Einmischen erwünscht

Einmischen erwünscht
Autorin: Carola Hoffmeister Fotos: Alexandra Beier 27.07.2021

Nur ein einziges Windrad dreht sich im Landkreis Ebersberg bei München. Trotzdem möchte die Region bis 2030 klima­neutral werden. Wie kann das funktionieren? Zehn Ebers­berger*innen ließen sich darauf ein, die Potenziale der Windkraft für ihre Heimat zu ergründen und der Bevölkerung schmackhaft zu machen.

Ebersberg im gleichnamigen Landkreis im September 2020: In dem kleinen Städtchen mit Rokoko-Wall­fahrts­kirche und schnee­weißem Rathaus treffen sich zehn Einheimische in einer Gaststätte. Das jüngste Mitglied der Gruppe ist 20, das älteste 59 Jahre alt. Sie alle nehmen teil an dem Projekt „Aktiv BüKE “: Die Abkürzung steht für „Aktive Bürger­expert*innen für Klima­wandel und Energie­wende im Land­kreis Ebersberg“. „Ich hatte mich vorher schon mit Nach­haltig­keit beschäftigt“, sagt die 26-jährige Lea Steiner, die in Ebersberg auf­gewachsen ist und im ausgebauten Dach­geschoss im Haus ihrer Eltern lebt. „Trotzdem war ich am Anfang völlig planlos, was uns erwartet.“ „Mir ging es genauso“, bestätigt Florian Blacha, 22. „Wir waren ja alle Lai*innen und bunt zusammen­gewürfelt. Aber es war gut zu wissen, dass wir in dem kommenden halben Jahr ein gemeinsames Ziel vor Augen haben.“ Am Ende sollte ein Plan stehen, wie der Landkreis bis 2030 seinen Strombedarf bilanziell selbst über erneuerbare Energien decken kann.

Lea Steiner
Lea Steiner hat beim Projekt "Aktiv BüKE" mitgemacht. © Alexandra Beier
Florian Blacha
Ebenfalls mit dabei war Florian Blacha. © Alexandra Beier

Konzept zur Energie­wende von engagierten Lai*innen

Aktiv BüKE geht auf eine Initiative der Deutschen Umwelthilfe (DUH), der Medical School Hamburg (MSH) und der Technischen Universität München zurück. Das Projekt möchte vor allem jüngere Menschen zur aktiven Teilhabe an der aktuellen Klima­politik ermutigen – und zwar als sogenannte Citizen Scientists. Also als Bürger­wissen­schaftler*innen, die mit Neugier und Engagement ein Thema so voran­treiben, dass Politik und Wissenschaft davon profitieren. Es gibt solche Projekte in jeglichen Fach­richtungen. Das Robert Koch-Institut wertet zum Beispiel im „GrippeWeb“ anhand gespendeter Daten von Bürger*innen das Aufkommen von Erkältungs­erkrankungen aus. Bei „Blitzortung.org“ dokumentieren Lai*innen, die sich fort­gebildet haben und die von Wissen­schaftler*innen unter­stützt werden, elektro­magnetische Wellen und schicken ihre Blitz­daten an Wetter­dienste, Energie­versorgungs­unternehmen, Versicherungen und andere Sach­verständige, die sie auswerten und damit arbeiten.

In Ebersberg wurde den Aktiv-BüKE-Teilnehmenden in verschiedenen Informations­veranstaltungen zunächst Basis­wissen zur Energie­wende vermittelt. Genauso zu anderen Bereichen wie dem Bau­planungs­recht, das etwa bei der Installation von Anlagen zur regenerativen Strom­gewinnung wichtig ist. In der konkreten Planungs­phase wurden sie begleitet von Wissen­schaftler*innen der Technischen Universität München, der Medical School Hamburg sowie des Fraunhofer-Instituts für Graphische Daten­verarbeitung. Nach dem ersten Treffen in Präsenz fanden pandemie­bedingt alle weiteren Veranstaltungen online statt. „Und das war gut so!“, ist Florian Blacha über­zeugt. „Denn wir hatten unendlich viele Fragen: Welche Möglichkeiten haben wir, erneuerbaren Strom zu produzieren? Wollen wir Wind- oder Sonnen­energie nutzen? Wie viel Wind- und Sonnenenergie wird nötig sein? Was sind Vor- und Nach­teile von Biogas? Wo dürfen überhaupt Wind­räder oder Photo­voltaik­anlagen aufgestellt werden? Aus den ursprünglich acht Workshops sind viel mehr Termine geworden, und online war das kein Problem.“

Im Landkreis Ebersberg... © Alexandra Beier
...fließt der Strom bisher aus konventionellen Quellen. © Alexandra Beier

Das Leben vor der eigenen Haustür beeinflussen

Lea Steiner ist Vermessungs­ingenieurin und studiert außerdem Geografie in München. Sie hat sich bereits als Jugendliche für Nach­haltigkeit engagiert – mit vegetarischer Ernährung und einem weitgehend plastik­frei gestalteten Alltag. Doch damit stieß sie irgend­wann an ihre Grenzen. „Das eigene Umdenken, der eigene Verzicht helfen vielleicht, das Mindset einer Gesellschaft ein Stück weit zu verändern“, sagt sie. „Aber ich hatte immer das Gefühl, dass es kaum Auswirkungen hat. Dass der Flug, den ich nicht antrete, später nicht messbar sein wird. An Aktiv BüKE hat mich gereizt, erstmals selbst politisch aktiv zu werden und einen größeren Hebel als mein eigenes Verhalten in der Hand zu halten.“

Ähnlich ging es Florian Blacha. Seine Eltern, die regelmäßig das Greenpeace-Magazin lasen, prägten ihn. Als er sich in der vierten Klasse mit der Abholzung des Regen­walds beschäftigte, war er maximal schockiert. „‚Warum macht denn niemand was dagegen?‘ Diese Frage habe ich mir immer wieder gestellt und als Kind keine Antwort gefunden. Ich habe dann privat gemacht, was ich konnte, unter anderem versucht, plastik­frei zu leben, was alles andere als ein triviales Unter­fangen ist“, erzählt der Maschinen­bau­student. Aber genau wie Lea hatte er den Eindruck, dass es vielleicht sinnvoller wäre, seine Energie in ein größeres Vorhaben zu stecken und damit mehr zu erreichen.

Im Projekt sind Lea Steiner und Florian Blacha zu Citizen Scientists geworden. Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen haben sie begleitet und mit Wissen zur Energiewende ausgestattet. © Alexandra Beier

Florian, Lea und ihre Mitstreiter*innen sollten während der Laufzeit des Aktiv-BüKE-Projekts festlegen, wie die Menschen in ihrem Landkreis mit Strom aus erneuerbarer Energie versorgt werden. Dafür „befüllten“ sie ein 3-D-Modell des Ebersberger Landkreises, erstellt vom Fraunhofer Institut für Grafische Datenverarbeitung, mit Windrändern und Photovoltaik-Anlagen. Und sie sollten mit anderen über Umwelt­schutz ins Gespräch kommen – mit Eltern, Freund*innen, Kommiliton*innen, Kolleg*innen, Nachbar*innen und Journalist*innen. Eine Art Gras­wurzel­bewegung vor der eigenen Haustür.

Sind Sonnen­kollektoren schön oder hässlich?

In der genauen Planung des Strom­bedarfs konnten die Bürger*innen auf einen bereits vorliegenden Meilen­stein­plan zurück­greifen, den eine Energie­agentur aus dem Landkreis erstellt hatte. Dieser geht von 702 Gigawattstunden Stromverbrauch im Jahr 2030 aus. Dafür wären unter anderem mindestens 26 Windanlagen nötig. Zusätzlich Sonnenkollektoren, die sich auf 27.000 Dächern und 290 Hektar Freifläche verteilen. Darüber, wo die Energie­anlagen auf­gestellt werden, damit sie sich gut ins Landschafts­bild einfügen, gab es zahl­reiche Diskussionen. Schließlich setzte sich die Idee durch, die Solar­zellen wie Bänder entlang von Bahngleisen, einer Bundes­straße und einer Autobahn zu verlegen. „Mir erschien das auf Anhieb sinnvoll, weil man eine bestehende Infra­struktur nutzt und einfach verbreitert“, erzählt Lea Steiner. „Aber in den Schulungen wurde klar, dass man das auch ganz anders sehen kann. Denn indem man bestimmte Gegenden weiter bebaut und andere frei hält, wertet man die Region je nachdem auf oder ab.“ Florian Blacha ergänzt: „Außerdem sagt die Überlegung ‚An der Autobahn stören die Solar­anlagen am wenigsten’ viel über den Stellen­wert von regenerativem Strom in der öffentlichen Wahr­nehmung aus. Man könnte ja auch umgekehrt sagen: ‚Toll, dass man durch die Sonnen­kollektoren direkt sehen kann, wie umwelt­freundlich die Anwohner*innen sind.‘“

Wer braucht wo wie viel Strom? Und wo platziert man die Infrastruktur dafür? © Alexandra Beier

Doch so weit ist es vielerorts noch nicht. Insbesondere zur Windkraft halten sich zahl­reiche Vorurteile. Es heißt, die Windräder würden unschöne Schatten werfen, sie würden den Wert der benachbarten Immobilien schmälern, und sie seien mit 50 Dezibel zu laut. 50 Dezibel entsprechen quakenden Fröschen oder dem durch­schnittlichen Straßen­verkehr. So dreht sich im Landkreis Ebersberg, auf einer Fläche so groß wie der Bodensee, bislang nur ein einziges Windrad. Die geringe Nutzung der Winden­ergie im Freistaat Bayern liegt nicht nur an möglichen Ängsten der Ein­wohner*innen, sondern vor allem an der sogenannten 10-H-Regel der Bayerischen Bauordnung von 2014. Sie besagt, dass ein Windrad mindestens das Zehnfache seiner Höhe von Wohn­bebauung entfernt sein muss. Also müsste die Siedlung von einem 200 Meter hohen Windrad mindestens zwei Kilometer entfernt liegen – was im dicht besiedelten Ebersberg kaum möglich ist.

Aber die Kraft des Windes gilt auch jenseits der Küsten als zentrale Zukunfts­technologie und Voraus­setzung für eine erfolg­reiche Energie­wende. „Wir haben deshalb vorgeschlagen, den 10-H-Abstand zu unterschreiten und in jeder der 21 Kommunen des Landkreises ein Windrad zu errichten“, fasst Florian Blacha zusammen. „Zumal wir in einer wissenschaftlichen Studie gesehen haben, dass die Akzeptanz von Wind­rädern nicht wächst, wenn der Abstand zu den Häusern und Wohnungen größer ist. Es ließ sich auch nicht beweisen, dass die oft befürchtete Geräusch­belästigung mit zunehmender Nähe größer wird.“ Zusammen mit einer weiteren Aktiv-BüKE-Teilnehmerin stellte Lea Steiner das Konzept der 21 Windräder für 21 Kommunen im März verschiedenen Kreis­politiker*innen aus Ebersberg vor. „Dort bekamen wir viel Beifall für unsere Idee, vor allem der Aspekt einer gerechten Verteilung der Windräder fand viel Anklang. Erstaunlicherweise sogar von der CSU, die die 10-H-Regel auf den Weg gebracht hat und die entgegen aller Kritik an ihr festhält.“

Bis 2030 will Ebersberg aus Kohle- und Atomstrom aussteigen. Dann soll der Energiebedarf komplett aus erneuerbaren Quellen kommen. © Alexandra Beier

Nicht nur Luftschlösser gebaut

Doch reichen Applaus und Anerkennung? Lea Steiner und Florian Blacha haben unzählige Zoom-Fortbildungen besucht. Sie haben zusammen mit ihren Mit­streiter*innen einen Blog gestaltet und ihre Vision von einer klima­freundlichen Zukunft geteilt. Überall warben sie für die Akzeptanz für regenerative Energien und versuchten, Ängste, beispielsweise vor Windrädern, durch Einfühlungsvermögen und wissenschaftliche Hinter­grund­informationen zu nehmen. Außerdem haben sie ihre Ideen öffentlich vorgestellt und mit Bürger­meister*innen und Kreis­rät*innen diskutiert – also das gemacht, was normaler­weise Politiker*innen tun. Inzwischen haben sich die ansässigen Bürgermeister*innen beim Thema Windenergie zu einem Vorgehen entschieden, das auf dem Fairnessgedanken von Aktiv-BüKE basiert. Das heißt, viele Gemeinden möchten die Planung für die Windenergieanlagen mit einer gerechten Aufteilung gemeinsam auf den Weg bringen.

Fazit ist: Die Ideen der Aktiv-BüKE-Gruppe werden in naher Zukunft nicht Realität, das war von Anfang an klar. Doch sie konnte Denk­anstöße in die Kommunal­politik einbringen und nicht nur das Interesse von Menschen in ihrem Umfeld wecken, sondern auch das der Medien. Unter anderem die Süddeutsche Zeitung und der Bayerische Rundfunk berichteten mehrmals über sie. Welches Fazit ziehen sie nach einem halben Jahr für ihren Landkreis? „Der große Aha-Moment an dem Projekt war für mich, zu sehen, wie viel einerseits nötig ist, um den täglichen Strom­bedarf zu decken und um wie geplant bis 2030 frei von fossilen und anderen endlichen Energie­trägern zu werden“, so Lea Steiner. „Im Gegen­satz dazu das Zögern der Politiker*innen zu erleben war zermürbend. Rechtliche Hindernisse machen alles zusätzlich frustrierend schwer. Gleich­zeitig habe ich das Gefühl, was ich auch meiner Jugend zuschreibe, dass ich jetzt umso mehr möchte, dass sich etwas ändert. Deshalb werde ich wahrscheinlich weiterhin politisch aktiv bleiben.“ Florian Blacha nimmt es ähnlich wahr und fühlt sich ebenfalls motiviert, dranzubleiben. „Unsere Planungen sind keine Utopie. Es geht – auch bei uns hier im Süden von Deutschland. Wenn man will, geht es.“

Aktive Bürgerexpert*innen für Klimawandel und Energiewende

Die von der Stiftung Mercator geförderte Initiative „Aktive Bürger­expert*innen für Klima­wandel und Energie­wende“ (Aktiv BüKE) versucht mithilfe eines innovativen Ansatzes, die Bürger*innen vor Ort stärker an der Planung von erneuer­baren Energien zu beteiligen und somit einen aktiven Beitrag bei der Erreichung der deutschen Klima­schutz­ziele zu leisten.

https://aktivbueke.de/