Muss sich Deutschland neu erfinden, Kristina Jeromin?

Kristina Jeromin
Muss sich Deutschland neu erfinden, Kristina Jeromin?
Autor: Philipp Nagels Fotos: Stefanie Loos 03.06.2025

Der Industriestandort Deutschland steht unter Druck, denn die nach­haltige Transformation der Wirtschaft duldet keinen Aufschub mehr. Doch Kritiker*innen aus Industrie und Politik warnen vor einer Deindustrialisierung im Namen der Nach­haltig­keit. Welche Weichen muss die neue schwarz-rote Bundes­regierung nun stellen, damit Unternehmen mitziehen? AufRuhr hat bei Transformations­expertin Kristina Jeromin nachgefragt.

Ein sonniger Mittwochvormittag am Berliner Spreeufer. Tourist*innen schlendern durch die zusammen­gewürfelten Bauten des Holzmarktes 25. Gentrifizierung und der Geist vergangener Subkultur prallen hier direkt aufeinander. Ein guter Ort, um über Veränderung zu sprechen. Mittendrin sitzt, hellwach und gut aufgelegt, Kristina Jeromin. Sie ist Expertin für Transformations­finanzierung und soll heute zwei große Fragen beantworten: Muss Deutschland sich neu erfinden? Und ist die neue Bundes­regierung dazu in der Lage?

„Die gute Nachricht ist: Es gibt im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zu unserem Industrie­stand­ort. Er soll in die Zukunft geführt werden“, sagt Jeromin. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Flat White. „Wie das genau passieren soll, ist aber nicht systemisch hergeleitet.“ Interessante Einzel­maßnahmen gebe es, aber keine über­greifende Strategie zur Weiter­entwicklung der deutschen Wirtschaft. Klar, es hätte zuletzt alles sehr schnell gehen müssen, räumt sie ein: die vorgezogenen Neuwahlen im Februar, die Abstimmung zur Schulden­bremse, der Koalitions­vertrag. Und das, während draußen die Welt­politik tobt. „Jetzt muss die neue Regierung in die Umsetzung kommen“, sagt sie.

Kristina Jeromin
© Stefanie Loos

Kristina Jeromin ist Expertin für Transformations­finanzierung und seit 2024 Co-Leiterin der Initiative „Made in Germany 2030“. Sie arbeitet an der Schnitt­stelle von Finanz­branche, Real­wirtschaft und Politik. Ihr Fokus liegt auf deren effizienten Verzahnung, um den industriellen Struktur­wandel Deutschlands erfolgreich zu gestalten und sicher zu finanzieren.

Kristina Jeromin ist Co-Leiterin der Initiative „Made in Germany 2030“ und kennt den politischen Betrieb aus vielen Perspektiven. Sie arbeitet seit rund 15 Jahren an der Schnitt­stelle von Industrie, Politik und Finanz­branche. 2021 war sie selbst Bundes­tags­kandidatin für das Bündnis 90/Die Grünen. Mit dem Thinktank „Made in Germany 2030“ entwickelt sie Strategien, wie sich die deutsche Wirtschaft finanz­markt­kompatibel transformieren lässt. „Die Investitions­offensive mittels Sonder­vermögen ist ein gutes Zeichen“, findet sie. „Ein Staat, der an sich selbst glaubt, beteiligt sich auch an der Finanzierung seiner Zukunft. Doch das Geld muss so eingesetzt werden, dass es auch private Kapitalströme mobilisiert.“

Ein Staat, der an sich selbst glaubt, beteiligt sich auch an der Finanzierung seiner Zukunft.

Kennzahlen sind nicht alles

Transformation als Prozess, den man planen, gestalten und mit Kenn­zahlen steuern kann, für einzelne Unternehmen, Wirtschafts­sektoren oder eben für eine Volks­wirtschaft. Das klingt vernünftig, aber nicht sonderlich mit­reißend. Die studierte Geistes- und Politik­wissen­schaftlerin stimmt zu: Kennzahlen seien kein Selbst­zweck, auch wenn es in der Debatte um die ESG-Regularien – Berichts­pflichten von Unternehmen über die Bereiche Umwelt, Soziales und Unternehmens­führung – manchmal so scheinen mag. „Wir sollten in Deutschland viel mehr darüber sprechen: Was wollen wir erreichen? Wie soll die deutsche Industrie in Zukunft aussehen? Und dann von den Antworten sinnvolle Kenn­zahlen ableiten.“

Eine Vision, der große Wurf, fehlt ihr im Klein-Klein der deutschen Tages­politik. Zwar habe sich Deutschland zu den inter­nationalen Klima­zielen verpflichtet, doch das sei zu wenig, so Jeromin: „Wir müssen definieren, was diese allgemeinen Ziele für einzelne Sektoren und die verschiedenen Ebenen des föderalen Systems bedeuten.“

Die drei Dimensionen der Transformation

Aber Transformation braucht nicht nur Geld, sondern auch das Vertrauen der Unternehmen, die sie mit­tragen sollen. Jeromin erläutert: „Die nach­haltige Transformation hat drei Dimensionen, die gleich­zeitig ablaufen und aufeinander abgestimmt werden müssen. Die erste Dimension ist die schmerz­hafteste: der Abbau bestehender Kern­geschäfte. Wir haben in der fossilen Industrie Wert­schöpfungs­ketten, die wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können.“ Da in diesem Zuge Arbeits­plätze wegfallen würden, brauche es ein klares Zielbild von einer zukunfts­fähigen Wert­schöpfung, die Beschäftigung und Wohlstand sichere.

Kristina Jeromin auf einer Bank im Grün der Hauptstadt. © Stefanie Loos
Kristina Jeromin
Ihre Vision für Deutschland 2030? Kristina Jeromin gibt Antworten. © Stefanie Loos

Der Umbau von bestehenden Wertschöpfungs­ketten sei die zweite Dimension der Transformation: „Ein Material wie Stahl werden wir auch in Zukunft brauchen – nur nachhaltig produziert wie zum Beispiel durch grünen Wasser­stoff.“ Der Umbau eines solch gewaltigen Industrie­zweiges erfordere entsprechende Investitionen und verbindliche Zusagen der Politik. Ohne diese Sicherheit gehe die Risiko-Rendite-Abwägung für potenzielle Investoren nicht auf. „Die Wirtschaft wird entlang von politischen Rahmen­bedingungen optimiert. Die müssen klar sein und konsequent durch­gezogen werden“, so Jeromin. „Wir können bestimmte Entscheidungen nicht immer wieder neu diskutieren. Es gibt einen zu starken Zick­zack­kurs, auch von vergangenen Regierungen.“ Es reiche beispiels­weise nicht, von einer Wasser­stoff­strategie zu sprechen, man müsse diese auch umsetzen. Gezielte Infra­struktur­maßnahmen wie diese seien ein zentraler Erfolgs­faktor für den Struktur­wandel der deutschen Wirtschaft.

Gefordert sei die Politik auch bei der dritten Dimension der Transformation, dem Aufbau neuer Kerngeschäfte, sagt Kristina Jeromin: „Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen in Deutschland Start-ups gründen und ihre Ideen hier auch zu Geschäfts­modellen weiter­entwickeln.“

„Transformation braucht ein Zuhause in der Bundesregierung“

Wir halten fest: Eine groß angelegte Veränderung braucht Geld, Vertrauen und Verbindlichkeit. Braucht Abbau, Umbau und Aufbau, Kennzahlen und ein verlässliches Zielbild. Also in Summe ganz schön viel. Kann Deutschland das, Frau Jeromin? „Für mich ist die Frage: Trauen wir uns zu, das zu schaffen?“, meint sie. Eine Antwort zu finden, sei nun Aufgabe der schwarz-roten Koalition: „Das Thema Transformation braucht ein Zuhause in der Bundes­regierung, zum Beispiel im Bundes­kanzler­amt, und einen klaren ressort­über­greifenden Arbeits­plan.“ Dass Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivil­gesellschaft das Land gemeinsam zukunfts­fähig machen, ist ihre Vision von einem Deutschland im Jahr 2030.

Kristina Jeromin nimmt ihren Kaffee­becher wieder in die Hand. Er ist fast unberührt. Hoch konzentriert hat sie in der vergangenen Stunde gesprochen, pointiert und nahbar. Politikprofi eben. Noch mal zurück zur Eingangs­frage: Muss sich Deutschland neu erfinden? „Nein, das glaube ich nicht“, sagt Kristina Jeromin. „Wir wissen, wo wir stehen, wir kennen die Heraus­forderungen und Chancen. Vielerorts sind wir schon los­gelaufen. Jetzt heißt es: Anpacken und weiter­gehen!“


Made in Germany 2030

Die Initiative „Made in Germany 2030“ wurde 2024 ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, eine industrie­politische Finanzierungs­strategie für Deutschland zu entwickeln, um die nach­haltige Transformation des Wirtschafts­stand­ortes zu ermöglichen. Kristina Jeromin und Matthias Kopp, Leiter Sustainable Finance beim WWF Deutschland, leiten die Initiative und bringen Akteur*innen aus Wirtschaft, Finanz­branche und Politik an einen Tisch.

made-in-germany-2030.de