Integration ist Arbeit ist Integration

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Integration ist Arbeit ist Integration
Autorin: Sally Wilkens Fotos: Benne Ochs, Stefanie Loos 04.06.2019

Ein wichtiger Baustein für gelungene Integration ist das Gefühl, gebraucht zu werden. Rasha Albnayat hat es. Die Syrerin wird in Deutschland Kranken­schwester.

Es bleibt der Tag, an dem es nicht mehr um die Geburt, sondern um den Tod ging. Der Tag, an dem Rasha Albnayat, Kranken­schwester auf der Frühchen­station, in der Not­auf­nahme der Klinik arbeiten musste, weil die Bomben auf ihre Heimat­stadt Hama fielen. Mehr möchte sie darüber nicht sagen, es ist weit weg. Heute pflegt die 25-jährige Syrerin Patienten auf der Station 35 im dritten Stock des Vivantes-Klinikums in Berlin-Neukölln. Hier kümmert sie sich um Menschen, die an der Lunge operiert wurden, und absolviert die übliche Ausbildung zur Gesund­heits- und Kranken­pflegerin. Dass das so ist, hat Rasha ihrem Bruder, einer unbekannten Frau aus München, dem Programm „Sprach­kompetenz und Berufs­orientierung für Geflüchtete“ (SpraBo) und ihrem eigenen Willen zu verdanken. In Deutschland fehlen in der Pflege Tausende Arbeits­kräfte – laut der Gewerk­schaft Verdi allein 80.000 in Kliniken. Auch die Diakonie Deutsch­land fordert 60.000 neue Stellen in der Alten­pflege.

Rasha sortiert den Visitenwagen für den Rundgang zu den Patienten.
Rasha sortiert den Visitenwagen für den Rundgang zu den Patienten. © Benne Ochs
„Wie geht es Ihnen denn heute?“, fragt Rasha Patientin Silke Langfeld.
„Wie geht es Ihnen denn heute?“, fragt Rasha Patientin Silke Langfeld. © Benne Ochs

Typisch Rasha: „Dann frage ich eben nach“

Rasha möchte genau das: Alte und Kranke pflegen. „Ich war zu Beginn meiner Aus­bildung hier auf der Geriatrie, und das ist meine Wunsch­abteilung. Ich vermisse die Alten da, die sind lieb“, sagt sie und lacht, wissend, dass das kein typischer Satz einer 25-Jährigen ist. Dann erzählt sie von ihrem Opa. Sonntags auf seinem Schoß zu sitzen und seinen Geschichten zu lauschen, das sind ihre schönsten Kind­heits­erinnerungen. Wohl deshalb verbringt sie gerne Zeit mit alten Menschen. So hat sie auch Deutsch gelernt. „Wenn ein 90-Jähriger vor dir sitzt und mit dir reden möchte, dann musst du es einfach versuchen.“ Das ist für Rasha eine Frage des Respekts. „Ich habe immer nach­gefragt: ‚Können Sie das noch mal anders aus­drücken?‘ So habe ich gelernt – jeden Tag ein bisschen mehr.“ Ein typischer Rasha-Satz: „Dann frage ich eben nach.“

Rasha landete mit dem ersten Flug ihres Lebens am 19. April 2017 in Berlin-Tegel. „Ich konnte nur ‚Hallo‘ sagen und habe mich gewundert: Die Deutschen umarmen gern und oft“, erinnert sie sich. Ihrem Bruder Basel war 2015 die gefährliche Flucht aus Hama nach Berlin gelungen. Der heute 27-Jährige kämpfte jahre­lang dafür, dass seine kleine Schwester im Rahmen des Landes­auf­nahme­programms nach­kommen durfte. Der Berliner Verein „Flüchtlings­paten Syrien“ organisierte schließlich alles. Eine ihr unbekannte Frau aus München unter­schrieb eine Bürgschaft für die Syrerin.

Der engagierte Pflegepädagoge Dr. Hagen Tuschke und Rasha
Der engagierte Pflegepädagoge Dr. Hagen Tuschke will von Rasha wissen: „Wie gefällt es dir auf dieser Ausbildungsstation?“ © Benne Ochs

Im dreimonatigen Deutschkurs sprach Rasha kaum ein Wort. „Ich habe mich am Anfang nie getraut zu reden, wollte keine Fehler machen. Ich bin Perfektionistin.“ Durch den Verein der Flüchtlings­paten lernte sie dann Dr. Hagen Tuschke kennen, und er ermutigte sie. Der promovierte Diplom­pflege­pädagoge am Institut für berufliche Bildung im Gesund­heits­wesen und Vivantes-Projekt­leiter von SpraBo sagt: „Arbeit ist wichtig, denn Integration funktioniert, wenn sich Menschen gebraucht fühlen.“

Chefarzt Dr. Stephan Eggeling erklärt Rasha die Funktionen der Thorax-Pumpe.
Chefarzt Dr. Stephan Eggeling erklärt Rasha die Funktionen der Thorax-Pumpe. © Benne Ochs
Neben der Eingangstür zum Pausenraum hängt der Spruch der Woche.
Neben der Eingangs­tür zum Pausen­raum hängt der Spruch der Woche. © Benne Ochs

In den Beruf hinein­schnuppern

Mit dem Programm SpraBo reagierte Vivantes 2016 als größter kommunaler Kranken­haus­konzern Deutschlands auf den akuten Personal­mangel und die vielen Geflüchteten in der Stadt. Die Idee: In einem sechsmonatigen Berufs­orientierungs­programm schnuppern die Teil­nehmenden in den Klinik­all­tag hinein und besuchen berufs­spezifischen Deutsch­unter­richt. Zusammen mit dem Berliner Kranken­haus Charité sucht Vivantes so neue Arbeits­kräfte. Rasha konnte ihre Aus­bildung im Oktober letzten Jahres beginnen, wie sie wurden 20 von den 80 SpraBo-Teil­nehmenden über­nommen.

Rasha sagt, dass sie nur dank Hagen Tuschke bei SpraBo gelandet ist, dank ihm den B2-Deutsch­test bestanden und den Aus­bildungs­platz bekommen hat – so erinnert sie sich an ihre Integration. Der Projekt­leiter Tuschke sieht dagegen auch ihren Anteil daran: „Rasha ist extrem ehr­geizig und besteht eine Prüfung nach der anderen mit Bravour.“

Viele Geflüchtete arbeiten lieber ungelernt

Dr. Tanja Kiziak kennt sich aus mit den großen Themen unserer Zeit: Zuwanderung, Integration und demografischer Wandel. Sie ist promovierte Sprach­wissen­schaftlerin und stell­vertretende Geschäfts­führerin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Hier beschäftigt sie sich mit dem Projekt „Zuwanderer von morgen“, in dem es um Migrations­potenziale verschiedener Welt­regionen und die nach­haltige Arbeits­markt­integration von Geflüchteten geht. Kiziak: „Besonders gut funktionieren Programme wie SpraBo, die einer­seits berufs­spezifische Deutsch­kurse und anderer­seits eine Berufs­orientierung bieten.“ Denn: Neben mangelnden Sprach­kenntnissen zeigt sich in vielen Fällen auch ein mangelndes Wissen über das deutsche Aus­bildungs­system und den Arbeits­markt. „Viele der Geflüchteten unter­schätzen, wie wichtig Abschlüsse sind und dass sich eine Ausbildung lang­fristig auszahlt. Sie stehen oft unter Druck, schnell Geld verdienen zu müssen, etwa um die Familie in der Heimat zu unter­stützen. So kommt es, dass viele Geflüchtete lieber ungelernt arbeiten, als eine Aus­bildung zu beginnen“, sagt Kiziak. Insgesamt befanden sich im Juni 2018 gut 27.000 Menschen aus den acht wichtigsten Asyl­herkunfts­ländern in Ausbildung – das sind fast doppelt so viele wie noch ein Jahr zuvor.

Kiziak fordert: „In Deutschland leben derzeit über eine Million Geflüchtete mit anerkanntem Schutz­status, der ihnen rechtlich gesehen vollen Zugang zum Arbeits­markt gibt. Dieses Potenzial gilt es zu heben.“ Vieles spricht dafür, dass es Deutschland guttun würde, sich als Ein­wanderungs­land zu begreifen. Die Rahmen­bedingungen dafür sind denkbar gut. Die Wirtschaft floriert, die Arbeits­losig­keit befindet sich auf dem tiefsten Stand seit der Wieder­vereinigung, und die Unter­nehmen sind auf zusätzliche Arbeits­kräfte angewiesen.

Dr. Tanja Kiziak, stellvertretende Geschäftsführerin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.
Dr. Tanja Kiziak, stell­ver­tretende Geschäfts­führerin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. © Stefanie Loos

Von der täglichen Angst um die Eltern

Doch nur wenige der Geflüchteten konnten vor der Flucht eine Berufs­aus­bildung abschließen, was oft auch am jungen Alter liegt. Rasha hat die Ausbildung zur Kranken­schwester in Hama abgeschlossen, aber dafür keinen Nachweis. „In Syrien machst du als Kranken­schwester nur medizinische Tätigkeiten: Blut abnehmen, so was. Pflege ist tabu. Bei uns waschen und pflegen die Angehörigen. Ich habe letztlich drei Jahre für nichts gelernt. Die Schule hat keine Zeugnisse ausgestellt, weil die Angst da war, dass alle damit das Land verlassen“, erklärt sie. Rashas Eltern, eine Kunst­lehrerin und ein Lkw-Fahrer, sind immer noch dort, erleben die Bomben­angriffe. Jeden Tag. „Ich habe ständig Angst. Ich bin so weit weg und kann nichts machen. Wir reden täglich per WhatsApp oder Messenger“, sagt Rasha. Eine Stütze vor Ort ist Hagen Tuschke. Rasha und er treffen sich weiter­hin, auch wenn das Projekt im Dezember 2018 auslief. Für den engagierten Pflege­pädagogen sind die „SpraBos fast wie seine eigenen Kinder“, denen er beim Deutsch­lernen hilft oder bei der Vorbereitung aufs Vor­stellungs­gespräch.

In Deutschland leben derzeit über eine Million Geflüchtete mit anerkanntem Schutzstatus, der ihnen rechtlich gesehen vollen Zugang zum Arbeitsmarkt gibt. Dieses Potenzial gilt es zu heben.

Dr. Tanja Kiziak, stell­ver­tretende Geschäftsf­ührerin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung

Stations­leitung mit Röntgenblick für Talente

„Solange ich arbeite, fühle ich mich sicher. Nur alle zwei Jahre muss ich zur Ausländer­behörde.“ Rasha erwähnt das fast bei­läufig, so als berichte sie von einem Besuch beim Bäcker. Arbeit nicht nur als Brot­verdienst, Arbeit als Halt, Arbeit als Hoffnung. Wer mit der Syrerin spricht, ist beeindruckt, dass sie erst vor zwei Jahren nach Deutschland kam. So souverän findet sie die richtigen Worte, so fröhlich erzählt sie von ihrem Aus­bildungs­all­tag und bringt die Patienten zum Lächeln.

So wie Silke Langfeld. Während Rasha den Sauer­stoff­gehalt im Blut der 59-jährigen Berlinerin misst, sprechen sie über das Wetter und darüber, wie fit die Frau schon wieder ist – nur 48 Stunden nach der OP. Die Ärzte mussten ein Viertel ihrer Lunge entfernen, weil ein Tumor dort seine Metas­tasen gestreut hatte. Nicht nur die Patienten halten viel von der Auszu­bildenden, sondern auch Elke Richter, die die Station 35 leitet. Das Urteil der 62-Jährigen: „Rasha hat ein Händchen für diesen Beruf. Wenn sie bei einem Patienten erhöhten Blut­druck fest­stellt, können wir uns darauf verlassen, dass sie dem nach­geht. Sie ist offen und sehr zu­verlässig. Das Pflege­team ist von Rasha und ihrer Geschichte beeindruckt. Ihre positive Aus­strahlung ist hervor­zuheben.“ Seit 15 Jahren führt Richter die Station. Sie hat einen Röntgen­blick für Talente.

Kurze Pause im Ausbildungsalltag. Rasha und Meredith Siland tauschen sich aus.
Kurze Pause im Ausbildungsalltag. Rasha und Meredith Siland tauschen sich aus. © Benne Ochs

Dr. Stephan Eggeling, Chefarzt der Klinik für Thorax­chirurgie und Leiter des Vivantes-Lungen­krebs­zentrums, hat ebenfalls gute Erfahrungen gemacht. „Geflüchtete sind oft sehr viel engagierter“, erklärt er. „Wer sich auf den Weg ins Ausland macht, ist selbst­ständig, ziel­strebig und bereit, sich für die Patienten einzu­setzen. Kulturell bedingt ist da oft ein sehr hohes Ansehen gegen­über Kranken und alten Menschen.“

Rasha träumt von einem Hund

Wie bei Rasha. Wovon träumt eine Auszubildende, die zurzeit von einem Brutto­verdienst von 1.140 Euro im Monat lebt? „Dass ich mir eine größere Wohnung leisten kann. Dann kaufe ich mir einen Hund. Einen Husky“, sagt sie. Ihre Wohnung misst 43 Quadrat­meter. Wenn sie nicht für die nächste Prüfung für die Berufs­schule lernt, trainiert sie spanische Vokabeln. „Spanisch ist sexy“, meint Rasha, lacht. Dieses Mal mit der Hand vor dem Mund.

Den Chef freut es. Eggeling: „Wir sind eines der führenden Lungen­krebs­zentren und Experten für Thorax­chirurgie. Bei uns landen die schweren Fälle, unsere Patienten sind sehr inter­national. Da ist es von Vor­teil, wenn unsere Mitarbeiter möglichst viele Sprachen sprechen. Es schafft Vertrauen, den Ablauf der OP in der eigenen Mutter­sprache erklärt zu bekommen.“

Im blauen Linoleumboden spiegeln sich die grellen Neon­röhren, es riecht nach Desinfektions­mittel, irgend­wo piept ein Alarm. Ein frisch operierter Patient schlurft in Schlappen über den Flur. Rasha schiebt den Visiten­wagen am Stations­zimmer vorbei zu den Patienten weiter hinten auf dem Korridor. Mit dem Kopf deutet sie auf einen in Klar­sicht­folie verpackten Spruch der Woche neben der Eingangs­tür zum Pausen­raum. Eingerahmt von bunten Blumen wird Nelson Mandela zitiert: „Es scheint immer unmöglich, bis es voll­bracht ist.“ Das mag kitschig klingen – bis Rasha sagt, dass sie das schon sehr oft in ihrem Leben gedacht hat.

Zuwanderer von morgen

Im Projekt „Zuwanderer von morgen“ untersucht das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung die Migrations­potenziale verschiedener Welt­regionen und die nach­haltige Arbeits­markt­integration von Geflüchteten.

www.berlin-institut.org