So bringen wir die ÖPNV-Verkehrswende voran
Auto fahren können – aber nicht müssen: Hierfür braucht es einen flächendeckenden öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Doch der lässt in Deutschland noch zu wünschen übrig, meint Agora Verkehrswende. Für ihren ÖV-Atlas erhebt der Thinktank wichtige Daten, um die deutsche Verkehrswende voranzubringen. Projektleiter Philipp Kosok erklärt, welche Maßnahmen es für diese braucht.
Wer im Landkreis Straubing-Bogen, nördlich von München, an eine Haltestelle kommen will, muss gut zu Fuß sein und Zeit mitbringen. Denn die Region ist bei einer Studie des gemeinnützigen Verkehrsbündnisses „Allianz pro Schiene“ deutschlandweit auf dem letzten Platz gelandet, was die Versorgung mit Bussen und Bahnen anbelangt. Nur 18 Prozent der Menschen leben dort in 600 Meter Entfernung zur nächsten Bus- oder Bahnhaltestelle mit 14 Fahrten am Tag. Eine entnervte Mutter berichtete dem Bayerischen Rundfunk von ihren Erfahrungen. In ihrer Gegend gebe es „einfach nix“. Ihre Tochter pendle jeden Tag zehn Kilometer zum Zug, mit dem sie dann nach Landshut zu ihrer Schule fährt. Ihr Ehemann müsse das Auto für die 30 Kilometer zur Arbeit nehmen. Eine ÖPNV-Verbindung existiere nicht, mit dem Rad brauche er anderthalb Stunden.
Es sind persönliche Berichte wie diese, die den Nachholbedarf in Sachen ÖPNV-Ausbau verdeutlichen. Doch um die Transformation weiter anzustoßen, sind konkrete Zahlen nötig. Mit dem mittlerweile zum dritten Mal aufgelegten „ÖV-Atlas“ bietet Agora Verkehrswende eine Übersicht über den öffentlichen Verkehr (ÖV) in Deutschland. Er zeigt, wie oft und in welchem Takt Busse und Bahnen abfahren – auf dem Land wie in der Stadt.
Philipp Kosok ist seit Oktober 2020 bei Agora Verkehrswende für den Bereich Öffentliche Verkehre zuständig. Sein Schwerpunkt liegt auf der raschen Leistungssteigerung der Bus- und Bahninfrastruktur als Rückgrat der Verkehrswende, der Integration neuer Mobilitätsdienste in den bestehenden ÖPNV und die Verlagerung des Stadt-Umland-Verkehrs in den Umweltverbund.
ÖV-Atlas bringt Licht ins (Daten-)Dunkel
Je dunkler die Farbe auf der interaktiven Karte, desto höher ist die Fahrtendichte und desto besser das Angebot. Im jüngsten ÖV-Atlas wird neben dem ÖPNV-Angebot auch die Pkw-Dichte abgebildet. „Teil der Verkehrswende ist, dass wir den motorisierten Verkehr nicht nur elektrifizieren, sondern auch reduzieren, indem Menschen vermehrt Bus und Bahn nutzen“, sagt Philipp Kosok, Projektleiter Öffentlicher Verkehr bei Agora Verkehrswende.
Auffällig, jedoch wenig überraschend ist das klare Stadt-Land-Gefälle. In Metropolregionen oder mittelgroßen Städten funktioniert der ÖPNV weitgehend gut. Bus und Bahn sind eng getaktet, oft gibt es auch ein Radwegenetz. Die Daten des ÖV-Atlas zeigen, dass in München, Frankfurt am Main und Berlin auf einer Fläche von einem Quadratkilometer im Schnitt alle 54 Sekunden ein Bus oder eine Bahn abfahren. Finden in Großstädten täglich 910 Fahrten pro bebautem Quadratkilometer statt, sind es in den Kleinstädten und auf dem Land nur noch 55 Fahrten pro Tag. Entsprechend ist das ÖPNV-Angebot dort keine attraktive Alternative zum Auto.
Sozial gerechter durch öffentlichen Nahverkehr
Die deutsche Mobilitätswende hin zu mehr öffentlichem Personennahverkehr habe zudem eine soziale Komponente, betont Philipp Kosok. „Wir sind der Ansicht, dass es ein garantiertes Grundangebot mit öffentlichem Verkehr überall in Deutschland geben sollte, ganz egal wo man wohnt.“ Niemand solle auf ein Auto angewiesen sein. Er verweist darauf, dass es neben dem Klimaschutz auch um ein sozialpolitisches, gesellschaftliches Anliegen gehe. Es zahle sich für die Menschen aus, die kein eigenes Auto hätten und immobil seien: Personen mit geringem Einkommen, Schüler*innen, Menschen mit Behinderung oder Ältere. Aber auch Menschen, die für ihr soziales Netzwerk viele Hol- und Bringdienste übernähmen und damit die Mobilität für andere absicherten. Für sie wäre ein garantiertes Grundangebot von Bus und Bahn ein großer Gewinn.
Erste Verkehrsvorbilder aus Deutschland
Die Arbeit von Agora Verkehrswende zeigt bereits Wirkung. „Kommunalpolitiker*innen, lokale Initiativen oder Verkehrspolitiker*innen nutzen unsere Daten, um mit dem belastbaren Datenbestand regionale Debatten zum Nahverkehr zu führen“, sagt Philipp Kosok. Mit Erfolg: Im fränkischen Schwabach beispielsweise reagierte man auf das löchrige ÖV-Angebot mit Stadt-Taxis auf Abruf, die zum Bustarif fahren. Umfassender ist das Pilotprojekt SMILE24 an Schlei und Ostsee, das Buslinien, On-Demand-Shuttles sowie Car- und Bikesharing zusammenführt. Auch diese Angebote bildet der ÖV-Atlas in Daten ab. Er ist damit ein leicht zugängliches Instrument, das die Diskussion um den Ausbau des ÖV-Angebotes unterstützt.
Verkehrswende: Schweiz als Ziel
Wie die Zukunft der Mobilität aussehen kann, zeigen schon heute die ÖPNV-Angebote in Österreich, der Schweiz und Luxemburg. Hier gilt in der öffentlichen Diskussion der Grundsatz: Schiene vor Straße. Die Analysen von Agora Verkehrswende dokumentieren ein sehr hohes Ausbauniveau der drei Staaten: Selbst in alpinen Dörfern in der Schweiz wird regelmäßig im Halbstundentakt gefahren. Luxemburg leistet sich sogar einen kostenlosen Nahverkehr. „In der Schweiz, Österreich oder Luxemburg wird über einen sehr langen Zeitraum deutlich mehr Geld in die Bahninfrastruktur und das Angebot investiert“, stellt Philipp Kosok fest. „In Deutschland kommt diese Debatte leider nicht so richtig von der Stelle.“ Dennoch räumt er ein, dass aktuell immerhin die Bundesmittel für den Nahverkehr erhöht würden. So könnten Bund, Länder und Kommunen gemeinsam für alle Menschen ein Grundangebot von Mobilität sichern – und die Klimaschutzziele im Verkehr schneller erreichen.
Agora Verkehrswende
Agora Verkehrswende ist ein Thinktank für klimaneutrale Mobilität mit Sitz in Berlin. Im Dialog mit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft setzt sich die überparteiliche und gemeinnützige Organisation dafür ein, die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor auf null zu senken. Dafür entwickelt das Team wissenschaftlich fundierte Analysen, Strategien und Lösungsvorschläge.
www.agora-verkehrswende.de