„Russland muss akzeptieren: Es kann seine Kriegsziele nicht erreichen“

Seit dem landesweiten russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist klar: Europa muss sicherheitspolitisch auf eigenen Beinen stehen. Jahrzehntelang verließ sich die Europäische Union (EU) auf den Schutz durch die USA, doch diese Garantie wackelt. Die nordischen und baltischen Staaten spüren den geopolitischen Druck unmittelbar. Lettland habe sich durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht einen Vorsprung in puncto Sicherheit erarbeitet, sagt der lettische Sicherheitsexperte Toms Rostoks. Was das nordisch-baltische Bündnis nun von Deutschland erwartet und wie sich Europa Frieden zu seinen Bedingungen sichern kann, erklärt er anlässlich des Europatages am 9. Mai im Interview.
Herr Rostoks, Lettland und Russland grenzen direkt aneinander. Wie nehmen Sie die Bedrohung durch Ihren Nachbarn aktuell wahr?
Die Beziehungen haben sich merklich verschlechtert. Wir müssen unseren Nachbarn als deutlich feindseliger einstufen als zuvor und bauen inzwischen auf der baltischen Seite Verteidigungsanlagen. Dass dieser Schritt nötig sein würde, hat sich spätestens 2014 mit der Annexion der Krim gezeigt. Der großflächige Angriff auf die Ukraine seit Februar 2022 macht die Notwendigkeit abermals deutlich. Gleichzeitig hat sich aber auch etwas zum Positiven entwickelt: Unter NATO-Verbündeten gibt es heute ein viel größeres Interesse an einer gemeinsamen Politik, mit der wir diese schweren Zeiten überstehen wollen.
Auch die europäischen Beziehungen zu den USA haben zuletzt gelitten. Im März dieses Jahres wurden Chats bekannt, in denen Sicherheitsbeamte der Trump-Regierung Europa als „armselig“ bezeichneten. Wie stabil ist das transatlantische Sicherheitsbündnis noch?
Die europäische Sicherheitsarchitektur, wie wir sie kannten, steht in der Tat unter Druck. Jahrzehntelang haben die USA sie maßgeblich mitgetragen. Doch das transatlantische Verhältnis hat sich gewandelt. Mittlerweile herrscht in den USA der Eindruck, Europa verlasse sich zu sehr auf die Vereinigten Staaten. Es beunruhigt mich außerdem, dass es zunehmende Spannungen zwischen den USA und ihren traditionellen Verbündeten Kanada, Dänemark und auch Deutschland gibt. Wenn innerhalb der NATO ernsthafte Risse entstehen, dann gefährdet das unsere Sicherheit in Lettland und Europa.
Reagiert Europa angemessen auf diese geopolitischen Herausforderungen?
Ich denke, dass sich Europa über die vergangenen Jahrzehnte schlecht auf die Zukunft vorbereitet hat, insbesondere auf ein aggressiveres Russland. Heute werden in Europa zwar viele strategische Debatten geführt, doch schwierig wird es dann, wenn daraus eine konkrete Politik erwachsen soll. Für neue Verteidigungsprogramme wie „ReArm Europe“ braucht es beispielsweise zusätzliche Schulden: Wir sprechen hier von einem Budget von bis zu 800 Milliarden Euro. Doch da die europäischen Länder diese Gefahren sehr unterschiedlich wahrnehmen – wir in der baltischen Region fühlen uns stärker durch Russland bedroht als etwa Länder im Süden Europas –, unterscheiden sich auch die Verteidigungsausgaben erheblich. Dazu zählt auch die Bereitschaft, durch Maßnahmen wie die Wehrpflicht zur Verteidigung Europas beizutragen.

Toms Rostoks ist Politikwissenschaftler an der Nationalen Verteidigungsakademie Lettlands in Riga. Er forscht zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik, insbesondere zur öffentlichen Meinung in Lettland im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Als Mitglied der DGAP-Strategiegruppe „European Zeitenwende“ bringt Rostoks die Perspektive der baltischen Staaten in die Diskussion über eine Neuausrichtung der europäischen Sicherheitsordnung ein.
Sie haben kürzlich einen Artikel zu Lettlands Wiedereinführung der Wehrpflicht veröffentlicht. Wie funktioniert das lettische System?
In Lettland haben wir uns daran gewöhnt, dass Russland eine Bedrohung darstellt. Das ist für uns zur neuen Normalität geworden. Wir bekommen sehr genau mit, was in der Ukraine passiert, und wissen: Das ist nicht weit von uns entfernt. Wir haben deshalb unsere Verteidigungskapazitäten stärken müssen, sowohl in Sachen Aufrüstung als auch personell über einen Staatverteidigungsdienst (State Defense Service), der 2023 eingeführt wurde. Wir nennen ihn bewusst nicht „Wehrpflicht“, weil die Menschen dem anderen Begriff gegenüber offener eingestellt sind. Es gibt viele Freiwillige, die diesen Dienst antreten. Das zeigt, dass es in der lettischen Gesellschaft, selbst unter russischsprachigen Jugendlichen, ein starkes Bewusstsein für unsere sicherheitspolitische Lage gibt. Die Wehrpflicht wieder einzuführen, war keine leichte Entscheidung, aber sie wird von der Bevölkerung mitgetragen. Und sie ist notwendig.

In Deutschland flammt gerade die Debatte über eine Wehrpflicht neu auf. Was erwarten Sie hier von Deutschland?
Die Erwartungen gegenüber Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren verändert. Sollte es zu einem russischen Angriff auf die baltischen Staaten kommen und sollten die USA uns nicht in dem Maße unterstützen, wie sie es könnten, wären alle Augen auf Deutschland als nächstgrößten Player gerichtet. Leider habe ich den Eindruck, dass in Deutschland nicht viel darüber nachgedacht wird, wie es in diesem Fall reagieren würde und wie es Europa verteidigen könnte. Deutschland ist darauf schlicht nicht vorbereitet. Es fehlt an Soldat*innen, an Flugzeugen, an Waffen. Wenn Europa als stark wahrgenommen werden möchte – militärisch, politisch, wirtschaftlich –, dann muss Deutschland bereit sein, mehr zu leisten.
Wenn Europa als stark wahrgenommen werden möchte – militärisch, politisch, wirtschaftlich –, dann muss Deutschland bereit sein, mehr zu leisten.
Was bedeutet das konkret?
Mehr Führung, mehr Ausgaben für Verteidigung, mehr Zusammenarbeit mit seinen Alliierten, um der Ukraine zu helfen. Lettland baut seine militärischen Kapazitäten massiv aus und erwartet, dass auch die großen Mitgliedsstaaten der EU ihren Teil beitragen. Nicht nur durch Worte, sondern durch Taten.
Deutschland hat kürzlich eine Brigade von 5.000 Soldat*innen nach Litauen entsandt. Reicht diese Maßnahme aus?
Sie wird in den baltischen Staaten wahrgenommen und sehr geschätzt. Obwohl die Brigade zur Abschreckung Russlands ausreichen könnte, sollte sie durch zusätzliche militärische Fähigkeiten und Einheiten ergänzt werden, die kurzfristig in die baltische Region verlegt werden könnten.
Der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz rief 2022 eine Zeitenwende aus. Erleben wir gerade mit, wie sich ein „neues Europa“ bildet?
Die Tage sind vorbei, in denen wir Europäer*innen dachten, dass wir die ganze Welt verändern könnten. Dass alle dem Beispiel der EU und ihrer Entwicklung folgen würden. Stattdessen ist es heute wichtiger, das zu verteidigen, was wir haben. Und ich bin zuversichtlich, dass wir uns angesichts einer möglichen militärischen Aggression durch Russland gemeinsam behaupten können.
Glauben Sie, dass der Krieg in der Ukraine bald endet?
Ich denke, Russland wird zähneknirschend akzeptieren müssen, dass es nicht in der Lage ist, seine Kriegsziele kurz-, mittel- oder langfristig zu erreichen. Russland wird einen Weg finden müssen, mit Europa unter friedlicheren Bedingungen zu koexistieren. Dieses Szenario wird allerdings nur möglich, wenn wir in Europa eine Einheit bilden und militärisch stark genug sind. Nur so können wir einen Frieden zu unseren Bedingungen aushandeln. Wenn wir auf Krieg vorbereitet sind, wird es keinen Krieg geben. Gerade jetzt – 75 Jahre nach der Schuman-Erklärung, mit der Solidarität und Frieden zur europäischen Grundidee wurden – müssen wir diesen Anspruch ernst nehmen und verteidigen.
Strategiegruppe „European Zeitenwende“
Die Strategiegruppe „European Zeitenwende“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) bringt Expert*innen und politische Entscheidungsträger*innen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Skandinavien, dem Baltikum und Deutschland zusammen, um neue Impulse für Europas Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Unter dem Motto „In Together – Shaping a Common European Future“ fördert sie den strategischen Dialog über den Umgang mit Russland, die Rolle der Ukraine und die Sicherheit Europas in einer Zeit historischer Umbrüche.
dgap.org/de/Strategy_Group_European_Zeitenwende