Viel gelernt, viel verändert, viel zu tun

Viel gelernt, viel verändert, viel zu tun
Autor: Matthias Klein 07.10.2020

Unterkünfte in Turnhallen oder lange Schlangen bei der Kleiderausgabe: Als vor fünf Jahren besonders viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, waren die Kommunen gefordert. Viele improvisierten, vieles gelang. Fachleute sagen: Die Akteure haben daraus gelernt – und heute hat das Thema einen anderen Stellenwert.

Die Leiterin des kommunalen Integrationszentrums im Kreis Lippe Alexandra Steeger im Porträt
Alexandra Steeger © privat

Vor ziemlich genau fünf Jahren, im Herbst 2015, merkte Alexandra Steeger, dass sich ihre Arbeit sehr stark verändern würde. Spricht man heute mit ihr darüber, erinnert sie sich noch gut. „Auf einmal kamen auch in unseren Kreis ganz viele Geflüchtete“, sagt Steeger. Sie leitet das Kommunale Integrationszentrum im Kreis Lippe, der östlich von Bielefeld liegt. „Von heute auf morgen waren wir extrem gefragt. Es gab auf einen Schlag unfassbar viel Arbeit.“ Die Bilder der vielen ankommenden Menschen sind bis heute vielen im Kopf. Angela Merkel sagte den berühmt gewordenen Satz „Wir schaffen das“.

Vor Ort war viel zu tun. „Es war bisweilen chaotisch. Niemand war auf das, was passierte, vorbereitet“, blickt Jörg Bogumil zurück. Der Professor für öffentliche Verwaltung an der Ruhr-Universität Bochum hat mehrere Studien zum Thema verfasst. „Die regulären Verfahren waren schlicht und einfach nicht mehr möglich“, sagt er. „Die Kommunen wussten zunächst gar nicht, was sie mit all den Menschen machen sollten, die plötzlich bei ihnen ankamen.“ Die Reaktion der Verwaltung? Sehr erfreulich, findet der Experte. „Die Kommunen haben weitgehend unbürokratisch reagiert, ganz flexibel.“

Ein Porträt von Jörg Bogumil. Professor für öffentliche Verwaltung an der Ruhr-Universität Bochum
Jörg Bogumil © RUB, Marquard

System an den Grenzen

Das erlebte auch Alexandra Steeger. „Die Kommunen wussten in dieser Zeit teilweise nicht, wo ihnen der Kopf steht. Das System kam an seine Grenzen“, beschreibt sie. „Manche Akteure waren verzweifelt, so viele Herausforderungen gab es gleichzeitig zu bewältigen.“

Auch ihre eigene Arbeit veränderte sich fundamental. Kümmert sie sich mit ihrem Kommunalen Integrationszentrum sonst eigentlich um strategische und konzeptionelle Arbeit, war nun plötzlich ganz praktische Arbeit gefragt. Der Bau von Unterkünften sollte begleitet werden. Lehrkräfte fragten nach Hilfe, weil sie plötzlich Sprachkurse anbieten sollten. „Wir haben ganz neu gedacht und andere Konzepte als zuvor erarbeitet“, erzählt Steeger. „An sehr vielen Stellen war gleichzeitig sehr viel Neues gefragt. Wir mussten sehr viel improvisieren.“

© Getty Images

Ein wichtiger Baustein: runde Tische, um die unterschiedlichen Akteure sowie die Angebote und Bedarfe zusammenzubringen. Schließlich wollten sich viele ehrenamtlich engagieren, mussten sich aber mit den professionellen Akteuren abstimmen. „Die Welle der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung war beeindruckend“, sagt Steeger. „Aber es war teilweise schwierig, alles in geordnete Bahnen zu lenken.“

Welle der Hilfsbereitschaft

Das Lenken des Engagements habe unterschiedlich gut funktioniert, sagt Wissenschaftler Bogumil im Rückblick. Bei allen Schwierigkeiten sei das aber insgesamt gut gelaufen. Anders als bisweilen behauptet könne nicht von einem Staatsversagen gesprochen werden: „Viele Bereiche der Verwaltung sind gut organisiert. Sie können auf Situationen wie diese, auf die man sich nicht vorbereiten kann, kurzfristig reagieren.“

Anders als bisweilen behauptet kann nicht von einem Staatsversagen gesprochen werden.

Jörg Bogumil

Fünf Jahre später liegt nun die Aufmerksamkeit auf anderen Themen. Steeger und Bogumil sind sich einig, dass sich in Sachen Integration seitdem vieles positiv entwickelt hat. „Zunächst ging es darum, die Flüchtlinge unterzubringen und satt zu bekommen“, sagt Steeger. „Das Konzeptionelle kam danach. Das ist inzwischen passiert.“

Jetzt stehen neue Herausforderungen an. Die Mehrheit der Geflüchteten waren jünger als 25 Jahre, als sie in Deutschland ankamen, erinnert Bogumil. „Ausbildung und Weiterbildung sind nach wie vor wichtige Aufgaben. Aber es fehlt an Angeboten.“ Gerade in diesem Bereich sei die Verwaltung gefragt: „Es hakt hier an einigen Stellen, weil die Zuständigkeiten manchmal nicht eindeutig zu klären sind.“ Hinzu kämen viele Fragen im Detail, zum Beispiel zum Bafög, wenn jemand zuvor schon in Syrien ein Studium begonnen hat. „Es gibt meiner Ansicht nach ein Problembewusstsein in Politik und Verwaltung. Aber es dauert, alle Regelungen anzupassen. Und bisweilen nutzen nicht alle Mitarbeitenden in den Verwaltungen die Spielräume, die ihnen das Recht lässt.“

Neue Angebote

Auch bei Alexandra Steeger hat sich manches verändert. Inzwischen arbeiten in ihrem Integrationszentrum 20 Mitarbeitende, mehr als doppelt so viele wie 2015. „Das Thema Zuwanderung ist etabliert“, berichtet sie. „Alle haben aus der Situation damals viel gelernt.“ Und Neues geschaffen, das bleibt. Ein Beispiel aus dem Kreis Lippe: Sprachmittler*innen. Das sind Muttersprachler*innen, die für ein kleines Honorar für Übersetzertätigkeiten vermittelt werden. Mehr als 80 sind im Kreis inzwischen registriert, sie decken mehr als 30 Sprachen ab. „Das ist schon beeindruckend“, sagt Steeger.

Wissenschaftler Bogumil hebt ebenfalls hervor, dass das Thema nun eine andere Bedeutung hat. „Integration hat einen höheren Stellenwert bekommen“, fasst er zusammen. „Aber ob das dazu führt, dass das Integrationsklima in den Verwaltungen dauerhaft besser wird, kann man noch nicht sagen. Wir müssen abwarten, wie sich das langfristig entwickelt.“

Landesweite Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren

Die Landesweite Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren ist die zentrale Stelle des Landes Nordrhein-Westfalen für die Beratung, die Begleitung und den Informationsaustausch der Kommunalen Integrationszentren.

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