Ostukraine gehöre historisch zu Russland.
#Mythos 2: Die Ukraine gehörte einmal zu Russland
Wer das sagt, könnte auch behaupten, der Großteil der Schweiz und Österreich gehörten historisch zu Deutschland, so der Historiker Gerd Koenen im NDR. „Russland war früher das Russländische Imperium, in dem die Russen als Ethnie, wenn wir sie überhaupt so definieren können, immer eine Minderheit waren wie in der Sowjetunion auch“, formuliert Publizist Koenen. Die Ukraine, die in ihrer Geschichte fast immer von fremden Mächten beherrscht wurde, geriet nach einer vorübergehenden Unabhängigkeit 1918, als das große zaristische Vielvölkerreich nach dem Ersten Weltkrieg auseinanderfiel,1921 unter die Vorherrschaft der kommunistischen Sowjetunion. Doch seit der Auflösung der UdSSR, als dessen Nachfolgestaat Russland gilt, ist die Ukraine ein selbstständiger Staat. Der Friedensprozess in der Ukraine galt bis vor kurzem als Vorzeigebeispiel.
#Mythos 3: Die Ukraine ist kein souveräner Staat
Putins Behauptung, die Ukraine sei gegen den Willen der Bevölkerung geschaffen worden und kein souveräner Staat, ist schlichtweg falsch. Denn als die Ukraine vor mehr als 30 Jahren, am 1. Dezember 1991, ein Referendum über ihre Unabhängigkeit abhielt, stimmten 90 Prozent der Wahlberechtigten für eine Zukunft der Ukraine in Europa. Auch auf der Krim und in der Stadt Sewastopol sagte mehr als die Hälfte der dort lebenden Menschen Ja zur Autonomie der Ukraine. Das Land ist damit ein souveräner Staat. Völkerrechtlich bedeutet dies, dass die Ukraine sowohl innerhalb ihres Staatsgebietes als auch in den internationalen Beziehungen über sich selbst bestimmen kann.
#Mythos 4: Die Übergangsregierung in Kiew ist 2014 durch einen Putsch an die Macht gelangt und besitzt daher keine Legitimation
Im Februar 2014 wurde der russlandfreundliche Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, im Zuge der Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew gestürzt. Damals wie heute behauptet der Kreml, die nachfolgende Regierung unter Petro Poroschenko und anschließend unter Wolodymyr Selenskyj, der 2019 mit 73 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt wurde, sei nicht rechtmäßig an die Macht der ukrainischen Politik gelangt. Doch eine klare Mehrheit der Ukrainer*innen unterstützte die damalige Entwicklung und Abkehr von Russland. Die Frage, ob der Sturz der Janukowitsch-Regierung legal war oder nicht, sei müßig, schreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung in einer Analyse von 2014: „Die Regierung Janukowitsch verlor ihre Legitimität spätestens durch ihr brutales Vorgehen gegen friedliche Demonstranten, ganz abgesehen von ihrem demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Agieren in den Jahren zuvor. Nach dem Umsturz hat das demokratisch gewählte ukrainische Parlament die neue Übergangsregierung mit überwältigender Mehrheit (371 von 417 Stimmen) bestätigt.“
#Mythos 5: Donezk und Luhansk haben sich selbst unabhängig von Russland zu Volksrepubliken erklärt
So heißt es immer wieder aus dem Kreml. Mit dieser Behauptung versucht Putin das Narrativ zu stärken, dass die Mehrzahl der in der Ukraine lebenden Menschen den Anschluss an die Russische Föderation befürwortet. Doch im Donbass stationiertes russisches Militärgerät, gefundene Pässe russischer Kämpfer*innen sowie ein Urteil eines russischen Gerichtes Ende 2021 in Rostow am Don, wonach es bei der Versorgung russischer Einheiten im Donbass mit Lebensmitteln zu Korruption gekommen war, sprechen dagegen. Ebenso ein Versprecher Sergej Lawrows im Jahr 2017: „Ich habe viel Kritik gelesen und gehört daran, dass wir uns in den Kampf im Donbass und in Syrien involviert haben“, sagte der russische Außenminister laut der Tagesschau. Ungeachtet internationaler Warnungen, hat Russland die Unabhängigkeit der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk am 21. Februar 2022 per Dekret anerkannt. Mit diesem Schritt wurde das Minsker Abkommen zur friedlichen Lösung von Konflikten laut der Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse „ad acta gelegt“. Es gebe keine Verhandlungsbasis mehr.
#Mythos 6: Russen droht in der Ukraine der Tod
Vor Russlands Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk behaupteten russische Staatsmedien, die ukrainische Regierung verübe dort einen Völkermord an russischen Menschen. Wie die ukrainischen Machthaber dies angestellt haben sollen, bleibt in diesem Narrativ unklar. Denn über das von Russland annektierte Gebiet im Osten hatte die ukrainische Führung seit 2014 keine Kontrolle mehr.
#Mythos 7: Die ukrainische Sprache ist ein russischer Dialekt
Als Hauptargument für die Aussage, die Ukraine sei kein eigenständiger Staat mit einer eigenen nationalen Identität, führt Putin wiederholt an, dass die ukrainische Sprache ein durch polnische Einflüsse veränderter Dialekt des Russischen sei. Dem widersprechen Sprachwissenschaftler*innen wie Imke Medoza oder Kostjantyn Tyschtschenko: Das Ukrainische stammt ihnen zufolge aus dem Urslawischen. Der Wortschatz des Ukrainischen ist dem des Belarussischen am nächsten (84 Prozent gemeinsamer Wortschatz). Danach folgen Polnisch (70 Prozent) und Slowakisch (68 Prozent) – und erst an vierter Stelle Russisch (62 Prozent), wie Kostjantyn Tyschtschenko 2010 ausführt.
Anmeldung zum Mercator Talk
Wenn Sie sich weiter mit dem Thema beschäftigen möchten, sind Sie am 2. März 2023 um 17 Uhr herzlich zum digitalen Mercator-Talk „Zuwanderung, Zusammenhalt und Zukunftsängste – der Krieg in der Ukraine und seine Folgen in Deutschland“ eingeladen.
Hier sprechen die Leiterin des Deutschen Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) Dr. Naika Foroutan sowie Laura-Kristine Krause, Geschäftsführerin von More in Common Deutschland. Moderiert wird die Podiumsveranstaltung von Louis Klamroth. Als Publikumsgäst*innen können Sie sich durch die Chatfunktion in die Veranstaltung einbringen.
Bitte melden Sie sich bis zum 2. März 2023 hier an.
#Mythos 8: Die Mehrzahl der Ukrainer*innen spricht Russisch
Der Kreml versucht die Invasion in die Ukraine als Befreiungsaktion für die russischsprachige Bevölkerung zu legitimieren. Tatsächlich aber ist die These, dass die Mehrheit der Ukrainer*innen Russisch spricht, als gezielte Desinformation zu werten. In einer im August 2022 durchgeführten Umfrage gaben drei Viertel der Befragten Ukrainisch und nur 19 Prozent Russisch als Muttersprache an. Die Erhebung zeigt außerdem, dass sich die Menschen über ihre Sprache von Russland distanzieren. Denn 41 Prozent der russisch- und zweisprachigen Personen sprechen seit Beginn des Krieges dauerhaft oder häufiger Ukrainisch.
#Mythos 9: Die Ukraine ist voller Nazis
Putin begründet seinen Angriffskrieg mit der Behauptung, die Ukraine befreien zu wollen – und zwar vom Joch der Nationalist*innen und Nazis, die einen Genozid am eigenen Volk verüben würden, an den Russen: „Nehmt die Macht in eure eigenen Hände! Es dürfte für uns leichter sein, uns mit euch zu einigen, als mit dieser Bande von Drogenabhängigen und Neonazis, die sich in Kiew niedergelassen und das gesamte ukrainische Volk als Geisel genommen hat“, erklärte Putin etwa in einer Fernsehansprache am 25. Februar 2022. Im Fokus des Narrativs der Entnazifizierung stehen vor allem die sogenannten Asow-Kämpfer, also jene Mitglieder eines von mehreren Freiwilligenbataillonen, die seit 2014 gegen prorussische Separatisten im Osten des Landes kämpfen.
Tatsächlich kommen einige Mitglieder aus der rechtsextremen Szene und sind entsprechend umstritten. Als aber Putin 2014 die Krim annektierte, wurden die Asow-Kämpfer in die ukrainische Armee eingegliedert und zunehmend entpolitisiert. Ob eine vollständige Abkehr von rechtem Gedankengut stattfand, wird unterschiedlich bewertet. Der Extremismusforscher Alexander Ritzmann sagt dazu im Deutschlandfunk: „Wenn man sagen würde, es gibt in der Ukraine besonders viele Neonazis, ist das auf jeden Fall Propaganda.“ In Russland gebe es nämlich viel mehr Neonazis als in der Ukraine. Entnazifizierung ist übrigens ein historischer Begriff, der auf die Politik der alliierten Siegermächte für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verweist, mit dem Putin seine aggressive Expansion in die Tradition des Kampfes gegen Nazideutschland stellen möchte.
#Mythos 10: Es gab „lebende Leichen“ in Butscha
Im März 2022 ermordeten russische Soldaten ukrainische Zivilist*innen in der Stadt Butscha, etwa 25 Kilometer von Kiew entfernt, und ließen die Menschen auf offener Straße liegen. Ein verstörender Anblick, die Bilder gingen um die Welt. Doch während die Ukraine von einem „absichtlichen Massaker“ sprach, wies der Kreml die Verantwortung zurück. Die Leichen seien gar nicht echt, die Vorwürfe eine Provokation: „Wer sind die Meister der Provokation? Natürlich die USA und die Nato“, so die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, in einem Fernsehinterview. Es handele sich um einen „erfundenen Angriff“, mit dem Ziel, Russland zu diskreditieren, erklärte Außenminister Lawrow gegenüber der Nachrichtenagentur TASS. Doch als Redakteur*innen der Deutschen Welle ein Video mit einer angeblich „lebenden Leiche“ analysierten, zeigte sich bei der Wiedergabe in hoher Auflösung: Der Eindruck einer Handbewegung entstand durch einen Wassertropfen auf der Frontscheibe des Wagens, vom dem aus die Straße in Butscha gefilmt wurde. Unabhängige Digital-Forensiker bestätigten dies, und die New York Times konnte mithilfe von Satellitenbildern beweisen, dass einige Leichen bereits seit dem 11. oder 19. März auf der Yablunska Straße in Butscha lagen. Auch hier verbreitet Russland also gezielt Lügen als Kriegsstrategie.
#Mythos 11: Die Ukraine forscht mit Unterstützung der USA an Biowaffen
Russische Desinformationskampagnen zu Biowaffen lassen sich bis in die Zeit der ehemaligen Sowjetunion zurückverfolgen. Wie bei diesen üblich, mischen sich auch beim Biowaffen-Mythos belegbare Fakten mit gezielten Lügen: So gibt es in der Ukraine zwar von US-amerikanischen und deutschen Regierungsmitteln unterstützte biologische Forschungslabore, die gefährliche Krankheitserreger untersuchen, etwa die in der Ukraine endemischen Erreger, die Milzbrand, Tularämie oder das Krim-Kongo-Fieber verursachen. Doch diese für den öffentlichen Gesundheitsschutz wichtige Forschung ist nicht gleichzusetzen mit der Entwicklung von biologischen Kampfstoffen. Zu Kriegsbeginn ließ die ukrainische Führung sogar gefährliche Krankheitserreger beseitigen. Sie folgte damit einem Ratschlag der Weltgesundheitsorganisation: Diese hatte gewarnt, dass andernfalls große Gefahr für die Bevölkerung drohe, wenn Labore beim russischen Vormarsch zerstört und die Erreger freigesetzt würden. Der Kreml wertete diese Vernichtung der Erreger jedoch als Zeichen illegaler Aktivität: Im UN-Sicherheitsrat im März 2022 beschuldigte Russland die USA, in der Ukraine Biowaffen entwickelt zu haben. Die westlichen Vertreter*innen im Sicherheitsrat kritisierten Russland, die Institution der Vereinten Nationen für eine Lügenkampagne zu missbrauchen.
#Mythos 12: Es gab Nazi-Symbole bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar
Während der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar im November und Dezember 2022 kursierte ein Video im Internet, in dem angeblich der arabische Nachrichtensender Al Jazeera darüber berichtet, dass drei betrunkene Ukrainer in Katar Nazi-Symbole verbreiteten. Wladimir Solowyow, ein russischer Propagandist und Journalist, teilte diesen Film auf seinem Telegram-Kanal, wo er ungefähr 400.000-mal abgerufen wurde. Diverse Faktenchecks, unter anderem von Al Jazeera, belegen jedoch, dass das Video ein Fake ist. Wie viele Behauptungen über ukrainische Nazis ist es frei erfunden.
Warum halten sich die Mythen und Legenden zum Krieg in der Ukraine?
Mit dieser Frage beschäftigt sich Wilfried Schubarth, der bis 2021 Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Potsdam war, in einem Artikel im Tagesspiegel. Allgemein geht er der Frage nach der Entstehung von Verschwörungsmythen nach in „Basiswissen Verschwörungsmythen. Ein Leitfaden für Lehrende und Lernende“, geschrieben mit Sophia Bock, erschienen 2021 im Kohlhammer Verlag.
Mercator Talk: Veranstaltungsreihe zur Ukraine
Der Mercator Talk am 2. März 2023 ist Teil einer Veranstaltungsreihe, die die Stiftung Mercator anlässlich des traurigen Jahrestages des flächendeckenden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine organisiert und die die verschiedenen Dimensionen des Krieges beleuchten soll.