Das
digitale Klassenzimmer

Illustration: Ein Tablet-Computer fliegt wie ein Papierflieger durch die Klasse.
Das
digitale Klassenzimmer
Autor: Matthias Klein 17.02.2020

In Sachen Digitalisierung habe sich in deutschen Schulen viel getan, sagt Ilka Huesmann vom Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Dennoch bestehe Handlungsbedarf: „Die Kompetenzen werden erst langsam aufgebaut.“

Frau Huesmann, die Digitalisierung wirkt sich auf alle Bereiche der Gesellschaft aus – was bedeutet das für den Schulunterricht?

Ilka Huesmann: Der Schulunterricht verändert sich auf mehreren Ebenen durch die Digitalisierung. Digitale Medien ermöglichen neue Lernformen: Lernen kann noch individueller werden, aber auch kollaboratives Arbeiten bekommt eine neue Bedeutung. Ein Beispiel dafür ist das Arbeiten mit interaktiven Tools wie die digitale Pinnwand Padlet oder Google Docs, damit lassen sich Texte mit allen Schüler*innen einer Klasse gemeinsam bearbeiten. Zudem verändern sich die Lernumgebungen. Mit Lernvideos ist es Schüler*innen möglich, den Unterricht individuell zu Hause im Sinne des Flipped Classroom-Konzepts vorher vorzubereiten. Dadurch bleibt im Unterricht mehr Zeit für die Vertiefung der Inhalte. Damit ändert sich die Rolle der Lehrkräfte: Sie werden eher zu Lernbegleiter*innen. Das ist die Zukunft.

Wie können Tools oder Apps sprachliches Lernen unterstützen?

Huesmann: Sie lassen sich sehr gut einsetzen, wenn man die digitalen Medien als Hilfe für den Unterricht versteht. Grundsätzlich können sie alle Aspekte des sprachlichen Lernens bereichern, das Lesen und Zuhören, das Sprechen und Schreiben oder die Reflexion über Sprache, wenn es zum Beispiel darum geht, Fake News zu erkennen oder verschiedene Sprachregister zu unterscheiden.

Wie kann das konkret aussehen?

Huesmann: Eine Anwendung kann ein digitales Lesetagebuch sein. Mit einem Tool lässt sich ganz einfach eine Website erstellen, auf der alle Schüler*innen ein solches Tagebuch zu einem Buch führen, das sie im Unterricht lesen. Sie dokumentieren dort unter anderem ihren Lesefortschritt und schreiben selbst Texte zu diesem Buch, ob Zusammenfassungen einzelner Kapitel oder klassische Aufgaben wie einen inneren Monolog einer Figur.

Ilka Huesmann
© Ilka Huesmann

Ilka Huesmann

Ilka Huesmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt in der Entwicklung von Online-Tools für die Planung und Umsetzung sprachsensiblen Unterrichts.

Nun könnte man ketzerisch sagen, ein solches Tagebuch ließe sich auch analog als Papier-Tagebuch führen.

Huesmann: Das stimmt. Es ist insofern ein gutes Beispiel, als es beim Einsatz von digitalen Medien im Unterricht immer darum geht, ob die neuen Medien vorhandene ersetzen, ergänzen oder einen ganz neuen Mehrwert schaffen. Das sollten sich die Lehrkräfte immer fragen. Ein digitales Lesetagebuch hat den Vorteil, dass die Schüler*innen damit ihre Digitalkompetenzen stärken. Es lässt sich beispielsweise eine Einheit über Veröffentlichungen im Internet in den Unterricht einbauen: Welche Regeln sind zu beachten? Wie sieht es mit dem Urheberrecht aus? Oder: Welche Schreibformate sind möglich? Welche sind online gefragt? Ein anderes Beispiel sind Lernvideos und Podcasts. Die Schüler*innen lernen damit neue Kompetenzen, bei einem Podcast zum Beispiel etwas über die Aussprache oder die besondere Struktur von solchen Texten.

Viele Lehrkräfte sind motiviert, die neuen Möglichkeiten zu nutzen. Aber die Kompetenzen dafür fehlen noch.

Wie häufig nutzen die Lehrkräfte in Deutschland denn schon die digitalen Möglichkeiten?

Huesmann: Studien zeigen, dass noch vor wenigen Jahren kaum Lehrkräfte digitale Medien eingesetzt haben. Inzwischen hat sich viel getan, mittlerweile ist es bei den meisten Lehrkräften Teil ihres Unterrichts. Aber im internationalen Vergleich sind andere Länder viel weiter, in Dänemark ist das längst schon selbstverständlich.

Woran liegt das?
Huesmann: Bislang hängt der Einsatz digitaler Medien im Unterricht in Deutschland sehr von der individuellen Einstellung der Lehrkraft ab. Das Thema ist zwar schon Bestandteil des Referendariats in manchen Bundesländern, aber es ist kein fester Teil innerhalb des Studiums. Hier müsste man meiner Meinung nach ansetzen. Es ist eine didaktische Kompetenz zu reflektieren, welches Medium für welche Unterrichtseinheit sinnvoll ist. Und schließlich müssen in den Schulen Freiräume für Experimente geschaffen werden. Lehrkräfte sollten nicht gezwungen werden, sondern Lust bekommen, mit den Möglichkeiten zu arbeiten.

Welche Kompetenzen brauchen Lehrkräfte?

Huesmann: Ein Aspekt neben technischen und methodischen Kompetenzen sind neue Bedingungen des Lernens, zum Beispiel des Lesens am Screen. Studien zeigen: Menschen lesen Texte auf einem Screen anders als Texte auf Papier. Lesen am Screen ist eher ein „Scannen“, also ein oberflächliches, eher überfliegendes Lesen. Das ist problematisch, weil viele Menschen ja gerade Sachtexte am Screen lesen – und deshalb wäre ein vertieftes Verständnis besonders wichtig. Für die Lehrkräfte heißt das, dass sie dies im Unterricht thematisieren und reflektieren sollten.

Was sind Erfolgsfaktoren?

Huesmann: Es muss gelingen, an den Schulen eine positive Einstellung zu digitalen Medien zu schaffen. Wichtig ist darüber hinaus, dass Kooperationen selbstverständlich werden: Lehrkräfte innerhalb einer Schule müssen sich austauschen, ebenso Schulen untereinander. Dabei sollten sie auch best practice-Beispiele und Unterrichtsmaterialien teilen, davon können ja andere lernen. Und schließlich sind Weiterbildungen sehr wichtig. Viele Lehrkräfte sind motiviert, die neuen Möglichkeiten zu nutzen. Aber die Kompetenzen dafür fehlen noch, sie werden erst langsam aufgebaut. Da ist noch viel Luft nach oben. Entscheidend ist: Digitalisierung ist in der Schule keine Querschnittsaufgabe, sondern muss, wie auch die sprachliche Bildung, fachspezifisch gedacht werden. Das heißt, dass digitale Tools in jedem Fach unterschiedlich zum Einsatz kommen.

Mercator-Institut für Sprach­förderung und Deutsch als Zweitsprache

Das Mercator-Institut für Sprach­förderung und Deutsch als Zweitsprache ist ein durch die Stiftung Mercator initiiertes und gefördertes Institut der Universität zu Köln. Es will sprachliche Bildung verbessern. Mit seiner Forschung und seinen wissenschaftlichen Service­leistungen zu sprachlicher Bildung in einer mehr­sprachigen Gesellschaft trägt das Mercator-Institut zu mehr Chancen­gleichheit im Bildungs­system bei.

www.mercator-institut-sprachfoerderung.de


 

Mercator Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache