„Sprach­unterricht muss Daueraufgabe werden“

Schülerinnen im Unterricht
„Sprach­unterricht muss Daueraufgabe werden“
Autor: Matthias Klein 17.10.2017

Als im Spätsommer 2015 viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, rückte das Thema in den Fokus: Deutschlernen ist die zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Es sei gut gelungen, die Kinder in den Schulen zu integrieren, sagt Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, im Interview. Eine wesentliche Aufgabe sei nun, den Sprachunterricht im Regelsystem zu verankern.

Herr Becker-Mrotzek, in den vergangenen beiden Jahren sind viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen – konnten sie seitdem gut Deutsch lernen?
Becker-Mrotzek: Nach den Mühen des Anfangs werden nun die Probleme bei der dauerhaften Integration sichtbar. In den Jahren 2015 und 2016 kamen täglich viele neue Kinder, die auf die Schulen verteilt werden mussten. Zunächst fehlte es teilweise an Schulraum, es waren Container für den Unterricht nötig. Wer lange in Not- und Erstaufnahmeeinrichtungen leben musste, konnte oft gar nicht in die Schule gehen. Es musste viel improvisiert werden.

Ist das gelungen?
Es gibt keine Statistiken, ob die Integration funktioniert hat. Mein Eindruck ist: Schulen und Lehrkräfte haben von Anfang an sehr viel geleistet, um die vielen Kinder in den Schulen zu integrieren. Inzwischen haben viele die Vorbereitungsklassen, in denen man 12 bis 24 Monate Deutsch lernt, verlassen. Nun geht es darum, sie in den regulären Schulunterricht zu integrieren.

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek ist seit 2012 Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Zudem ist er Mitglied des Beirats für Integration und Teilhabe der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, des wissenschaftlichen Beirats der Zentralestelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) sowie der School of Education an der Universität Salzburg.

Wie gut funktioniert das?
Becker-Mrotzek: Es gibt drei Herausforderungen. Erstens sind die Regelklassen auch ohne die neuen Schüler oft schon sehr groß. Zweitens läuft die gezielte Förderung der Kinder aus. Das ist zu früh. In der Regel dauert es fünf bis sieben Jahre, bis man eine neue Sprache so beherrscht, dass man am regulären Unterricht teilnehmen kann. Wir brauchen jetzt weitere Unterstützung für die Kinder und Jugendlichen, die ja noch gar nicht lange in Deutschland sind. Das geht nur über Zusatzangebote außerhalb des regulären Unterrichts. Aber dazu fehlen oft Kapazitäten der Lehrer. Und drittens müssen die Lehrer sprachsensibel unterrichten. Das bedeutet, dass sie sich auch im Unterricht in Sachfächern wie Physik bewusst sein müssen, dass es eine sprachliche Hürde für einige ihrer Schüler gibt. In einigen Bundesländern sind dafür Weiterbildungsprogramme für Lehrer entwickelt worden. Diese sind sehr wichtig, aber es dauert noch einige Zeit, bis es ausreichend Absolventen gibt.

Die Kinder, die neu nach Deutschland gekommen sind, haben in der Regel eine hohe Motivation in der Schule.

Neben Flüchtlingen kamen auch andere Zuwanderer nach Deutschland. Gibt es zwischen diesen beiden Gruppen grundsätzliche Unterschiede beim Spracherwerb?
Becker-Mrotzek: Die Gruppe der Kinder, die neu nach Deutschland gekommen sind, ist sehr heterogen. Nur eine kleine Minderheit hat zuvor eine Schule besucht, die dem Gymnasium in Deutschland entspricht. Sie konnten sich besonders schnell ins deutsche Schulsystem integrieren. Viele Kinder konnten hingegen jahrelang gar nicht in die Schule gehen, zum Beispiel weil in ihrer Heimat Krieg herrschte. Sie haben es deutlich schwerer. Insgesamt kann man sagen: Die Kinder, die neu nach Deutschland gekommen sind, haben in der Regel eine hohe Motivation in der Schule.

Ist es generell einfacher die Sprache zu lernen, je jünger man ist?
Becker-Mrotzek: Grundsätzlich ja. Bei kleinen Kindern ist der Abstand in der Bildung noch nicht so groß, im Kindergarten kann ja noch kein Kind lesen und schreiben. Es gibt allerdings einen Faktor, der das etwas relativiert: Wer schon eine Fremdsprache gelernt hat, tut sich leichter, eine weitere zu lernen. Er hat schließlich bereits Erfahrungen mit dieser Art des Lernens gesammelt und eine Lernstrategie entwickelt.

Wenn Sie auf die kommenden Jahre blicken, was sind nun wesentliche Herausforderungen?
Becker-Mrotzek: Wir hatten in den 1970er und 1990er Jahren bereits eine hohe Zahl von Zuwanderern in Deutschland. Wir haben Erfahrungen gemacht, ihre Kinder in die Schulen zu integrieren. Als dann aber weniger Zuwanderer kamen, ist das Wissen verloren gegangen. In unserer Einwanderungsgesellschaft wird die Integration durch sprachliche Bildung eine Daueraufgabe sein. Wir können nicht immer nur kurzfristig Ad-hoc-Lösungen umsetzen, wir brauchen fest verankerte Strukturen im Regelsystem. Das bedeutet, dass sich die Bundesländer auf Mindeststandards verständigen müssten. Außerdem müsste es in jeder Schule Sprachzuständige geben, also Lehrer, die eine besondere Qualifikation für den Spracherwerb haben und sich speziell darum kümmern. Der aktuelle IQB-Bildungstrend 2016 für das Fach Deutsch, der die Leistungen von Grundschülern in der vierten Klasse unter anderem im Fach Deutsch untersucht, weist erstmals seit PISA eine negative Tendenz auf. Zuvor hatten sich die Leistungen stets verbessert. Sprachliche Bildung für alle Schüler, nicht nur für die neu zugewanderten, wird also ein wichtiges Thema bleiben. Davon sind wir momentan aber noch weit entfernt.

Mercator-Institut für Sprach­förderung und Deutsch als Zweitsprache

Das Mercator-Institut für Sprach­förderung und Deutsch als Zweitsprache ist ein durch die Stiftung Mercator initiiertes und gefördertes Institut der Universität zu Köln. Es will sprachliche Bildung verbessern. Mit seiner Forschung und seinen wissenschaftlichen Service­leistungen zu sprachlicher Bildung in einer mehr­sprachigen Gesellschaft trägt das Mercator-Institut zu mehr Chancen­gleichheit im Bildungs­system bei.

www.mercator-institut-sprachfoerderung.de


 

Mercator Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache