Navigieren in unsicheren Zeiten: Vier Expert*innen teilen ihre Strategien

Navigieren in unsicheren Zeiten: Vier Expert*innen teilen ihre Strategien
Autor: Felix Jung 13.03.2025

In der heutigen Welt ist es schwieriger denn je, die richtigen strategischen Entscheidungen zu treffen. Doch wie lässt sich mit dieser neuen Normalität umgehen? Beim Mercator Globe Forum in Essen vom 12. bis 14. März diskutieren Expert*innen, wie sie mit VUCA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) umgehen und in einer zunehmend chaotischen Welt handlungs­fähig bleiben. Für AufRuhr haben Senem Aydin-Düzgit, Francesca Bria, Christian Hochfeld und Katarina Peranić erste Einblicke in ihr VUCA-Panel gewährt.

Bei welchem Ereignis haben Sie die Heraus­forderungen von VUCA besonders gespürt?

Katarina Peranić, Gründungs­mitglied des Vorstandes, Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt
Am 24. Februar 2022, als russische Truppen in die Ost­ukraine einmarschierten, zeigte sich die VUCA-Welt mit voller Wucht: Die Informations­lage änderte sich stündlich. Die Unsicherheit in Deutschland und Europa war enorm und die politische Lage komplex und mehrdeutig. Was damals half, waren Aus­tausch­formate. Wir starteten einen Twitter-Space, führten eine Blitz­umfrage durch und organisierten eine Online­konferenz, um Bedarfe von Engagierten und Ehrenamtlichen auf­zu­nehmen. Meine wichtigste Erkenntnis daraus ist: In unüber­sichtlichen Situationen sollten wir mehr zuhören als reden, Ängste ernst nehmen und pragmatische Lösungen finden.

Francesca Bria, Mercator Fellow
In meiner Arbeit bin ich ständig mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehr­deutigkeit konfrontiert – sei es beim Gestalten der europäischen Agenda für digitale Souveränität oder bei der Beratung von Regierungen. Die COVID-19-Krise hat uns gezeigt, wie abhängig Europa von ausländischen Technologien und fragilen Liefer­ketten ist. Aber auch, wie viel wir Europäer*innen erreichen können, wenn wir zusammen­arbeiten.

Senem Aydin-Düzgit

Senem Aydin-Düzgit ist Professorin für Inter­nationale Beziehungen an der Fakultät für Kunst- und Sozial­wissenschaften der Sabancı University Istanbul und Direktorin des Istanbul Policy Centers. Sie ist zudem Non-Resident Fellow am Institute for European Policymaking der Bocconi University. Ihre Forschungs­schwer­punkte liegen in den Bereichen Identität, Geschichte und Diskurs in der inter­nationalen Politik, mit einem empirischen Fokus auf die Außen­politik Europas und der Türkei.

Senem Aydin-Düzgit, Professorin für inter­nationale Beziehungen, Sabancı University Istanbul
Die größte VUCA-Herausforderung erlebte ich zu Beginn von COVID. Die Volatilität war hoch, da die Infektions- und Todes­raten schwankten und die Notfall­maßnahmen sich ständig änderten. Ich bin Professorin an der Sabancı University Istanbul und war zum damaligen Zeit­punkt zudem akademische Koordinatorin des Istanbul Policy Centers – in beiden Funktionen musste ich gemeinsam mit meinem Team schnell Lösungen für komplexe Probleme finden. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass VUCA-Krisen auch Chancen bieten, wenn man agil, flexibel und im Team arbeitet.

Christian Hochfeld, Direktor, Agora Verkehrswende
Sich nicht zu entscheiden, weil alles volatil, unsicher, komplex und mehr­deutig ist, ist auch eine Entscheidung – häufig eine schlechte. Das zeigte sich zum Beispiel beim Mobilitäts­gipfel im Kanzleramt Ende 2023. Damals herrschte Einigkeit über das Ziel, dass es bis 2030 15 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen geben soll. Uneinigkeit bestand jedoch darüber, wie das erreicht werden kann. Also entschied man sich, nichts zu tun. Das Ergebnis zeigt, was beim Umgang mit VUCA nicht passieren sollte: Stillstand statt Fortschritt. Mit Folgen für das Klima, den Industrie­stand­ort Deutschland und die Mobilität der Zukunft.

Welche Strategien helfen Ihnen beim Umgang mit VUCA?

Christian Hochfeld
VUCA ist das neue Normal. Eine Strategie, die diesen Umstand außen vor lässt, kann heute nicht mehr erfolg­reich sein. Deshalb ist es wichtig, eine Gesamt­strategie zu entwickeln, die auf unter­schiedlichen Szenarien aufbaut. Auch auf Szenarien, die uns noch vor wenigen Jahren unmöglich erschienen. Schwierig bleibt dabei, dass externe Stör­faktoren immer größeren Einfluss nehmen. So wird Plan B zum Plan A, weil Plan A in unserer VUCA-Welt nicht eintreten wird. Das bleibt im Falle der Klima­krise oder der Zerstörung der Arten­vielfalt unbefriedigend, da uns der Planet B für den Plan B fehlt. Hier hilft nur die globale Zusammen­arbeit an langfristigen, wider­stands­fähigen Lösungen, die möglichst viele Stör­faktoren bereits berücksichtigen.

Francesca Bria

Francesca Bria ist Innovations­ökonomin und Expertin für Digital­politik und arbeitet an der Schnitt­stelle von Technologie, Geopolitik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie ist Honorar­professorin am UCL Institute for Innovation and Public Purpose in London und Mitglied des von der Präsidentin der Europäischen Kommission eingerichteten hoch­rangigen Round Table für das Neue Europäische Bauhaus. Derzeit ist sie Senior Fellow bei der Stiftung Mercator in Berlin, wo sie die EuroStack-Initiative zur digitalen Souveränität Europas leitet.

Francesca Bria
Um VUCA zu bewältigen, müssen wir langfristig in öffentliche digitale Infra­strukturen investieren. Das bedeutet, Alternativen zu privaten Cloud-, KI- und Platt­form­lösungen zu schaffen. Die EuroStack-Initiative macht es vor: Sie stärkt Europas technologische Autonomie, indem sie Tech­unternehmen, Politik und Finanz­geber*innen zusammen­bringt.

Katarina Peranić
VUCA bietet Herausforderungen, denen wir mit Vision, Verständnis, Kommunikation und Agilität begegnen können. Ein Beispiel ist unsere Arbeit nach dem russischen Überfall auf die Ukraine: Eine klare Vision für die Rolle der Zivil­gesellschaft, gegenseitiges Verständnis von Verwaltung, Stiftungen und Geflüchteten, offene Kommunikations­räume und eine agile, vernetzte Zusammen­arbeit haben es ermöglicht, schnell Hilfe zu leisten. So entstand 2022 der Alliance4Ukraine-Fonds, der zivil­gesellschaftliche Organisationen unbürokratisch unterstützte und später durch öffentliche Förder­programme ergänzt wurde.

Senem Aydin-Düzgit
Die COVID-Pandemie war für mich eine extreme VUCA-Situation: hohe Unsicherheit, täglich wechselnde Bedingungen, keine klare Perspektive. Unsere Strategie am Istanbul Policy Center war Anpassung durch Flexibilität und Teamarbeit. Ein Beispiel ist unsere Webinar-Reihe „Pandemie und Gesellschaft“, die schnell eine breite inter­nationale Zuhörer*innen­schaft fand. Daraus entstand später ein Buch, das zentrale Erkenntnisse zusammenfasst. Die Krise hat uns gezeigt, dass Agilität und vernetzter Wissenstransfer essenziell sind.

Christian Hochfeld
© Kopf & Kragen Fotografie

Christian Hochfeld ist Direktor von Agora Verkehrs­wende. Davor leitete er bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammen­arbeit (GIZ) das Programm für Nach­haltigen Verkehr in China. Von 2004 bis 2010 war er Mitglied der Geschäfts­führung des Öko-Instituts. Hochfeld ist Diplom-Ingenieur, an der Technischen Universität Berlin studierte er technischen Umweltschutz.

Welche Rolle spielen Netzwerke und Zusammen­arbeit in einer zunehmend komplexen Welt?

Francesca Bria
Netzwerke zwischen demokratischen Regierungen, öffentlich-privaten Akteuren und Bürger­initiativen sind unerlässlich, um in der heutigen Welt zu bestehen. Hierfür brauchen wir sektor­über­greifende Zusammen­arbeit, Wissens­austausch und eine digitale Transformation, die europäische Demokratien stärkt, anstatt Ungleichheiten zu vertiefen.

Senem Aydin-Düzgit
Netzwerke sind in einer multipolaren Welt unverzichtbar, denn traditionelle Allianzen stehen unter Druck, und liberale Demokratien werden heraus­gefordert. Die trans­nationale Zusammen­arbeit wird deshalb immer wichtiger, um das Wohlergehen von Gesellschaft und Umwelt sicher­zu­stellen. Wer isoliert handelt, wird langfristig verlieren.

Katarina Peranić
Vernetztes Denken und sektoren­über­greifende Zusammen­arbeit sind in der VUCA-Welt entscheidend. In VUCA-Momenten wie dem Ausbruch eines Krieges in Europa helfen Netzwerke dabei, praktikable und nachhaltige Lösungen zu finden.

Christian Hochfeld
Netzwerke sind essenziell, um große Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen. Das Prinzip kennt man bereits aus Kinder­geschichten: Ein einzelner kleiner Fisch hat keine Chance gegen Raubfische, aber ein Schwarm, der gemeinsam agiert, kann sich behaupten. Leider wirkt die Welt gerade so, als gäbe es nur noch Raubfische. Doch wenn alle nur an sich selbst denken, werden sich die globalen Krisen weiter verschärfen. Sie zu lösen, erfordert partnerschaftliche Investitionen in die Zukunft.

Katarina Peranić
© Benjamin Jenak

Katarina Peranić ist Gründungs­vorständin der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehren­amt. Die gebürtige Stuttgarterin mit kroatischen Wurzeln hat Politik­wissenschaften in Marburg und Berlin studiert und ist zertifizierte Stiftungs­managerin (DSA). Ihre Schwer­punkte liegen auf dem Wissens­transfer und der Skalierung sozial-digitaler Innovationen an der Schnitt­stelle zwischen Zivil­gesellschaft, Politik und Wirtschaft.

Was müssen wir tun, um als Gesellschaft wider­stands­fähiger zu werden?

Katarina Peranić
Widerstandsfähige Strukturen entstehen nicht von selbst – sie müssen bewusst geschaffen und gepflegt werden. Entscheidend dafür sind Räume und Gelegenheiten für Austausch und Vernetzung. Deshalb gehört Resilienz meiner Meinung nach auf die politische Agenda.

Senem Aydin-Düzgit
Widerstandsfähigkeit bedeutet auch soziale Sicherheit. Nationale und transnationale Solidarität sind entscheidend, um Menschen ein Sicherheits­gefühl zu geben. Das wiederum fördert Toleranz, Zusammenhalt und Krisen­bewältigung. Ohne ein Fundament des Vertrauens wird es schwierig, gemeinsame Heraus­forderungen zu meistern.

Francesca Bria
Wir müssen die Fähigkeit zurückgewinnen, unsere digitale Zukunft zu gestalten, anstatt auf technologische Veränderungen zu reagieren. Hierfür brauchen wir einen Paradigmen­wechsel: Daten, Künstliche Intelligenz und kritische technologische Infra­strukturen müssen als strategische Güter behandelt werden, ähnlich wie Energie oder Gesundheit. Unsere Regierungen sollten mit mutigen Industrie­strategien vorangehen und in offene demokratische Alternativen zu den US-amerikanischen Big Techs investieren. Und europäische Bürger*innen müssen in die Lage versetzt werden, Technologie nicht nur passiv zu konsumieren, sondern sie aktiv mit­zu­gestalten.

Christian Hochfeld
Die größte Gefahr der VUCA-Welt ist das Gefühl der Ohnmacht. Wenn wir glauben, keinen Einfluss mehr zu haben, droht gesellschaftlicher Burn-out. Wir brauchen Zuversicht – nicht als naiven Optimismus, sondern als begründete Hoffnung, dass wir Probleme verstehen und lösen können.


MercatorGlobe Forum

Das MercatorGlobe Forum bringt eine inter­nationale Community aus Alumni, Projekt­partner*innen sowie aktuellen und ehemaligen Kolleg*innen zusammen.

Unter dem Motto „Navigating VUCA!“ widmet sich das Forum vom 12. bis 14. März 2025 in Panels, Workshops und Netz­werk­treffen drängenden Fragen unserer Zeit. Im Fokus stehen die Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen, der Umgang mit Klima- und geopolitischen Krisen, das Wieder­herstellen des Vertrauens in Institutionen sowie die Nutzung des digitalen Wandels für integrative und nach­haltige Lösungen.
mercatorglobe.de/