„Russland muss akzeptieren: Es kann seine Kriegs­ziele nicht erreichen“

Mit Weitblick die eigene Sicherheit stärken: Das transatlantische Verhältnis hat sich verschlechtert, die USA nehmen ihre Hilfen zurück. Europa muss zunehmend auf eigenen Beinen stehen.
„Russland muss akzeptieren: Es kann seine Kriegs­ziele nicht erreichen“
Autor: Felix Jung 09.05.2025

Seit dem landesweiten russischen Angriffs­krieg gegen die Ukraine ist klar: Europa muss sicher­heits­politisch auf eigenen Beinen stehen. Jahr­zehnte­lang verließ sich die Europäische Union (EU) auf den Schutz durch die USA, doch diese Garantie wackelt. Die nordischen und baltischen Staaten spüren den geopolitischen Druck unmittelbar. Lettland habe sich durch die Wieder­einführung der Wehrpflicht einen Vorsprung in puncto Sicherheit erarbeitet, sagt der lettische Sicherheits­experte Toms Rostoks. Was das nordisch-baltische Bündnis nun von Deutschland erwartet und wie sich Europa Frieden zu seinen Bedingungen sichern kann, erklärt er anlässlich des Europa­tages am 9. Mai im Interview.

Herr Rostoks, Lettland und Russland grenzen direkt aneinander. Wie nehmen Sie die Bedrohung durch Ihren Nachbarn aktuell wahr?

Die Beziehungen haben sich merklich verschlechtert. Wir müssen unseren Nachbarn als deutlich feindseliger einstufen als zuvor und bauen inzwischen auf der baltischen Seite Verteidigungs­anlagen. Dass dieser Schritt nötig sein würde, hat sich spätestens 2014 mit der Annexion der Krim gezeigt. Der groß­flächige Angriff auf die Ukraine seit Februar 2022 macht die Notwendigkeit abermals deutlich. Gleich­zeitig hat sich aber auch etwas zum Positiven entwickelt: Unter NATO-Verbündeten gibt es heute ein viel größeres Interesse an einer gemeinsamen Politik, mit der wir diese schweren Zeiten über­stehen wollen.

Auch die europäischen Beziehungen zu den USA haben zuletzt gelitten. Im März dieses Jahres wurden Chats bekannt, in denen Sicherheits­beamte der Trump-Regierung Europa als „armselig“ bezeichneten. Wie stabil ist das trans­atlantische Sicherheits­bündnis noch?

Die europäische Sicherheits­architektur, wie wir sie kannten, steht in der Tat unter Druck. Jahr­zehnte­lang haben die USA sie maßgeblich mitgetragen. Doch das trans­atlantische Verhältnis hat sich gewandelt. Mittler­weile herrscht in den USA der Eindruck, Europa verlasse sich zu sehr auf die Vereinigten Staaten. Es beunruhigt mich außerdem, dass es zunehmende Spannungen zwischen den USA und ihren traditionellen Verbündeten Kanada, Dänemark und auch Deutschland gibt. Wenn innerhalb der NATO ernsthafte Risse entstehen, dann gefährdet das unsere Sicherheit in Lettland und Europa.

Reagiert Europa angemessen auf diese geopolitischen Heraus­forderungen?

Ich denke, dass sich Europa über die vergangenen Jahr­zehnte schlecht auf die Zukunft vorbereitet hat, insbesondere auf ein aggressiveres Russland. Heute werden in Europa zwar viele strategische Debatten geführt, doch schwierig wird es dann, wenn daraus eine konkrete Politik erwachsen soll. Für neue Verteidigungsprogramme wie „ReArm Europe“ braucht es beispiels­weise zusätzliche Schulden: Wir sprechen hier von einem Budget von bis zu 800 Milliarden Euro. Doch da die europäischen Länder diese Gefahren sehr unterschiedlich wahrnehmen – wir in der baltischen Region fühlen uns stärker durch Russland bedroht als etwa Länder im Süden Europas –, unterscheiden sich auch die Verteidigungs­ausgaben erheblich. Dazu zählt auch die Bereitschaft, durch Maßnahmen wie die Wehr­pflicht zur Verteidigung Europas bei­zu­tragen.

Toms Rostoks ist Politik­wissenschaftler an der Nationalen Verteidigungs­akademie Lettlands in Riga. Er forscht zur Sicherheits- und Verteidigungs­politik, insbesondere zur öffentlichen Meinung in Lettland im Kontext des russischen Angriffs­krieges gegen die Ukraine. Als Mitglied der DGAP-Strategie­gruppe „European Zeiten­wende“ bringt Rostoks die Perspektive der baltischen Staaten in die Diskussion über eine Neu­aus­richtung der europäischen Sicher­heits­ordnung ein.

Sie haben kürzlich einen Artikel zu Lettlands Wieder­einführung der Wehrpflicht veröffentlicht. Wie funktioniert das lettische System?

In Lettland haben wir uns daran gewöhnt, dass Russland eine Bedrohung darstellt. Das ist für uns zur neuen Normalität geworden. Wir bekommen sehr genau mit, was in der Ukraine passiert, und wissen: Das ist nicht weit von uns entfernt. Wir haben deshalb unsere Verteidigungs­kapazitäten stärken müssen, sowohl in Sachen Aufrüstung als auch personell über einen Staat­verteidigungs­dienst (State Defense Service), der 2023 eingeführt wurde. Wir nennen ihn bewusst nicht „Wehrpflicht“, weil die Menschen dem anderen Begriff gegenüber offener eingestellt sind. Es gibt viele Freiwillige, die diesen Dienst antreten. Das zeigt, dass es in der lettischen Gesellschaft, selbst unter russisch­sprachigen Jugendlichen, ein starkes Bewusst­sein für unsere sicherheits­politische Lage gibt. Die Wehrpflicht wieder ein­zu­führen, war keine leichte Entscheidung, aber sie wird von der Bevölkerung mitgetragen. Und sie ist notwendig.

Bundeswehrsoldat*innen nach einem Einsatz in Mali: Reichen die deutschen Bemühungen aus, um sich und Europa im Ernstfall verteidigen zu können? Toms Rostoks hat da seine Zweifel.
Bundeswehrsoldat*innen nach einem Einsatz in Mali: Reichen die deutschen Bemühungen aus, um sich und Europa im Ernstfall verteidigen zu können? Toms Rostoks hat da seine Zweifel. © Getty Images

In Deutschland flammt gerade die Debatte über eine Wehrpflicht neu auf. Was erwarten Sie hier von Deutschland?

Die Erwartungen gegenüber Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren verändert. Sollte es zu einem russischen Angriff auf die baltischen Staaten kommen und sollten die USA uns nicht in dem Maße unter­stützen, wie sie es könnten, wären alle Augen auf Deutschland als nächst­größten Player gerichtet. Leider habe ich den Eindruck, dass in Deutschland nicht viel darüber nachgedacht wird, wie es in diesem Fall reagieren würde und wie es Europa verteidigen könnte. Deutschland ist darauf schlicht nicht vorbereitet. Es fehlt an Soldat*innen, an Flugzeugen, an Waffen. Wenn Europa als stark wahr­genommen werden möchte – militärisch, politisch, wirtschaftlich –, dann muss Deutschland bereit sein, mehr zu leisten.

Wenn Europa als stark wahr­genommen werden möchte – militärisch, politisch, wirtschaftlich –, dann muss Deutschland bereit sein, mehr zu leisten.

Toms Rostoks

Was bedeutet das konkret?

Mehr Führung, mehr Ausgaben für Verteidigung, mehr Zusammen­arbeit mit seinen Alliierten, um der Ukraine zu helfen. Lettland baut seine militärischen Kapazitäten massiv aus und erwartet, dass auch die großen Mitglieds­staaten der EU ihren Teil beitragen. Nicht nur durch Worte, sondern durch Taten.

Deutschland hat kürzlich eine Brigade von 5.000 Soldat*innen nach Litauen entsandt. Reicht diese Maßnahme aus?

Sie wird in den baltischen Staaten wahr­genommen und sehr geschätzt. Obwohl die Brigade zur Abschreckung Russlands ausreichen könnte, sollte sie durch zusätzliche militärische Fähigkeiten und Einheiten ergänzt werden, die kurz­fristig in die baltische Region verlegt werden könnten.

Der ehemalige Bundes­kanzler Olaf Scholz rief 2022 eine Zeitenwende aus. Erleben wir gerade mit, wie sich ein „neues Europa“ bildet?

Die Tage sind vorbei, in denen wir Europäer*innen dachten, dass wir die ganze Welt verändern könnten. Dass alle dem Beispiel der EU und ihrer Entwicklung folgen würden. Stattdessen ist es heute wichtiger, das zu verteidigen, was wir haben. Und ich bin zuversichtlich, dass wir uns angesichts einer möglichen militärischen Aggression durch Russland gemeinsam behaupten können.

Glauben Sie, dass der Krieg in der Ukraine bald endet?

Ich denke, Russland wird zähne­knirschend akzeptieren müssen, dass es nicht in der Lage ist, seine Kriegs­ziele kurz-, mittel- oder lang­fristig zu erreichen. Russland wird einen Weg finden müssen, mit Europa unter friedlicheren Bedingungen zu koexistieren. Dieses Szenario wird allerdings nur möglich, wenn wir in Europa eine Einheit bilden und militärisch stark genug sind. Nur so können wir einen Frieden zu unseren Bedingungen aushandeln. Wenn wir auf Krieg vorbereitet sind, wird es keinen Krieg geben. Gerade jetzt – 75 Jahre nach der Schuman-Erklärung, mit der Solidarität und Frieden zur europäischen Grundidee wurden – müssen wir diesen Anspruch ernst nehmen und verteidigen.


Strategiegruppe „European Zeiten­wende“

Die Strategiegruppe „European Zeiten­wende“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) bringt Expert*innen und politische Entscheidungs­träger*innen aus Mittel-, Ost- und Süd­ost­europa, Skandinavien, dem Baltikum und Deutschland zusammen, um neue Impulse für Europas Außen- und Sicherheits­politik zu entwickeln. Unter dem Motto „In Together – Shaping a Common European Future“ fördert sie den strategischen Dialog über den Umgang mit Russland, die Rolle der Ukraine und die Sicherheit Europas in einer Zeit historischer Umbrüche.
dgap.org/de/Strategy_Group_European_Zeitenwende