„Wenn es in Kopenhagen geht, dann auch im Ruhrgebiet“

Bach
„Wenn es in Kopenhagen geht, dann auch im Ruhrgebiet“
Autorin: Maren Beck 03.11.2020

Im Ruhrgebiet ist das Auto das Fortbewegungs­mittel Nummer eins. Mit den Klimazielen ist das nicht zu vereinbaren, da sind sich Wissenschaft und Politik einig. Doch warum nehmen neue Mobilitäts­konzepte nur langsam Fahrt auf? Wissenschaftler Michael Roos und Regionalentwickler Uli Paetzel diskutieren.

Herr Paetzel, wir sprechen heute über die Verkehrswende und neue Mobilitäts­konzepte im Ruhr­gebiet. Sie sind aus dem Auto zugeschaltet. Gestatten Sie die Frage: warum nicht aus der Bahn?

Uli Paetzel: Ich bin sozusagen gerade am Ende der Welt, in einem ganz versteckten Gebiet an der Lippe. Hier sind die öffentlichen Verkehrs­mittel noch nicht so attraktiv, dass ich damit herkäme – es sei denn, ich wollte heute nichts anderes machen. Ab und an braucht man das Auto schon noch. Aber es ist immerhin ein Elektro­auto.

Auch das Coronavirus ist ein Argument für den Individual­verkehr. Die Pandemie zeigt zudem, dass verschiedene Interessen und gegen­teilige Über­zeugungen zu fest­gefahrenen und schier unlösbaren Konflikten führen. Beobachten Sie Ähnliches in Sachen Verkehrswende?

Prof. Dr. Uli Paetzel
© EGLV/Klaus Baumers

Prof. Dr. Uli Paetzel
Uli Paetzel ist Vorstands­vor­sitzender von Emscher­genossen­schaft und Lippe­verband. Der promovierte Sozial­wissenschaftler war von 2004 bis 2016 Bürger­meister der Stadt Herten.

Paetzel: Ich glaube, dass die Wissenschaft schon viele Schritte weiter ist als diejenigen, die für die Umsetzung zuständig sind. Konkret auf das Ruhr­gebiet bezogen wissen eigentlich alle, dass es so, wie es jetzt ist, nicht weiter­gehen kann. Gerade bei den über­kommunalen Verbindungen über Stadt­grenzen hinweg, insbesondere bei der Nord-Süd-Verbindung, haben wir große Defizite. Auch auf der Governance-Seite, also auf regierender und verwaltender Seite, haben wir aus meiner Sicht ein Problem. Das sind insgesamt eine Menge Heraus­forderungen, um endlich das um­zu­setzen, was die Bürger*innen schon lange wollen.

Michael Roos: Ich sehe diese Konflikte auf jeden Fall bei der Verkehrs­wende und -planung. Ganz grob sehe ich zwei Lager: Die einen betonen die individuelle Wahl­freiheit des Fort­bewegungs­mittels – und das ist dann tendenziell immer auto­freundlich. Die anderen sagen, dass wir das Auto zurück­drängen müssen, um die Nachhaltig­keits­ziele zu erreichen. Das sind sehr unter­schiedliche Welt­vor­stellungen, die man zusammen­bringen muss. Hier läuft aus meiner Sicht die Haupt­konflikt­linie.

Michael Roos
© Damian Gorczany

Prof. Dr. Michael Roos
Michael Roos leitet an der Ruhr-Universität Bochum den Lehr­stuhl für Makro­ökonomik. Er ist der Auffassung, dass die Volks­wirtschafts­lehre zur Bekämpfung der ökologischen Krise beitragen kann und muss.

Herr Roos, in der Konzeptstudie „Integrierte Mobilität im Ruhr­gebiet“ empfehlen Sie und Ihr Co-Autor Ludger Pries eine „ganzheitliche System­veränderung“ statt isolierte Detail­anpassungen – im weitesten Sinne also einen Neustart des Verkehrs­systems. Wie soll das gehen?

Roos: Systemtransformationen sind immer riesige Heraus­forderungen und Prozesse, die man nicht komplett steuern kann. Es gibt keine Hebel, die man umlegt, und dann läuft alles. Diese Vorstellung ist naiv, und davon muss man sich verabschieden. Die Transformations­forschung, die sich ganz allgemein mit diesen Fragen beschäftigt, hat vier Ansatz­punkte ermittelt, die auch hier gelten: Der erste ist eine Ziel­vorstellung, eine positive Veränderungs­idee, die besagt, wo man hinmöchte. Dann braucht man Experimente. Man muss Pilot­projekte ausprobieren und schauen, was man dabei lernt und was geht. Der dritte Faktor: Wenn man Innovationen schafft, muss man das Alte aus der Welt heraus­schaffen, man nennt das Exnovation. Die muss man genauso begleiten wie die Innovation, muss also den Übergang gestalten und diejenigen auffangen, die im Alten verhaftet sind. Schließlich braucht man neue Rahmen­bedingungen und Strukturen. Was man getestet hat und was funktioniert, kann man zum Beispiel in Gesetze und Institutionen über­führen.

Herr Paetzel, Sie waren von 2004 bis 2016 Bürger­meister der Stadt Herten. Als solcher kennen Sie das Rangeln um verschiedene Interessen. Was sagen Sie zur Machbarkeit einer kompletten System­veränderung?

Paetzel: Sie ist nicht nur möglich, sondern auch nötig! Wir brauchen sie dringend, auf mehreren Ebenen. Wir brauchen eine Politik, die größere Ziele anstrebt, die nicht immer nur Klein-Klein macht, nicht immer nur hier mal ein Modell­projekt, da mal ein Modell­projekt, das nach drei Jahren nicht mehr finanziert wird. Wir brauchen ein größeres Bild davon, wo wir hinwollen. Ich glaube, dass man die Politik dabei unter­stützen muss, diesen Mut auf­zu­bringen. Bei den amtierenden Politiker*innen, ob in der Kommunal­verwaltung, auf Landes- oder Bundes­ebene, ist die Einsicht inzwischen gereift, dass wir beim ÖPNV im Revier insgesamt große Veränderungen brauchen. Ich weiß auch, dass das nicht einfach ist und es sich über viele Jahre ziehen wird. Aber irgend­wann muss man den ersten Schritt gehen.

Sie beide sind sich einig, dass an einem neuen Mobilitäts­konzept kein Weg vorbeiführt. Die theoretischen Erkenntnisse aus Studien und Projekten sprechen die gleiche Sprache, die Marsch­richtung ist theoretisch klar. Doch wo hakt es? Wo ist der Zünd­funke, der zum ersten Schritt führt?

Paetzel: Die politische Führung im Revier bringt das Thema nicht nach vorne. Unsere zwölf Nah­verkehrs­gesellschaften haben jede ein paar Ideen für die Zukunft, wenn überhaupt. Aber wir haben keine organisatorischen Vor­aus­setzungen, wo Bau, Planung und Betrieb in einer Hand liegen. Es wäre sehr schnell möglich, die finanziellen Anreize so zu steuern, dass man alle Beteiligten auf einen Weg bekommen würde. Aber im Moment würde ich ganz klar sagen: Es fehlt die politische Führung dazu.

Roos: Ich würde das aus der Sicht der Wissenschaft unterstützen. Es gibt ja die Vorstellung der transformativen Wissenschaft, die sich selber einbringt und versucht, Bewegung anzustoßen. Traditionell analysieren wir Situationen, machen Studien und Vorschläge, aber am Ende ist die System­trans­formation ein politischer Prozess, etwas, das man politisch aushandeln muss. Dazu muss man Strukturen schaffen, dafür sorgen, dass die Beteiligten zusammen­finden, diskutieren – die politische Führung ist dann wichtig.

Uli Paetzel und Michael Roos im Gespräch
Im Gespräch: Uli Paetzel (links), nach seiner Autofahrt am Zielort angekommen, und Michael Roos im Homeoffice. © privat

Wenn schon keine System­veränderung, was ließe sich heute bereits ändern oder zumindest einleiten?

Roos: Herr Paetzel war ja gerade ein bisschen skeptisch, was Modell­projekte angeht. Ich glaube aber, dass die wichtig sind. Man muss ausprobieren! Es ist immer ein Riesen­theater, wenn man irgendwo eine Straße autofrei machen oder Parkplätze wegnehmen will. Wenn man das für die Ewigkeit plant, dann dauert es lange, und man trifft auf Wider­stände. Aber man könnte es als Experiment deklarieren und sagen: Wir versuchen das mal für ein halbes Jahr, und wenn es nicht funktioniert, dann machen wir es wieder rück­gängig. Dann erzeugt man auch eine andere Vision, wenn die Bürger*innen nämlich sehen, dass es funktioniert und sogar Vorteile hat. Am Ende wollen sie möglicher­weise gar nicht mehr haben, was sie vorher hatten. Das kann man häufig bei Fuß­gänger­zonen beobachten. Da schreien die Kauf­leute erst, und dann stellen sie fest, dass es doch nicht so schlecht fürs Geschäft ist.

Herr Paetzel, wenn man solche Tests durch­führen möchte und beispiels­weise einen Fahr­rad­weg oder eine verkehrs­freie Zone einrichten will, wie viele Stellen in einer Kommune muss man da als verwaltende Instanz einbeziehen, damit so etwas möglich wird?

Paetzel: Es kommt ganz darauf an. Wenn wir beispiels­weise eine Straße sperren wollen, dann muss ich erst mal prüfen, ob ich das über­haupt darf. Ist es eine kommunale Straße oder eine Bundes-, Kreis- oder Landes­straße? Die Straße muss in der Verfügungs­gewalt der Kommune sein. Dann muss ich schauen, ob die Anschluss­möglichkeiten weiter­hin bestehen. Und kommen die Anwohner*innen noch raus? Was ist mit dem Liefer­verkehr? All solche praktischen Fragen. Aber Sie sehen aus meiner Schilderung: Wenn ich etwas verhindern will, kann ich alles verhindern. Bei einem Test, wie Herr Roos es vorschlägt, bin ich sofort dabei. Damit kann man einen Riesen­fort­schritt machen und der Bevölkerung und den direkten Anwohner*innen die Ängste nehmen, weil es eben erst mal ein begrenzter Zeit­raum ist.

Mobilität ist daran geknüpft, wo Menschen leben, ihre Freizeit verbringen und arbeiten, wo also auch Firmen ihre Nieder­lassungen bauen. Das hängt wiederum mit Bauland, Steuern, demo­grafischen Aspekten zusammen – und der Anbindung. Kurzum: Alle individuellen und gesellschaftlichen Lebens­bereiche sind mit der Mobilität verwoben. Wo fängt man da an mit den Veränderungen?

Roos: Sie haben recht, Mobilitätsplanung und Stadt­planung gehören zusammen. Die Mobilität wird durch andere Tätigkeiten ausgelöst, sie ist sozu­sagen eine abgeleitete Tätigkeit. Wenn wir da wirklich ranwollen, müssen wir die Mobilität verändern und nicht nur den vorhandenen Verkehr irgendwie neu organisieren. Der traditionelle Ansatz ist, zu über­legen, wie die Leute von A nach B kommen. Aber vielleicht müssen sie das ja gar nicht. Vielleicht gibt es Möglichkeiten, alles in A zu machen. Im Moment gerät durch die Krise einiges in Bewegung. Unternehmen stellen fest, dass das Home­office funktioniert, und überlegen sich, ob sie ihre Mitarbeiter*innen künftig ein paar Tage zu Hause arbeiten lassen. Aus der Frage ergibt sich eine weitere: Muss man immer dort arbeiten, wo das Unternehmen sitzt? Hier kann man auch neu denken und zum Beispiel Büro­zentren an verkehrs­technisch gut gelegenen Orten einrichten. Wenn man dort auch noch eine Kita oder gute Einkaufs­möglichkeiten vorfindet, dann kombiniert man die verschiedenen Bedürfnisse und macht nur einen Weg statt drei. Wir müssen auch stärker verdichten, im Ruhr­gebiet sind wir noch zu verteilt im Raum. Wir müssen die Quartiere wieder­beleben und stärker regionalisieren, sodass man viele Alltags­dinge fußläufig erledigen kann. Das ist natürlich eine Frage der Stadt­planung. Insofern ist es richtig: Mobilität alleine greift zu kurz.

Paetzel: Ich kann nur vollständig zustimmen, da gibt es keine zweite Meinung.

Feldweg neben Straße
Muss das so bleiben? Das Projekt NEMO hat untersucht, welche Chancen die Renaturierung der Emscher für die Mobilität im Ruhrgebiet bietet. © Neue Emscher Mobilität (NEMO)

Wie müssten politische und verwaltende Strukturen aufgebaut sein, damit eine Wende hin zum nachhaltigen Verkehr möglich wird? Fehlt eine über­greifende, inter­disziplinäre Instanz?

Paetzel: Ja. Da sich das Ruhrgebiet aus mehreren Zentren zusammen­setzt, gibt es gewisse Heraus­forderungen. Manche Dinge werden vor Ort gut gelöst. Im Quartier, auf der Ebene des Stadt­bezirks oder der Stadt, wo sie auch hin­gehören und wo die Nähe zu den Bürger*innen und zu den Problemen wichtig ist. Es gibt aber auch Punkte, die sind nicht kommunal lösbar, sondern nur überkommunal, wie Mobilität und insbesondere das ÖPNV-Netz. Dafür brauchen wir eine Instanz, die Bau, Planung und Betrieb aus einer Hand machen kann – und dafür auch die nötige Kompetenz hat.

Roos: Im Prinzip würde ich dem zustimmen. Letztlich geht es um die Frage: Wer trifft am Ende die Entscheidungen? Ich glaube schon, dass es manchmal einfacher wäre, wenn es eine übergeordnete, entscheidende Instanz gäbe.

Paetzel: gibt einen Daumen nach oben.

Das Projekt NEMO betrachtet Verkehrsräume an der Emscher ganzheitlich und macht Vorschläge, wie man die Renaturierung des Flusses für ein nach­haltiges Mobilitäts­konzept nutzen kann. Ist das nicht zu punktuell gedacht? Das Ruhrgebiet ist größer als das Emscher-Ufer und muss als Region auch sinnvoll an den Verkehr im ganzen Land angeschlossen sein. Muss man deutschland­weit denken?

Roos: NEMO war ja ein Forschungs­projekt. Die Modellregionen darin wurden nach unter­schiedlichen Anforderungen ausgewählt: Manche sind eher städtisch, manche ländlich geprägt. Das Ruhr­gebiet ist divers – man benötigt unter­schiedliche Erkenntnisse und Lösungen. Wenn man Deutschland insgesamt betrachtet, wird es noch diverser. Die Unterschiede zwischen ländlichen Räumen und Ballungs­zentren sind erheblich. Natürlich braucht man gemeinsame Ideen, aber so ein One-size-fits-all-Konzept für ganz Deutschland wird es sicherlich nicht geben. Was wir auf gesamt­deutscher Ebene lösen müssen, ist der Umgang mit gemeinsamen Trends: Digitalisierung und autonomes Fahren beispiels­weise oder Emissions­reduktion, da braucht man nationale Ziele und Rahmen­bedingungen.

Wenden wir uns der Bevölkerung zu, ohne deren Akzeptanz kein nachhaltiges Mobilitäts­konzept realisiert werden kann. Für 83 Prozent der Fokus­gruppen­teilnehmer*innen im Projekt NEMO ist der Auto­besitz wichtig – obwohl fast alle es als notwendig ansehen, etwas für den Klimaschutz zu tun. Wie kann das sein?

Roos: Wenn man von der Psychologie drauf­schaut, ist es eine kognitive Dissonanz. Der Wunsch nach mehr Klima­schutz ist unvereinbar mit dem Wunsch, das Auto zu benutzen. Das ist ganz natürlich. Man könnte es auch ökonomisch erklären. Ökonom*innen sprechen von öffentlichen Gütern, also Dingen, von denen man profitiert, auch wenn man selbst nichts beiträgt. Es gibt eine große Diskussion, wie man mit solchen Dingen umgeht. Ich würde das gar nicht so sehr auf das spezielle Problem im Ruhr­gebiet runter­brechen wollen.

Paetzel: Wenn ich auf das Ruhrgebiet blicke, haben wir es mit einer großen Tradition der Auto­prägung und Auto­vor­liebe zu tun. Wir haben leider keine Tradition, täglich S-Bahn, U-Bahn oder den Bus zu nutzen. In Berlin würde niemand auf die Idee kommen, sich täglich in den Stau zu stellen. Wir können von den Städten, die eine Transformation durch­gemacht haben, eine Menge lernen. In München hat man zum Beispiel für die Olympischen Spiele ein gutes U-Bahn-System auf­gebaut, das bis heute funktioniert. Man merkt aber auch: Es ist eigentlich zu klein dimensioniert. So was heute noch mal zu bauen ist natürlich ungleich schwerer als damals, als es einen anderen Fort­schritts­willen in der Bevölkerung gab.

Roos: Man darf den Menschen aber auch keinen Vorwurf machen. Wenn man die Angebote nicht schafft, ist es logisch, dass man das Auto nimmt. Egal, wohin ich im Ruhr­gebiet will: Mit den öffentlichen Verkehrs­mitteln bin ich doppelt bis dreimal so lange unter­wegs wie mit dem Auto. Wenn man lange Zeit nicht dafür gesorgt hat, gute Verbindungen, insbesondere über die Kommunen hinweg, zu etablieren, dann erzeugt man natürlich eine entsprechende Routine und Kultur. An der Stelle muss man ansetzen, und dann wird sich über die Zeit möglicher­weise auch das Verhalten ändern. Aber von heute auf morgen zu verlangen, dass alle auf ein unbefriedigendes ÖPNV-System umsteigen, ist zu viel verlangt. Dass die Menschen das nicht einsehen, ist klar.

Bach
Deiche machen die Emscher noch unzugänglich wie hier in Oberhausen. © Neue Emscher Mobilität (NEMO)
Feldweg neben Bach
© Neue Emscher Mobilität (NEMO)

Herr Roos, in der erwähnten Konzeptstudie betonen Sie die Wichtigkeit einer gemeinsam getragenen Vision aller Akteure und der Bevölkerung für das Gelingen der Verkehrs­wende. Warum ist die so wichtig? Wie müsste eine solche Vision erzählt und vermittelt werden, damit sich alle Menschen und Institutionen dahinter vereinen?

Roos: Eine Vision ist wichtig, weil sie orientiert und motiviert. Sie ist eine Energie­quelle und vermittelt einen Sinn für das Ganze. Ohne sie habe ich lauter Einzel­maßnahmen, die nicht richtig zusammen­passen. Und dann gibt es Wider­stand, man lässt die Maßnahme sein oder verändert sie irgendwie, und es passt alles nicht so recht zusammen. Nur die Vision gibt einem über­haupt die Kraft, das alles durch­zu­halten und zu begründen. Wie trägt man sie weiter? Durch Personen, die sie glaub­haft und mit Über­zeugung präsentieren, sie auf die Tages­ordnung heben, dafür einstehen und das Ganze eloquent vertreten können. Es müssen stand­hafte, gewinnende Personen sein. Keine Eiferer, sondern Menschen, die mitnehmen können.

Paetzel: Diese Personen müssten es auch schaffen, die Verantwortlichen in die Richtung zu lenken. Das wird die größte Heraus­forderung. Solange wir Geschäfts­führer*innen in Nah­verkehrs­gesellschaften und Aufsichts­rät*innen haben, gibt es ein gewisses konservatives Beharrungs­vermögen.

Roos: Das würde ich als Beispiel dafür sehen, was ich eben Exnovation genannt habe. Dass man diesen Übergang gestaltet. Man kann nicht von heute auf morgen alles durch­schneiden und die Leute fallen lassen. Dann sperren und wehren sie sich. Eine große Lehre der Trans­formations­forschung ist, dass man mit Wider­ständen produktiv und konstruktiv umgehen muss und Perspektiven aufzeigen sollte.

Stichwort Gerechtigkeit. Viel Platz in der Stadt geht für parkende Autos drauf, die Mehrheit der Kosten dafür tragen alle Steuer­zahler*innen gleicher­maßen. Zudem nehmen Fahrspuren für Autos den meisten Platz aller Verkehrs­wege ein. Wäre der Faktor Gerechtigkeit einer, auf dem man eine Vision aufbauen könnte?

Roos: Ich würde dem auf jeden Fall zustimmen. In allen politischen Prozessen spielen Gerechtigkeit und die Fairness der Kosten- und Lasten­verteilung eine zentrale Rolle. Wenn man das Auto anschaut, kann man noch weitere Gerechtig­keits­argumente anführen. Zum Beispiel, dass die Gesundheits­belastung durch das Auto sehr ungleich verteilt ist. Gerade die sozial weniger privilegierten Bevölkerungs­schichten leiden über­proportional unter Gesundheits­belastungen durch Lärm, Emissionen und auch durch Unfälle.

In einigen Szenarien des Projekts NEMO wird das Fahrrad als Fortbewegungs­mittel Nummer eins ausgelobt. Wenn man von den noch ausbaufähigen Faktoren wie sichere und durchgehende Radwege mal absieht: In Deutschland herrscht zumindest ein halbes Jahr lang kein besonders fahrrad­freundliches Wetter. Wird hier zu optimistisch gedacht?

Paetzel: Da würde ich ganz entspannt sagen: Wenn etwas in Kopenhagen geht, dann geht das auch im Ruhrgebiet!

Roos: Das sehe ich genauso. Ich bin selbst passionierter Fahrrad­fahrer, und vieles daran ist eine Frage der Umstellung und Gewöhnung. Und so schlimm ist es mit dem Wetter gar nicht. Vor dem Hinter­grund des Klimawandels wird es zunehmend weniger nass. Es gibt auch faszinierende neue Entwicklungen. Ich warte sehnsüchtig auf das Podbike, ein Pedelec mit Kabine. Man könnte auch darüber nach­denken, bestimmte Strecken in den Innen­städten zu überdachen – auch gegen die Hitze im Sommer. Und dann könnte man die Kombinierbar­keit mit anderen Verkehrs­mitteln verbessern, etwa mit völlig neuen Verkehrs­mitteln wie städtischen Seilbahnen mit Kabinen, in die man mit Rad hinein­kann. Die machen auch Platz am Boden frei und über­brücken Steigungs­strecken.

Bach
Kleiner Fluss, große Pläne? Die Renaturierung der Emscher bietet die Möglichkeit, den Verkehr rundherum neu zu denken. © Neue Emscher Mobilität (NEMO)

Jugendliche und junge Erwachsene zeigen ein neues Bewusstsein für die Dringlichkeit des Klima­schutzes. In Umfragen wurde ermittelt, dass sich besonders viele jüngere Leute für eine autofreie Stadt aussprechen, immer weniger von ihnen wollen angeblich auch ein Auto besitzen. Sie sind aber nicht in Politik und Verwaltung aktiv, und auf der Straße reicht ihr Einfluss offenbar nicht aus. Dauert es noch zwei bis drei Generationen, bis die Wende so richtig losgeht?

Roos: Zwei bis drei Generationen darf es gar nicht dauern. Wird es auch nicht. Bei solchen Umfragen bin ich immer ein wenig vorsichtig. Was wir beobachten, ist dies: Sobald junge Leute mit der Ausbildung oder dem Studium fertig sind, kaufen sie eben doch ein Auto. Anderer­seits glaube ich, dass sich mit Fridays for Future etwas fundamental verändert. Wenn eine Generation über zwei Jahre lang regel­mäßig auf die Straße geht und protestiert, das macht was mit den jungen Leuten, und das geht nicht ohne Weiteres wieder weg. Man muss nur aufpassen, dass es keine Radikalisierung und keinen massiven Generationen­konflikt gibt, wenn nichts passiert. Da entsteht ein Konflikt­potenzial zwischen einer alten Generation, die das alles nicht mehr so stark betrifft, die sich umstellen müsste und das vielleicht nicht will, und einer jungen Generation, die Angst um ihre eigene Zukunft hat. Es wäre gut für die ältere Generation, dieses Konflikt­potenzial zu entschärfen.

Paetzel: Ich würde gerne die soziale Frage noch einbringen. Diejenigen, die Fridays for Future tragen, stammen aus einem urbanen, welt­offenen Milieu. Sie können es sich leisten, zu protestieren, wenn ich das mal etwas über­spitzt sagen darf. Diejenigen aus abgehängten Milieus, aus benachteiligten Klassen, sehe ich da jedenfalls deutlich weniger. Aber diese Fragen von unter­schiedlichen Milieus und auch den Interessen dahinter – der eine kann es sich erlauben, aufs Auto zu verzichten, der andere braucht es aber, um seinen Ausbildungs­platz 30 Kilometer entfernt anzutreten –, die müssen wir zusammen­denken. Mir kommt es drauf an, dass wir nicht die einen gegen die anderen ausspielen. Die Klimafrage ist für mich immer auch eine soziale Frage, und die richtige Antwort kann nur eine gemeinsame sein.

Ein Punkt, den NEMO macht, ist die „neue Normalität“ durch die Pandemie: Home­office, die stärker wieder­entdeckte Wertschätzung der Natur … Was müsste jetzt passieren, um diese Effekte zugunsten der Verkehrs­wende zu nutzen?

Paetzel: Das haben die Bürger*innen doch schon ganz stark gemacht, indem sie im Frühjahr die Natur vor Ort erkundet haben – viel stärker als bisher. Unsere Rad­wege entlang von Emscher, Lippe und der Neben­läufe wurden ganz wunder­bar angenommen. Wenn man das weiter­trägt und die Möglichkeiten vor Ort erkennt, dann überträgt sich das auch auf neue Mobilitäts­arten.

Roos: Das sehe ich auch so. Die Krise bringt für viele Leute große Härten mit sich, und das darf man nicht wegreden. Anderer­seits hat man Dinge entdeckt, bei denen man feststellt: So schlecht ist das gar nicht. Das betrifft auch die Muster, die jetzt aufgebrochen sind. Häufig sind die Menschen gar nicht so traurig, dass Dienst­reisen wegfallen. Es ist wichtig, dass man die Narrative in diese Richtung steuert, dass man betont, dass nicht alles schlimm ist und sich manches auch zum Besseren wendet. Wie bei einem verregneten Urlaub muss man die Erinnerung an das Gute kultivieren.

Neue Emscher Mobilität (NEMO)

Das von der Stiftung Mercator geförderte Wissenschafts­projekt „Neue Emscher Mobilität“ (NEMO) nimmt den Umbau der Emscher zum Anlass, um neue Möglichkeiten für eine nachhaltige und zukunfts­orientierte Mobilität auszuloten.
www.nemo-ruhr.de