Mobiles Morgen

Autor: Julien Wilkens Fotos: Reinaldo Coddou 30.11.2021

Wo geht es lang in ein Leben mit weniger Autoverkehr? Das fragen sich immer mehr Städte und Kommunen in Deutschland. Welches Verkehrs­mittel wie viel öffentlichen Raum bekommen sollte, was eine Stadt lebens­wert macht, das wird im inter­disziplinären Projekt „Verkehrs­wende erleben“ untersucht. Das Besondere: Bürger*innen bringen sich ein und gestalten mit.

In den Sechzigerjahren wurden viele Städte autogerecht umgebaut. Heute, in Zeiten von Klimakrise und Homeoffice, stellt sich an den Kreuzungen von Frankfurt, Hamburg und Berlin immer öfter die Frage: Welches Verkehrs­mittel soll wie viel öffentlichen Raum bekommen? In den Debatten geht es um kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, Verbot von Verbrennern in den Innen­städten und mehr Platz für den Radverkehr. Gleichzeitig rollen so viele Autos über Deutschlands Straßen wie niemals zuvor, ein Drittel der Neuzulassungen sind SUVs, von Gegner*innen als „Stadtpanzer“ gebrandmarkt. Die Pandemie hat die Mobilitäts­wende ausgebremst, die Nutzung des ÖPNV sank im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 um 70 bis 80 Prozent. Danach waren 50 bis 60 Prozent weniger Fahrgästinnen und -gäste mit Bussen und Bahnen unterwegs als in der Zeit vor Corona. Dafür stieg der Radverkehr zwischen elf und 48 Prozent an – aufgrund neu eingerichteter Pop-up-Radwege. Das ergab eine Studie von Sebastian Kraus und Nicolas Koch vom Berliner Klima­forschungs­institut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change) für 106 europäische Städte.

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Sollen Städte so bleiben? Wollen wir als Gesellschaft das Auto ins Zentrum stellen? Die Gegner*innen sagen: Automobile sind gänzlich immobil und stehen 23 von 24 Stunden am Tag bloß herum. Sie nehmen im Fall von Berlin gut 15 Prozent der Fläche ein, verpesten die Luft und gefährden Kinder und Senior*innen. Auf der anderen Seite führen die fehlenden Nah­verkehrs­verbindungen, die Unsicherheit beim Radfahren und schlichtweg der Komfort, im eigenen Wagen von A nach B zu kommen, dazu, dass das autozentrierte System auch weiterhin den Takt vorgibt. Die Konflikte um die städtische Mobilität im Autoland Deutschland stellen die Kommunen vor große Herausforderungen. Die Technische Universität Berlin erarbeitet deshalb im inter­disziplinären Projekt „Verkehrswende erleben“ gemeinsam mit den Forschenden des Wissenschafts­zentrums Berlin für Sozial­forschung und der Initiative paper planes e. V. ein „Starterkit“ für die Verkehrswende in Städten. Ziel ist es, als Blaupause für die Kommunen ein Handbuch mit Bildern zu erstellen, wie alle Verkehrsteilnehmenden eingebunden und auf dem Weg einer Dekarbonisierung des Verkehrs für bessere Lebens­qualität und mehr Klima­gerechtigkeit mitgenommen werden können.

Verkehrsschild Fahrradstraße
Achtung: Auf Fahrradstraßen haben nicht etwa Fahrradfahrer*innen immer Vorfahrt, sondern es gilt rechts vor links. © Reinaldo Coddou
Fahrradstraße
Bitte hier entlang! Im Berliner Stadtbild werden Fahrradwege immer präsenter. © Reinaldo Coddou
Fahradfahrer:innen
Auch an Hauptverkehrsachsen der Hauptstadt wie der Prenzlauer Allee sind mehr und mehr Fahrräder unterwegs. © Reinaldo Coddou

Beteiligung mit Bildern

„Es geht nicht nur um den Klimawandel durch den CO2-Ausstoß. Es geht auch um die Fragen: Was macht eine Stadt lebens­wert? Wie wollen wir in Zukunft leben?“, erklärt Dr. Birgit Böhm, Leiterin des Projekts an der Berliner TU, in einem Zoom-Interview. „Wofür soll der öffentliche Raum genutzt werden, auf dem im Moment noch sehr viele Autos parken und die meiste Zeit dort stehen? Gleichzeitig haben wir hier ein Spannungs­verhältnis mit dem Bedarf der Menschen an Flexibilität und an Sicherheit bezüglich ihrer Mobilität“, erklärt Dr. Böhm. Das Projekt arbeitet dabei gezielt mit Bildern, die von paper planes entworfen werden, einem Berliner Team von Architekt*innen und Stadt­planer*innen. „Partizipation geschieht oft über Texte. Bilder führen dazu, dass einerseits alle Beteiligten sich das besser vorstellen können, und andererseits kommt man über Bilder besser ins Gespräch“, so Dr. Böhm.

52 Bürger*innen konnten im Rahmen des Partizipations­formats Bürger­gutachten durch Planungs­zellen ausführlich dazu Stellung nehmen, wie die Zukunft der urbanen Mobilität aussehen sollte, und Empfehlungen zu ersten Bildentwürfen abgeben.

Zufällige Auswahl der Teilnehmenden

„Wir haben 2.200 Adressen vom Einwohnermeldeamt per Zufall ziehen lassen und diese angeschrieben“, berichtet Böhm. Rund die Hälfte waren je männlich und weiblich, zwei Teilnehmende divers, die Alters­spanne reichte von 18 bis 64 Jahren. „Die Hälfte besitzt ein eigenes Auto, die andere nicht“, sagt die Forscherin, „doch das war eher ein glücklicher Zufall, denn diese Angabe war nicht in der Zufalls­stich­probe enthalten.“ Auch wenn die Auswahl im strikten statistischen Sinne zu klein ist, um repräsentativ sein zu können, so soll sie doch „ein breites Spektrum von Perspektiven widerspiegeln“, sagt die Expertin.

Roger Apitz ist für den Job aufs Auto angewiesen.
Roger Apitz ist für den Job aufs Auto angewiesen. © Reinaldo Coddou

„Ich fand es spannend, dass ich eher eine Außen­seiter­rolle hatte – weil ich überwiegend mit dem Auto fahre“, sagt Roger Apitz. Der 55-Jährige wohnt am Stadtrand im östlichen Berlin, in der Nähe von Hönow. Mit dem Auto fährt er über die notorisch verstopfte Frankfurter oder Landsberger Allee in die Innenstadt. „Eine Stunde brauche ich allemal“, erklärt er. Der IT-Fachmann nimmt in der Freizeit auch mal das Fahrrad. Aber: „Ich habe rund 100 Kilo Equipment für Arbeiten an Computer­systemen dabei, wenn ich zu Kund*innen in die Stadtmitte muss. Das kann ich nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln transportieren.“

Wenn Welten aufeinander­prallen

Berlin plant 3.000 Kilometer an neuen Radwegen. Viele Autospuren werden dem steigenden Raumbedarf der Radfahrenden Platz machen müssen, etliche sind bereits gewichen. „Früher kannte man ja auch die Schleichwege, zwanzig Minuten habe ich da durch die Stadt gebraucht.“ Heute sei das unmöglich mit den vielen Pop-up-Radwegen, Baustellen, Einbahn­straßen und den Diagonal­sperren, also Pollern, die das Abkürzen durch Wohngebiete unterbinden. Daher stellt Apitz sich an, quetscht den Diesel-Dienstwagen durch die beiden östlichen Haupt­verkehrs­adern der Stadt. Die Frankfurter Allee wurde von drei auf zwei Spuren verkleinert – ein Unding für solch eine wichtige Verbindung, meinen Auto-Anhänger*innen. Für Radfahrende ist die Situation jedoch nach wie vor unsicher. Im Mai dieses Jahres starb eine 37-Jährige auf ihrem Fahrrad, als sie dort einem Falschparker auf dem Radweg auswich und von einem Lkw überfahren wurde.

Welches Verkehrs­mittel soll wie viel öffentlichen Raum bekommen? Auf Fahrradstraßen haben Fahrräder Vorrang
Welches Verkehrs­mittel soll wie viel öffentlichen Raum bekommen? Auf Fahrradstraßen haben Fahrräder Vorrang © Reinaldo Coddou

Was ist eigentlich diese Verkehrswende?

Die Vorgehensweise: Die Teilnehmenden bekamen Informationen darüber, was die Verkehrs­wende ist und was es für inter­nationale Beispiele gibt. „Die Teilnehmenden haben Vorträge gehört und hatten die Möglichkeit, Fragen zu stellen“, so die Expertin. Anschließend wurden Fragen in kleinen Gruppen mit jeweils wechselnder Zusammen­setzung diskutiert.

Josephine Hübner ist die jüngste Teilnehmerin und fährt gerne Fahrrad
Josephine Hübner ist die jüngste Teilnehmerin und fährt gerne Fahrrad © Reinaldo Coddou

Ziel ist die autofreie Stadt

Mit 18 Jahren war Josephine Hübner die jüngste Teilnehmerin. „Im Allgemeinen finde ich, dass Autos zu viel Platz im Vergleich zu Fahrrädern und ÖPNV haben“, fasst sie ihre Einstellung zusammen. Die Studentin, die im Berliner Stadtteil Reinickendorf wohnt, wünscht sich eine autoarme Stadt, doch eigentlich ist „die autofreie Stadt das Ziel“, sagt sie. „Mir ist klar, dass das nicht von heute auf morgen geht, aber wir als Gesellschaft müssen jetzt schon so viele autofreie Flächen wie nur möglich schaffen.“ Josephine Hübner engagiert sich bei der Klimabewegung „Fridays for Future“, um die Klimakrise abzuwenden. Für sie ist klar: Dort, wo es zurzeit noch nicht ohne motorisierten Individual­verkehr geht, sollten es E-Autos sein, keine Verbrenner. Meistens ist sie mit der S-Bahn oder dem Rad unterwegs. Von den Vorträgen erinnert sie eine Perspektive besonders: „Wir als Gesellschaft haben Autos in die Städte gelassen. Wir als Gesellschaft können sie jetzt wieder daraus verbannen. Warum eigentlich nicht?“

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Perspektive wechseln

Vor allem, weil es Schnittmengen gibt zwischen den Positionen. Der IT-Fachmann Apitz erklärt: „Wenn ich am Stadt­rand mit einer Person auf dem Rad losfahre, sehe ich sie am Alex wieder.“ Die 25 Kilometer lege er so schnell zurück wie jemand mit dem Rad. „Wenn es eine grüne Welle gäbe, könnte es von mir aus Tempo 25 geben, aber man würde entspannter durch­kommen“, meint er. Auch gegen Elektro­autos habe er nichts. Die 18-jährige „Fridays for Future“-Aktivistin Hübner sagt leicht verhalten: „Ich werde den Führerschein machen müssen – leider –, weil ich für Events Material transportieren und dann ein Auto aus einer Car­sharing-Flotte mieten muss.“ Und damit nimmt sie die Position von Apitz ein.

„Manche der Teilnehmenden haben da zum ersten Mal daran gedacht, dass man das Auto auch zum Transport von schwerem Material oder Werkzeug benutzen muss und man nicht alles mit der U-Bahn machen kann“, erinnert sich Apitz an die Planungszellen und damit den Perspektiv­wechsel. Das „Starterkit“ soll 2022 bereitstehen.

Verkehrswende erleben

Die Technische Universität Berlin erarbeitet im inter­disziplinären Projekt „Verkehrs­wende erleben“ gemeinsam mit den Forschenden des Wissen­schafts­zentrums Berlin für Sozial­forschung und der Initiative paper planes e. V. ein „Starterkit“ für die Verkehrs­wende in Städten. 2022 soll es ein Handbuch mit Visualisierungen geben, die eine konkrete Vorstellung der Verkehrs­wende vor Ort ermöglichen.
www.wzb.eu/verkehrswende-erleben