Navigieren in unsicheren Zeiten: Vier Expert*innen teilen ihre Strategien

In der heutigen Welt ist es schwieriger denn je, die richtigen strategischen Entscheidungen zu treffen. Doch wie lässt sich mit dieser neuen Normalität umgehen? Beim Mercator Globe Forum in Essen vom 12. bis 14. März diskutieren Expert*innen, wie sie mit VUCA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) umgehen und in einer zunehmend chaotischen Welt handlungsfähig bleiben. Für AufRuhr haben Senem Aydin-Düzgit, Francesca Bria, Christian Hochfeld und Katarina Peranić erste Einblicke in ihr VUCA-Panel gewährt.
Bei welchem Ereignis haben Sie die Herausforderungen von VUCA besonders gespürt?
Katarina Peranić, Gründungsmitglied des Vorstandes, Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt
Am 24. Februar 2022, als russische Truppen in die Ostukraine einmarschierten, zeigte sich die VUCA-Welt mit voller Wucht: Die Informationslage änderte sich stündlich. Die Unsicherheit in Deutschland und Europa war enorm und die politische Lage komplex und mehrdeutig. Was damals half, waren Austauschformate. Wir starteten einen Twitter-Space, führten eine Blitzumfrage durch und organisierten eine Onlinekonferenz, um Bedarfe von Engagierten und Ehrenamtlichen aufzunehmen. Meine wichtigste Erkenntnis daraus ist: In unübersichtlichen Situationen sollten wir mehr zuhören als reden, Ängste ernst nehmen und pragmatische Lösungen finden.
Francesca Bria, Mercator Fellow
In meiner Arbeit bin ich ständig mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit konfrontiert – sei es beim Gestalten der europäischen Agenda für digitale Souveränität oder bei der Beratung von Regierungen. Die COVID-19-Krise hat uns gezeigt, wie abhängig Europa von ausländischen Technologien und fragilen Lieferketten ist. Aber auch, wie viel wir Europäer*innen erreichen können, wenn wir zusammenarbeiten.

Senem Aydin-Düzgit ist Professorin für Internationale Beziehungen an der Fakultät für Kunst- und Sozialwissenschaften der Sabancı University Istanbul und Direktorin des Istanbul Policy Centers. Sie ist zudem Non-Resident Fellow am Institute for European Policymaking der Bocconi University. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Identität, Geschichte und Diskurs in der internationalen Politik, mit einem empirischen Fokus auf die Außenpolitik Europas und der Türkei.
Senem Aydin-Düzgit, Professorin für internationale Beziehungen, Sabancı University Istanbul
Die größte VUCA-Herausforderung erlebte ich zu Beginn von COVID. Die Volatilität war hoch, da die Infektions- und Todesraten schwankten und die Notfallmaßnahmen sich ständig änderten. Ich bin Professorin an der Sabancı University Istanbul und war zum damaligen Zeitpunkt zudem akademische Koordinatorin des Istanbul Policy Centers – in beiden Funktionen musste ich gemeinsam mit meinem Team schnell Lösungen für komplexe Probleme finden. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass VUCA-Krisen auch Chancen bieten, wenn man agil, flexibel und im Team arbeitet.
Christian Hochfeld, Direktor, Agora Verkehrswende
Sich nicht zu entscheiden, weil alles volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig ist, ist auch eine Entscheidung – häufig eine schlechte. Das zeigte sich zum Beispiel beim Mobilitätsgipfel im Kanzleramt Ende 2023. Damals herrschte Einigkeit über das Ziel, dass es bis 2030 15 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen geben soll. Uneinigkeit bestand jedoch darüber, wie das erreicht werden kann. Also entschied man sich, nichts zu tun. Das Ergebnis zeigt, was beim Umgang mit VUCA nicht passieren sollte: Stillstand statt Fortschritt. Mit Folgen für das Klima, den Industriestandort Deutschland und die Mobilität der Zukunft.
Welche Strategien helfen Ihnen beim Umgang mit VUCA?
Christian Hochfeld
VUCA ist das neue Normal. Eine Strategie, die diesen Umstand außen vor lässt, kann heute nicht mehr erfolgreich sein. Deshalb ist es wichtig, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, die auf unterschiedlichen Szenarien aufbaut. Auch auf Szenarien, die uns noch vor wenigen Jahren unmöglich erschienen. Schwierig bleibt dabei, dass externe Störfaktoren immer größeren Einfluss nehmen. So wird Plan B zum Plan A, weil Plan A in unserer VUCA-Welt nicht eintreten wird. Das bleibt im Falle der Klimakrise oder der Zerstörung der Artenvielfalt unbefriedigend, da uns der Planet B für den Plan B fehlt. Hier hilft nur die globale Zusammenarbeit an langfristigen, widerstandsfähigen Lösungen, die möglichst viele Störfaktoren bereits berücksichtigen.

Francesca Bria ist Innovationsökonomin und Expertin für Digitalpolitik und arbeitet an der Schnittstelle von Technologie, Geopolitik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie ist Honorarprofessorin am UCL Institute for Innovation and Public Purpose in London und Mitglied des von der Präsidentin der Europäischen Kommission eingerichteten hochrangigen Round Table für das Neue Europäische Bauhaus. Derzeit ist sie Senior Fellow bei der Stiftung Mercator in Berlin, wo sie die EuroStack-Initiative zur digitalen Souveränität Europas leitet.
Francesca Bria
Um VUCA zu bewältigen, müssen wir langfristig in öffentliche digitale Infrastrukturen investieren. Das bedeutet, Alternativen zu privaten Cloud-, KI- und Plattformlösungen zu schaffen. Die EuroStack-Initiative macht es vor: Sie stärkt Europas technologische Autonomie, indem sie Techunternehmen, Politik und Finanzgeber*innen zusammenbringt.
Katarina Peranić
VUCA bietet Herausforderungen, denen wir mit Vision, Verständnis, Kommunikation und Agilität begegnen können. Ein Beispiel ist unsere Arbeit nach dem russischen Überfall auf die Ukraine: Eine klare Vision für die Rolle der Zivilgesellschaft, gegenseitiges Verständnis von Verwaltung, Stiftungen und Geflüchteten, offene Kommunikationsräume und eine agile, vernetzte Zusammenarbeit haben es ermöglicht, schnell Hilfe zu leisten. So entstand 2022 der Alliance4Ukraine-Fonds, der zivilgesellschaftliche Organisationen unbürokratisch unterstützte und später durch öffentliche Förderprogramme ergänzt wurde.
Senem Aydin-Düzgit
Die COVID-Pandemie war für mich eine extreme VUCA-Situation: hohe Unsicherheit, täglich wechselnde Bedingungen, keine klare Perspektive. Unsere Strategie am Istanbul Policy Center war Anpassung durch Flexibilität und Teamarbeit. Ein Beispiel ist unsere Webinar-Reihe „Pandemie und Gesellschaft“, die schnell eine breite internationale Zuhörer*innenschaft fand. Daraus entstand später ein Buch, das zentrale Erkenntnisse zusammenfasst. Die Krise hat uns gezeigt, dass Agilität und vernetzter Wissenstransfer essenziell sind.

Christian Hochfeld ist Direktor von Agora Verkehrswende. Davor leitete er bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) das Programm für Nachhaltigen Verkehr in China. Von 2004 bis 2010 war er Mitglied der Geschäftsführung des Öko-Instituts. Hochfeld ist Diplom-Ingenieur, an der Technischen Universität Berlin studierte er technischen Umweltschutz.
Welche Rolle spielen Netzwerke und Zusammenarbeit in einer zunehmend komplexen Welt?
Francesca Bria
Netzwerke zwischen demokratischen Regierungen, öffentlich-privaten Akteuren und Bürgerinitiativen sind unerlässlich, um in der heutigen Welt zu bestehen. Hierfür brauchen wir sektorübergreifende Zusammenarbeit, Wissensaustausch und eine digitale Transformation, die europäische Demokratien stärkt, anstatt Ungleichheiten zu vertiefen.
Senem Aydin-Düzgit
Netzwerke sind in einer multipolaren Welt unverzichtbar, denn traditionelle Allianzen stehen unter Druck, und liberale Demokratien werden herausgefordert. Die transnationale Zusammenarbeit wird deshalb immer wichtiger, um das Wohlergehen von Gesellschaft und Umwelt sicherzustellen. Wer isoliert handelt, wird langfristig verlieren.
Katarina Peranić
Vernetztes Denken und sektorenübergreifende Zusammenarbeit sind in der VUCA-Welt entscheidend. In VUCA-Momenten wie dem Ausbruch eines Krieges in Europa helfen Netzwerke dabei, praktikable und nachhaltige Lösungen zu finden.
Christian Hochfeld
Netzwerke sind essenziell, um große Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen. Das Prinzip kennt man bereits aus Kindergeschichten: Ein einzelner kleiner Fisch hat keine Chance gegen Raubfische, aber ein Schwarm, der gemeinsam agiert, kann sich behaupten. Leider wirkt die Welt gerade so, als gäbe es nur noch Raubfische. Doch wenn alle nur an sich selbst denken, werden sich die globalen Krisen weiter verschärfen. Sie zu lösen, erfordert partnerschaftliche Investitionen in die Zukunft.

Katarina Peranić ist Gründungsvorständin der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Die gebürtige Stuttgarterin mit kroatischen Wurzeln hat Politikwissenschaften in Marburg und Berlin studiert und ist zertifizierte Stiftungsmanagerin (DSA). Ihre Schwerpunkte liegen auf dem Wissenstransfer und der Skalierung sozial-digitaler Innovationen an der Schnittstelle zwischen Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft.
Was müssen wir tun, um als Gesellschaft widerstandsfähiger zu werden?
Katarina Peranić
Widerstandsfähige Strukturen entstehen nicht von selbst – sie müssen bewusst geschaffen und gepflegt werden. Entscheidend dafür sind Räume und Gelegenheiten für Austausch und Vernetzung. Deshalb gehört Resilienz meiner Meinung nach auf die politische Agenda.
Senem Aydin-Düzgit
Widerstandsfähigkeit bedeutet auch soziale Sicherheit. Nationale und transnationale Solidarität sind entscheidend, um Menschen ein Sicherheitsgefühl zu geben. Das wiederum fördert Toleranz, Zusammenhalt und Krisenbewältigung. Ohne ein Fundament des Vertrauens wird es schwierig, gemeinsame Herausforderungen zu meistern.
Francesca Bria
Wir müssen die Fähigkeit zurückgewinnen, unsere digitale Zukunft zu gestalten, anstatt auf technologische Veränderungen zu reagieren. Hierfür brauchen wir einen Paradigmenwechsel: Daten, Künstliche Intelligenz und kritische technologische Infrastrukturen müssen als strategische Güter behandelt werden, ähnlich wie Energie oder Gesundheit. Unsere Regierungen sollten mit mutigen Industriestrategien vorangehen und in offene demokratische Alternativen zu den US-amerikanischen Big Techs investieren. Und europäische Bürger*innen müssen in die Lage versetzt werden, Technologie nicht nur passiv zu konsumieren, sondern sie aktiv mitzugestalten.
Christian Hochfeld
Die größte Gefahr der VUCA-Welt ist das Gefühl der Ohnmacht. Wenn wir glauben, keinen Einfluss mehr zu haben, droht gesellschaftlicher Burn-out. Wir brauchen Zuversicht – nicht als naiven Optimismus, sondern als begründete Hoffnung, dass wir Probleme verstehen und lösen können.
MercatorGlobe Forum
Das MercatorGlobe Forum bringt eine internationale Community aus Alumni, Projektpartner*innen sowie aktuellen und ehemaligen Kolleg*innen zusammen.
Unter dem Motto „Navigating VUCA!“ widmet sich das Forum vom 12. bis 14. März 2025 in Panels, Workshops und Netzwerktreffen drängenden Fragen unserer Zeit. Im Fokus stehen die Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen, der Umgang mit Klima- und geopolitischen Krisen, das Wiederherstellen des Vertrauens in Institutionen sowie die Nutzung des digitalen Wandels für integrative und nachhaltige Lösungen.
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