„Kostenloser ÖPNV nicht sinnvoll“

„Kostenloser ÖPNV nicht sinnvoll“
Autor: Matthias Klein 02.03.2020

Bahn, Bus und Tram: Seit Sonntag ist der öffentliche Nahverkehr in Luxemburg kostenlos. Das sei mit Blick auf eine Verkehrswende nicht der richtige Weg, sagt Mobilitätsforscher Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung im Interview.

Herr Canzler, Luxemburg hat den kompletten Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) kostenlos gemacht. Ist das auf dem Weg zu einer Verkehrswende aus Ihrer Sicht der richtige Schritt?

Weert Canzler: Nein, ich glaube nicht, dass das die richtige Maßnahme ist. Der ÖPNV wird ja überall schon zu einem Teil aus Steuermitteln finanziert. Macht man ihn kostenlos, muss man die Einnahmeausfälle kompensieren und braucht noch erheblich mehr Geld im System. Das kann dann nur aus Steuern kommen. In Luxemburg mag das mit rund 40 Millionen Euro überschaubar sein. In Deutschland sieht das ganz anders aus, hier bräuchten wir einen zweistelligen Milliardenbetrag. Das ist nicht vorstellbar.

Luxemburg ist sehr staugeplagt. Ein Argument ist, dass sich durch den kostenlosen ÖPNV die Staus reduzieren sollen – ist das aus Ihrer Sicht überhaupt realistisch?

Canzler: Nein. Viele Pendler kommen aus dem umliegenden Ausland nach Luxemburg, zum Beispiel aus Deutschland. Diese sitzen sowieso zunächst im Auto. Und wir wissen aus der Forschung: Sitzt jemand erstmal im Auto, ist Hopfen und Malz verloren. Soll heißen: Dann bringt man ihn kaum dazu, etwa über Park and Ride-Parkplätze in der Stadt auf den ÖPNV umzusteigen.

Können wir in Deutschland trotzdem etwas von Luxemburgs Initiative lernen?

Canzler: Luxemburg ist ein Sonderfall. Es ist ein sehr kleines und sehr reiches Land. Die Fahrpreise für den ÖPNV waren ja schon vorher niedrig, Luxemburg hat rund 90 Prozent der ÖPNV-Kosten aus Steuermitteln finanziert. Insofern ist der Schritt nicht so groß, jetzt auch noch den Rest so zu finanzieren.

Weert Canzler
© David Ausserhofer

Dr. habil. Weert Canzler

Weert Canzler leitet die Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Zumal man ja sehen muss, dass es gleichzeitig Einsparungen gibt, weil die Infrastruktur für Tickets und Kontrollen wegfallen. Hinzu kommt: Luxemburg hat so viel Geld, dass das Land gleichzeitig in die Infrastruktur investieren kann, zum Beispiel in die Verlängerung des Tramnetzes. Diese Situation ist europaweit einzigartig. In den anderen Ländern geht es darum, zu knappe Mittel effizient einzusetzen, solche Spielräume sind nicht vorhanden. In Deutschland haben wir vor allem bei der Infrastruktur der Bahn großen Nachholbedarf.

In Deutschland sind die Tarife momentan viel zu kompliziert, da blickt keiner durch.

Was sind denn stattdessen Ansatzpunkte für eine Verkehrswende hierzulande?

Canzler: Es gibt zwei Hebel. Zunächst müssen Angebot und Infrastruktur des ÖPNV verlässlich und verständlich sein. Das bedeutet, dass die Ticketpreise gut durchschaubar und intuitiv sein müssen – aber eben nicht kostenlos. In Deutschland sind die Tarife momentan viel zu kompliziert, da blickt keiner durch – ein riesiges Hindernis. Aktuelle Befragungen zeigen, dass es in der Bevölkerung eine Mehrheit für eine stärkere Förderung des Öffentlichen Verkehrs gibt.

Und was ist der zweite Hebel?

Canzler: Der zweite Ansatzpunkt ist, das Autofahren unkomfortabler zu machen. Bisher wird das Auto einseitig bevorzugt, das muss sich ändern. Wesentlich Maßnahmen sind eine City-Maut und höhere Parkgebühren. Städte wie Amsterdam und Brüssel verringern jährlich die Zahl der Parkplätze. Das hilft. Und Erfahrungen aus London, Stockholm, Oslo und anderen Städten zeigen, dass mit einer Städte-Maut das Pkw-Aufkommen und damit sowohl die Emissionen als auch die Häufigkeit von Staus deutlich sinken.

Sie sprechen günstige Fahrpreise im ÖPNV an. Häufig wird über das 365-Jahresticket in Wien diskutiert – ist das aus Ihrer Sicht ein guter Preis?

Canzler: Das ist auf jeden Fall ein sehr eingängiger Preis. In kleineren und mittelgroßen Städten ist das auch in Deutschland machbar. In sehr großen Verkehrsverbünden, denken Sie zum Beispiel an Berlin oder den Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR), ist der Preis aus meiner Sicht zu niedrig. Denn dann wäre der Einnahmenausfall zu hoch. Und es ist sehr wichtig, dass deswegen nicht anderer Stelle gespart wird, etwa indem man keine neuen Bahnen anschafft. Das wäre kontraproduktiv.

Und wie beurteilen Sie Initiativen wie etwa die in Augsburg, wo bestimmte Strecken in der Innenstadt kostenlos sind?

Canzler: Das Argument, damit Autofahrer auf den Geschmack zu bringen, halte ich für sehr schlüssig. Es gibt auch andere Ideen, etwa dass an bestimmten Wochenenden oder zu bestimmten Ereignissen Busse und Bahnen kostenlos genutzt werden können. Solche fantasievollen Maßnahmen bringen mehr als der kostenlose ÖPNV. Die Voraussetzung bei allem ist: Die Preise für Tickets darf man nicht isoliert betrachten. Eine Verkehrswende ist nur möglich, wenn klar wird, dass sich langfristig etwas ändert: Der ÖPNV wird attraktiver und gleichzeitig wird Autofahren teurer. Sonst geht es nicht.

Mobilitäts­daten für die Verkehrs­wende

Im Rahmen der Studie „Mobilitäts­daten für die Verkehrs­wende“ erforscht das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschafts­forschung gemeinsam mit dem Wissen­schafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB) das Mobilitäts­verhalten der Bürger*innen und aus welchen Gründen sie bestimmte Verkehrs­mittel bevor­zugen. Dabei geht es unter anderem um die Rolle der Verkehrs­infra­struktur, die Bereit­stellung und Nutzung des ÖPNV sowie die Akzeptanz neuer Infra­struktur­politiken in Deutschland.

https://www.wzb.eu/de


 

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