Aktiv, aber zerrissen

Zeichnung zweier Personen, die zusammen eine Friedenstaube fliegen lassen.
Aktiv, aber zerrissen
Autorin: Kristin Helberg 09.06.2020

Etwa 800.000 Syrer*innen leben in Deutschland, viele engagieren sich in Vereinen und Initiativen. Der Krieg in der Heimat war für sie Anlass, Bestehendes infrage zu stellen, anderen zu helfen und sich selbst zu organisieren. Aus diesem zivilgesellschaftlichen Aktivismus könnte eine syrische Diaspora erwachsen, meint Mercator-Fellow Kristin Helberg. Doch dabei seien viele Hürden zu überwinden.

Der Bruder, der mit Folterspuren vor der Haustür abgelegt wird, der Vater, der den politischen Widerspruch mit einer Ohrfeige beantwortet oder der eigene Stadtteil, der von der syrischen Luftwaffe zerbombt wird. Fast jeder Syrer und jede Syrerin erinnert sich an einen Moment in diesem Krieg, der alles veränderte. Für manche wurde daraus ein Auslöser, selbst aktiv zu werden, eine Initialzündung des eigenen politischen Handelns.

Bei Mariana Karkoutly kam einiges zusammen. Ihr Vater hatte als Journalist zehn Jahre lang in Dubai gearbeitet bevor er 2007 nach Syrien zurückkehrte in der Hoffnung, unter Präsident Bashar al-Assad mehr Pressefreiheit vorzufinden. Er produzierte TV-Programme für ausländische Sender bis die Revolution ausbrach und er bedroht wurde.

Mariana Karkoutly
Mariana Karkoutly © privat

Mitarbeiter seiner Firma wurden verhaftet, Marianas Bruder wurde für einen Tag vom Geheimdienst festgehalten und misshandelt, anschließend schickte die Familie ihn zu seinem Schutz nach Ägypten. Mariana studierte Jura an der Universität Damaskus und kümmerte sich nebenbei um die Versorgung von Binnenvertriebenen. Zu Demonstrationen ging sie nicht, das hatte sie ihrem Vater versprochen, der seine Berufstätigkeit aus Angst komplett einstellte. „Wir zogen die Köpfe ein und taten so, als wäre das ein normales Leben“, erzählt Mariana in ihrer Wohnung in Berlin.

In einer Parallelwelt

Unterdrückung, Korruption und Willkür hätten sie damals nicht überrascht, sagt die 28-Jährige. Aber die Brutalität des Regimes, die habe sie schockiert und angetrieben. „Als sie einen Freund von mir verhafteten, wurde es persönlich und sehr real“, erinnert sie sich. Im Jahr 2014 verkaufte die Familie ihr Haus und ging wieder nach Dubai, wo Mariana als Kanzleiassistentin arbeitete. „Ich wurde depressiv, hatte nur mit unpolitischen Leuten zu tun, fühlte mich wie in einer Parallelwelt“, erzählt die Syrerin. Als Freunde in Berlin ihr von den Möglichkeiten in Deutschland berichteten, bewarb sie sich erfolgreich um einen Studienplatz in Berlin. Inzwischen hat sie ihren Master in Sozial- und Politikwissenschaft an der Humboldt Universität abgeschlossen.

Mariana Karkoutly zählt zu einer Generation junger Syrer*innen, die in Deutschland Fuß gefasst haben, aber weiterhin von den Ereignissen in Syrien beeinflusst werden. Viele studieren oder arbeiten und versuchen gleichzeitig, sich für die Heimat zu engagieren. Sie organisieren Hilfe für Vertriebene in Idlib oder in den kurdisch geprägten Gebieten, sie demonstrieren vor der russischen Botschaft gegen Luftangriffe auf Krankenhäuser, halten Vorträge vor deutschen Bildungsbürgern, helfen bei der Integration anderer Syrer*innen und fahren zu Gerichtsprozessen gegen ehemalige Geheimdienstfunktionäre, um auf die systematische Folter in syrischen Gefängnissen aufmerksam zu machen. Sie leben zwischen zwei Welten, die kaum gegensätzlicher sein könnten, und die an ihnen zehren bis keine Energie mehr da ist, für nichts.

Wir alle wollen stark und aktiv sein, aber fast jeder hat sein eigenes Trauma.

„Wir alle wollen stark und aktiv sein“, sagt Mariana, „aber fast jeder hat sein eigenes Trauma, über das er sich nicht zu reden traut.“ Vor allem die Gruppe der 25- bis 40jährigen fühlt sich zerrissen zwischen ihrem neuen Leben in Deutschland, in dem sie schnell selbständig und erfolgreich sein will und der anhaltenden Katastrophe in Syrien, die sie lähmt und frustriert. Mit Assad an der Macht gibt es für sie kein Zurück nach Syrien, die Hoffnung auf ein freies, demokratisches Land liegt neun Jahre nach Beginn der Revolution unter Trümmern begraben. Manch Aktivist*in fühlt sich schuldig, im sicheren Europa eine neue Existenz aufzubauen, während die eigenen Landsleute in Zelten oder Ruinen ausharren. Andere kommen in Deutschland nicht an, weil ihnen die Sorge um Angehörige oder die Erinnerungen an Folter und Bomben keine Kraft zum Deutschlernen lassen.

Emotionales Pendeln

Dieses emotionale Pendeln zwischen alter und neuer Heimat ist typisch für Diaspora-Gruppen. Mitglieder einer Diaspora definieren sich über ihre gemeinsame Herkunft, sie mussten aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen fliehen und fühlen sich durch ihre Abstammung, Kultur, Religion und Geschichte miteinander verbunden.

Demonstration vor dem Reichstag
© Getty Images

Dieser Zusammenhalt hilft ihnen dabei, ihre Traditionen auch fernab der Heimat zu bewahren. Bilden also alle Syrer*innen, die ihr Land verlassen mussten, automatisch eine syrische Diaspora? Reicht es, weiterhin syrisch zu kochen und enge familiäre Bindungen zu pflegen, um sich als Diaspora zu definieren? Nein, denn der moderne Diasporabegriff setzt ein Mindestmaß an Eigeninitiative voraus. Es geht darum, als Gruppe mit gemeinsamen Wurzeln in Erscheinung zu treten, sich zu organisieren, Ziele und Forderungen zu formulieren. Erst dadurch entwickelt sie sich zur Diaspora.

Das Beispiel der Syrer*innen in Deutschland ist dabei interessant. Lebten vor zehn Jahren etwa 30.000 in der Bundesrepublik, sind es inzwischen fast 800.000. Keine Minderheit ist in so kurzer Zeit so stark gewachsen. Dadurch ist die Gruppe sehr divers geworden. Waren es vor 2011 vor allem Akademiker*innen, die seit den 1960er Jahren aus Assads Syrien geflohen waren und sich hier als Ärzt*innn und Ingenieur*innn einen guten Ruf erarbeiteten, kamen im Zuge des Krieges auch viele Bewohner ländlicher Gebiete, die meist weniger gebildet sind und traditioneller denken als die städtische Mittel- und Oberschicht. Wer sich ab 2011 an der Revolution gegen das Assad-Regime beteiligte, musste ebenso flüchten. Diese zivilgesellschaftlichen Kräfte haben im Laufe der vergangenen Jahre unter extrem schwierigen Bedingungen Erfahrungen mit Selbstorganisation gesammelt. Sie haben Proteste organisiert, die Verbrechen der Kriegsparteien dokumentiert, in oppositionell kontrollierten Gebieten Verwaltungsstrukturen aufgebaut, die dortigen Bewohner humanitär und medizinisch versorgt und sich im Bereich der politischen Bildung engagiert. Da ihr Handlungsspielraum seit 2015 stetig schrumpft, mussten die meisten dieser Aktivist*innen Syrien verlassen, viele erhielten in Deutschland Asyl oder den Status als Flüchtling.

Sprachrohr für die Community

Diese Syrer*innen bilden einen Teil der Diaspora, da sie politisch denken und ihr Engagement im Exil fortführen wollen. Hinzu kommen Menschen wie Mariana, die aus persönlichen Gründen – sei es die familiäre Situation oder das junge Alter – nicht an der Revolution beteiligt waren, diese aber inhaltlich mittragen. Und schließlich spielen Syrer*innen, die seit langem in Deutschland leben, eine wichtige Rolle beim Aufbau der Diaspora. Denn sie mussten ihr Verhältnis zur Heimat durch den Krieg neu sortieren und viele begannen, sich humanitär und politisch für Syrien zu engagieren.

Wie die Rechtsanwältin Nahla Osman, die als Kind syrischer Eltern in Rüsselsheim geboren wurde und 2011 mit einigen anderen den Deutsch-Syrischen Verein zur Förderung der Freiheiten und Menschenrechte (DSV) gründete. Ursprünglich sei es ihnen um politische Aufklärung gegangen, sagt Osman, doch angesichts der Not habe der DSV vor allem humanitär geholfen – mit medizinischer Versorgung, Unterkünften, Nahrungsmitteln, Geld für Schulen. Inzwischen kümmert sich der DSV nicht nur um Vertriebene in Syrien und in der Türkei, sondern auch um die Integration der Syrer*innen in Deutschland, etwa über Bildungspatenschaften, die bei Bewerbungen und Behördenbriefen helfen.

Nahla Osman
Nahla Osman © privat

Nahla Osman arbeitet als Fachanwältin für Migrationsrecht zu Fragen des Aufenthalts und der Einbürgerung. Innerhalb der syrischen Gemeinschaft gilt sie als wichtige Ansprechpartnerin für juristische Themen. Nebenbei ist die 41jährige Mitglied des Vorstands im Verband Deutsch-Syrischer Hilfsvereine (VDSH), eines Dachverbandes für bundesweit etwa zwei Dutzend Vereine, die zu humanitären oder politischen Themen rund um Syrien und die Syrer*innen in Deutschland arbeiten. „Der VDSH wäre gerne ein Sprachrohr für die Syrer*innen, denn diese müssten als zweitgrößte migrantische Gemeinschaft ihre Interessen besser vertreten“, meint sie. Leider sei der VDSH aber noch zu unbekannt. Es gebe zu viele Vereine, die nichts voneinander wüssten, so Osman. „Statt Erfahrungen auszutauschen und zusammenzuarbeiten, machen alle das gleiche und oft nur halb“, kritisiert sie. Hinzu komme, dass sich syrische Akteure mitunter gegenseitig das Leben schwer machen statt aufeinander zuzugehen.

Wir müssen üben, uns zuzuhören, sachlich zu argumentieren und die Meinung des anderen zu respektieren.

Ein Phänomen, das die gesamte syrische Diaspora betrifft, denn der anhaltende Konflikt in der Heimat vergiftet das Zusammenleben im Exil. In Deutschland treffen Verwandte von Folteropfern auf ehemalige Geheimdienstler, Kämpfer islamistischer Milizen auf Armeeangehörige, Oppositionelle auf Regimeanhänger. In manchen Städten gibt es Vereine, die seit Jahrzehnten enge Verbindungen zur syrischen Botschaft pflegen – mit ihnen wollen regimekritische Aktivisten nicht kooperieren, auch aus Sicherheitsgründen. „Das Regime hat seine Spitzel überall“, sagt Anwältin Osman. Wer hier gegen Assad agiert, bringe automatisch seine Familie in Syrien in Gefahr.

Gesellschaft zerrissen

Die Stimmung innerhalb der Diaspora spiegelt insofern das größte Problem der Syrer*innen wider: die Zerrissenheit der syrischen Gesellschaft. Misstrauen und Hass sind durch den Krieg weiter gewachsen, ohne Aussicht auf ein Ende der Gewalt, eine Aufarbeitung der Verbrechen und Gerechtigkeit ist ein Aussöhnungsprozess nicht vorstellbar.  Was fehlt, ist ein einendes Band.

© Getty Images

Seit der Staatsgründung 1930 ist es nicht gelungen, eine syrische Identität zu entwickeln, die sämtliche Bevölkerungsgruppen als gleichberechtigte Bürger miteinschließen würde. Der Panarabismus der seit 1963 regierenden Baathpartei und die Herrschaft der Assads seit 1970 haben jeden offenen Diskurs über ein gemeinsames Selbstverständnis verhindert. Generationen von Syrer*innen sind morgens in Schuluniform angetreten, um Assad und die arabische Nation hochleben zu lassen. Was die Menschen  bis heute zusammenhält, ist deshalb entweder ihr Nationalismus oder die eigene Konfession. Je nachdem, ob ein Syrer Araber oder Kurde ist, ob er Sunnit, Christ, Alawit oder Druse ist, entstammt er einer bestimmten Lebensrealität, die von seiner Gemeinschaft geprägt ist.

Raus aus der Blase

In dieser Atmosphäre habe die Revolution anfangs wie ein Befreiungsschlag gewirkt, weil sich Menschen aus allen Teilen des Landes für eine gemeinsame Sache begeistert hätten, meint Mariana Karkoutly. „Wir haben das erste Mal mit Leuten aus Deir al-Zor, Daraa, Tartous und Hasaka geredet, jeder war bereit, seine eigene Blase zu verlassen, um die anderen kennenzulernen“, erinnert sich die Aktivistin.

Diesen Prozess will sie mit der von ihr mitgegründeten Initiative Visions For Syria in Deutschland fortsetzen – ein loser Zusammenschluss von jungen Syrer*innen, die sich besser vernetzen wollen. Letztes Jahr veranstaltete Visions For Syria ein politisches Camp, bei dem 40 Teilnehmende  drei Tage lang über Identität, Genderfragen, Minderheiten und die Folgen der Revolution diskutierten. Die meisten seien begeistert gewesen, erzählt Mariana – auch weil sie viel voneinander erfahren hätten.

Die Syrer*innen müssten dringend lernen, besser zu kommunizieren, meint Mariana. „Wir müssen üben, uns zuzuhören, sachlich zu argumentieren und die Meinung des anderen zu respektieren“, sagt sie. Daneben wäre politische Bildung hilfreich, allerdings gehe der Lernprozess dabei in beide Richtungen, betont Mariana, die zwischen 2015 und 2017 in der Flüchtlingshilfe aktiv war. Sie diskutierte mit Bezirksbürgermeisterinnen über die untragbaren Zustände in manchen Unterkünften und mit AfD-Politikern über die Lage in Syrien. Ihr Fazit: „Viele Deutsche brauchen politische Bildung genauso wie Geflüchtete.“

Zerstörtes Porträt Baschar al-Assads
© Getty Images

Große inhaltliche Übereinstimmung

Tatsächlich ergibt sich aus den Anliegen der syrischen Diaspora und den aktuellen Entwicklungen in Deutschland eine interessante thematische Überschneidung. Denn beim zivilgesellschaftlichen Kampf gegen das syrische System geht es um genau jene Errungenschaften, die in Europa inzwischen nicht mehr genügend gewürdigt, infrage gestellt oder sogar systematisch abgebaut werden: Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung. Es gibt deshalb eine große inhaltliche Übereinstimmung zwischen dem, was sich diese Syrer*innen für ihre Heimat wünschen, dem, was sie hier erlernen wollen und dem, was für die deutsche Gesellschaft insgesamt grundlegend, aber nicht mehr selbstverständlich ist.

Höchste Zeit, politisch aktive Syrer*innen als Partner*innen in einem gemeinsamen Kampf für Bürgerrechte und Freiheit zu sehen. Eine solche Allianz würde nicht nur die sich formierende syrische Diaspora stärken, sondern auch das demokratische Selbstverständnis der deutschen Einwanderungsgesellschaft.

Mercator Fellowship-Programm

Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxisvorhaben zu widmen.

www.stiftung-mercator.de