Muss sich Deutschland neu erfinden, Kristina Jeromin?

Der Industriestandort Deutschland steht unter Druck, denn die nachhaltige Transformation der Wirtschaft duldet keinen Aufschub mehr. Doch Kritiker*innen aus Industrie und Politik warnen vor einer Deindustrialisierung im Namen der Nachhaltigkeit. Welche Weichen muss die neue schwarz-rote Bundesregierung nun stellen, damit Unternehmen mitziehen? AufRuhr hat bei Transformationsexpertin Kristina Jeromin nachgefragt.
Ein sonniger Mittwochvormittag am Berliner Spreeufer. Tourist*innen schlendern durch die zusammengewürfelten Bauten des Holzmarktes 25. Gentrifizierung und der Geist vergangener Subkultur prallen hier direkt aufeinander. Ein guter Ort, um über Veränderung zu sprechen. Mittendrin sitzt, hellwach und gut aufgelegt, Kristina Jeromin. Sie ist Expertin für Transformationsfinanzierung und soll heute zwei große Fragen beantworten: Muss Deutschland sich neu erfinden? Und ist die neue Bundesregierung dazu in der Lage?
„Die gute Nachricht ist: Es gibt im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zu unserem Industriestandort. Er soll in die Zukunft geführt werden“, sagt Jeromin. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Flat White. „Wie das genau passieren soll, ist aber nicht systemisch hergeleitet.“ Interessante Einzelmaßnahmen gebe es, aber keine übergreifende Strategie zur Weiterentwicklung der deutschen Wirtschaft. Klar, es hätte zuletzt alles sehr schnell gehen müssen, räumt sie ein: die vorgezogenen Neuwahlen im Februar, die Abstimmung zur Schuldenbremse, der Koalitionsvertrag. Und das, während draußen die Weltpolitik tobt. „Jetzt muss die neue Regierung in die Umsetzung kommen“, sagt sie.

Kristina Jeromin ist Expertin für Transformationsfinanzierung und seit 2024 Co-Leiterin der Initiative „Made in Germany 2030“. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Finanzbranche, Realwirtschaft und Politik. Ihr Fokus liegt auf deren effizienten Verzahnung, um den industriellen Strukturwandel Deutschlands erfolgreich zu gestalten und sicher zu finanzieren.
Kristina Jeromin ist Co-Leiterin der Initiative „Made in Germany 2030“ und kennt den politischen Betrieb aus vielen Perspektiven. Sie arbeitet seit rund 15 Jahren an der Schnittstelle von Industrie, Politik und Finanzbranche. 2021 war sie selbst Bundestagskandidatin für das Bündnis 90/Die Grünen. Mit dem Thinktank „Made in Germany 2030“ entwickelt sie Strategien, wie sich die deutsche Wirtschaft finanzmarktkompatibel transformieren lässt. „Die Investitionsoffensive mittels Sondervermögen ist ein gutes Zeichen“, findet sie. „Ein Staat, der an sich selbst glaubt, beteiligt sich auch an der Finanzierung seiner Zukunft. Doch das Geld muss so eingesetzt werden, dass es auch private Kapitalströme mobilisiert.“
Ein Staat, der an sich selbst glaubt, beteiligt sich auch an der Finanzierung seiner Zukunft.
Kennzahlen sind nicht alles
Transformation als Prozess, den man planen, gestalten und mit Kennzahlen steuern kann, für einzelne Unternehmen, Wirtschaftssektoren oder eben für eine Volkswirtschaft. Das klingt vernünftig, aber nicht sonderlich mitreißend. Die studierte Geistes- und Politikwissenschaftlerin stimmt zu: Kennzahlen seien kein Selbstzweck, auch wenn es in der Debatte um die ESG-Regularien – Berichtspflichten von Unternehmen über die Bereiche Umwelt, Soziales und Unternehmensführung – manchmal so scheinen mag. „Wir sollten in Deutschland viel mehr darüber sprechen: Was wollen wir erreichen? Wie soll die deutsche Industrie in Zukunft aussehen? Und dann von den Antworten sinnvolle Kennzahlen ableiten.“
Eine Vision, der große Wurf, fehlt ihr im Klein-Klein der deutschen Tagespolitik. Zwar habe sich Deutschland zu den internationalen Klimazielen verpflichtet, doch das sei zu wenig, so Jeromin: „Wir müssen definieren, was diese allgemeinen Ziele für einzelne Sektoren und die verschiedenen Ebenen des föderalen Systems bedeuten.“
Die drei Dimensionen der Transformation
Aber Transformation braucht nicht nur Geld, sondern auch das Vertrauen der Unternehmen, die sie mittragen sollen. Jeromin erläutert: „Die nachhaltige Transformation hat drei Dimensionen, die gleichzeitig ablaufen und aufeinander abgestimmt werden müssen. Die erste Dimension ist die schmerzhafteste: der Abbau bestehender Kerngeschäfte. Wir haben in der fossilen Industrie Wertschöpfungsketten, die wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können.“ Da in diesem Zuge Arbeitsplätze wegfallen würden, brauche es ein klares Zielbild von einer zukunftsfähigen Wertschöpfung, die Beschäftigung und Wohlstand sichere.


Der Umbau von bestehenden Wertschöpfungsketten sei die zweite Dimension der Transformation: „Ein Material wie Stahl werden wir auch in Zukunft brauchen – nur nachhaltig produziert wie zum Beispiel durch grünen Wasserstoff.“ Der Umbau eines solch gewaltigen Industriezweiges erfordere entsprechende Investitionen und verbindliche Zusagen der Politik. Ohne diese Sicherheit gehe die Risiko-Rendite-Abwägung für potenzielle Investoren nicht auf. „Die Wirtschaft wird entlang von politischen Rahmenbedingungen optimiert. Die müssen klar sein und konsequent durchgezogen werden“, so Jeromin. „Wir können bestimmte Entscheidungen nicht immer wieder neu diskutieren. Es gibt einen zu starken Zickzackkurs, auch von vergangenen Regierungen.“ Es reiche beispielsweise nicht, von einer Wasserstoffstrategie zu sprechen, man müsse diese auch umsetzen. Gezielte Infrastrukturmaßnahmen wie diese seien ein zentraler Erfolgsfaktor für den Strukturwandel der deutschen Wirtschaft.
Gefordert sei die Politik auch bei der dritten Dimension der Transformation, dem Aufbau neuer Kerngeschäfte, sagt Kristina Jeromin: „Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen in Deutschland Start-ups gründen und ihre Ideen hier auch zu Geschäftsmodellen weiterentwickeln.“
„Transformation braucht ein Zuhause in der Bundesregierung“
Wir halten fest: Eine groß angelegte Veränderung braucht Geld, Vertrauen und Verbindlichkeit. Braucht Abbau, Umbau und Aufbau, Kennzahlen und ein verlässliches Zielbild. Also in Summe ganz schön viel. Kann Deutschland das, Frau Jeromin? „Für mich ist die Frage: Trauen wir uns zu, das zu schaffen?“, meint sie. Eine Antwort zu finden, sei nun Aufgabe der schwarz-roten Koalition: „Das Thema Transformation braucht ein Zuhause in der Bundesregierung, zum Beispiel im Bundeskanzleramt, und einen klaren ressortübergreifenden Arbeitsplan.“ Dass Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft das Land gemeinsam zukunftsfähig machen, ist ihre Vision von einem Deutschland im Jahr 2030.
Kristina Jeromin nimmt ihren Kaffeebecher wieder in die Hand. Er ist fast unberührt. Hoch konzentriert hat sie in der vergangenen Stunde gesprochen, pointiert und nahbar. Politikprofi eben. Noch mal zurück zur Eingangsfrage: Muss sich Deutschland neu erfinden? „Nein, das glaube ich nicht“, sagt Kristina Jeromin. „Wir wissen, wo wir stehen, wir kennen die Herausforderungen und Chancen. Vielerorts sind wir schon losgelaufen. Jetzt heißt es: Anpacken und weitergehen!“
Made in Germany 2030
Die Initiative „Made in Germany 2030“ wurde 2024 ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, eine industriepolitische Finanzierungsstrategie für Deutschland zu entwickeln, um die nachhaltige Transformation des Wirtschaftsstandortes zu ermöglichen. Kristina Jeromin und Matthias Kopp, Leiter Sustainable Finance beim WWF Deutschland, leiten die Initiative und bringen Akteur*innen aus Wirtschaft, Finanzbranche und Politik an einen Tisch.