„Digitaler Unterricht begrenzt möglich“
Livestreams oder Aufgaben per Mail: In Sachen digitaler Unterricht stoßen wir in Deutschland schnell an Grenzen, sagt Bildungsforscherin Birgit Eickelmann im Interview. Warum nicht nur die Infrastruktur ein Problem ist.
Die Schulen in Deutschland sind wegen des Coronavirus weitestgehend geschlossen. Könnten Lehrkräfte ihre Unterrichtsstunden nicht einfach per Livestream übertragen, Frau Eickelmann?
Birgit Eickelmann: Grundsätzlich wäre das natürlich denkbar. Gerade wird ja überall auf Videokonferenzen umgestellt. Es würde den Schüler*innen insbesondere eine Struktur im Tag geben, der auch die persönliche Interaktion aufrechterhält.
Allerdings darf man die Situation nicht unterschätzen. Wenn man Lernmaterial, wie momentan häufig zu beobachten, einfach nur digital zur Verfügung stellt, ist selbstverantwortliches und selbststrukturierendes Lernen gefragt, eine Kompetenz, die nicht bei allen Schüler*innen gleichermaßen ausgeprägt ist. Der persönliche Kontakt darf daher nicht verloren gehen. Die aktuelle Situation ist auch deshalb so herausfordernd, weil Menschen soziale Wesen sind; längerfristiges Abstandhalten kann zu Isolationsgefühlen führen. Auch vor diesem Hintergrund ist die persönliche Interaktion in Lernkontexten jetzt besonders wichtig. Aber insgesamt halte ich es nicht für sinnvoll, Unterricht ausschließlich zu streamen. Wir kennen die Anforderungen oder Herausforderung solcher Settings sehr gut aus Distance Learning-Studien. Deshalb muss jetzt jedes Bundesland, jede Schule und jede Lehrkraft überlegen, welche Methode für welchen Inhalt sinnvoll ist. Aber wir stoßen derzeit in Deutschland schnell an Grenzen.
Birgit Eickelmann
Birgit Eickelmann ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Sie ist unter anderem Leiterin des Nationalen Forschungszentrums der Studie ICILS 2018 (Internationale Computer and Information Literacy Study).
Sprechen Sie damit die Infrastruktur an?
Eickelmann: Ja. Wir haben in Deutschland das Phänomen, dass die Schulen hochgradig unterschiedlich mit IT-Infrastruktur ausgestattet sind. Und dass sie in ganz unterschiedlichem Maße Lernen mit neuen Technologien genutzt haben und schon über Vorerfahrungen verfügen, die sie jetzt nutzen könnten. Einige Schulen sind schon sehr weit, haben Lernkulturen zu personalisiertem Lernen gewandelt, bei dem Schüler*innen mit ihren unterschiedlichen Lernvoraussetzungen im Fokus stehen und dass durch den Einsatz digitaler Medien gestützt wird. Andere Schulen stehen da am Anfang oder haben schlicht diesen Wandel noch gar nicht in Betracht gezogen.
Was bedeutet das konkret?
Eickelmann: Es gibt Schulen, die haben im Moment gar kein Problem, ihren Schüler*innen Aufgaben zu übermitteln, sie in Online-Settings zu betreuen und dort beispielsweise Gruppendiskussionen zu führen. Das sind zum Beispiel die Schulen, die schon früh auf Lernmanagementsysteme gesetzt haben. Weiterhin gibt es Bundesländer, die in den letzten Jahren mit Nachdruck solche Ansätze verfolgt haben und entsprechende Systeme bereitstellen. Und dann gibt es Schulen, die sind ganz weit davon entfernt.
Es gibt eine tiefe digitale Spaltung in Deutschland.
Was heißt das für die Lehrkräfte?
Eickelmann: Es gibt hier zwei Gruppen von Lehrkräften: Die Einen, die sehr gut durch ihre schulische Struktur bei der Entwicklung und Durchführung digital gestützten Lernens unterstützt werden. Da haben es Lehrkräfte in Schulen, die schon länger in digitalen Kategorien gedacht haben, einfacher. Und dann gibt es die Lehrkräfte, die auf sich alleine gestellt sind, die vielleicht für ihre Schüler*innen das Beste wollen, aber an Grenzen stoßen, auch wenn sie die Potenziale und Relevanz schulischer und unterrichtlicher Digitalisierungsprozesse positiv einschätzen.
Wie sollte damit nun aus Ihrer Sicht umgegangen werden?
Eickelmann: Man sollte jetzt niedrigschwellig anfangen. Man könnte zunächst Aufgaben, Referate und Präsentationen digital erstellen und den Schüler*innen entsprechende Aufgaben zur Verfügung stellen Dabei stoßen wir aber schnell auf die Frage, mit welcher Technik die Schüler*innen eigentlich selbst ausgestattet sind. Können sie mal eben zu Hause einen Text digital schreiben und zurückschicken? Können sie sich mal eben für ein Referat vernetzten und sich gemeinsam in Gruppen eine Präsentation am Bildschirm anschauen?
Jetzt wird deutlich: Wir haben in Deutschland immer diskutiert, ob eigentlich wirklich alle Schüler*innen mit neuen Technologien zum Lernen ausgestattet werden sollen. An der Frage sind wir an vielen Standorten hängen geblieben. In der Diskussion haben wir dabei oft vergessen, dass wir so allen Schüler*innen die Möglichkeit geben, an den digitalen Entwicklungen zu partizipieren. Wir wissen, dass allenfalls ein Teil der Schüler*innen so ausgestattet ist, dass sie die Technologien zu Hause für die Organisation und Durchführung auch längerfristiger Lernprozesse nutzen können. Die meisten haben natürlich ein Smartphone, aber das ist ja nicht unbedingt ein Arbeitsgerät. Eine Präsentation mit dem Smartphone zu erstellen, ist nicht realistisch und auch nicht motivierend.
Das ist ja auch eine soziale Frage.
Natürlich. Die sozio-ökonomisch Privilegierten sind im Vorteil, sie sind besser ausgestattet. Und noch etwas kommt dazu. Die ICILS-2018-Studie hat deutlich gezeigt, dass in Deutschland ein Drittel der 14-jährigen Schüler*innen nur sehr geringe Kompetenzen im reflektierten, kreativen und produktiven Umgang mit neuen Technologien hat. Ich habe immer deutlich gemacht: Dieser besorgniserregende Anteil an Jugendlichen kann eigentlich nur klicken und wischen. Wir wissen also, dass wir in Deutschland auf dem Weg ins digitale Zeitalter viele Jugendliche ohnehin zurücklassen: Das sind im besonderen Maße Schüler*innen aus den sozio-ökonomisch schwächer gestellten Familien, die nicht bildungsnah sind. Weiterhin findet sich ein überproportional hoher Anteil in der Gruppe, die einen Migrationshintergrund haben. Es gibt eine tiefe digitale Spaltung in Deutschland, die wir empirisch zeigen können und uns ist es bisher nicht gelungen, diese durch geeignete Maßnahmen im Schulsystem zu überwinden. Wir müssen aufpassen, dass die aktuelle Lage die digitale Spaltung nicht noch weiter verschärft.
Wir brauchen jetzt flächendeckende Lösungen, sonst werden wir in den kommenden Wochen viele Schüler*innen zurücklassen.
Ein anderer Aspekt ist, dass Schüler*innen ganz unterschiedlich alt sind. Könnte digitales Lernen überhaupt schon im Grundschulalter funktionieren?
Eickelmann: Wenn diese Pandemie nicht wäre, würde ich grundsätzlich davon abraten, viele digitale Lernaufgaben in den häuslichen Bereich für Grundschüler*innen zu legen. Jetzt ist die Frage, wie man unter der gegebenen Situation im Grundschulalter digital gestütztes Lernen situations- und vor allem kindgerecht voranbringen kann. Eine Möglichkeit ist, die Eltern an Bord zu holen. Aber welche Eltern können jetzt ihre Kinder unterstützen? Es gibt sicherlich ein umfangreiches Angebot digitaler Materialien für das Grundschulalter. Aber Grundschulkinder lernen ganz anders, erschließen die Welt anders, brauchen körperliche Aktivitäten und Erfahrungen. Ältere Schüler*innen können schon alleine am Rechner sitzen und zwei, drei Stunden an einer Aufgabe arbeiten. Das ist bei Grundschüler*innen nur bedingt möglich und aus meiner Sicht nicht sinnvoll, zumal wenn diese auf sich alleine gestellt sind. Ich bin sehr gespannt, wie das gelöst werden kann.
Sie haben verschiedene Schwierigkeiten skizziert – wie könnte die Politik darauf reagieren?
Eickelmann: Ich würde mir wünschen, dass die Bildungsministerien nun nach kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Lösungen schauen. Kurzfristig geht es darum, den Lehrkräften eine datensichere Infrastruktur und Lerninhalte zur Verfügung zu stellen. Das gilt insbesondere für die Schulen, die das bisher noch nicht aus eigenem Engagement aufgebaut haben. Wir brauchen jetzt flächendeckende Lösungen, sonst werden wir in den kommenden Wochen viele Schüler*innen zurücklassen. Mittelfristig müssen wir nach einem tragfähigeren Konzept suchen. Momentan schicken Lehrkräfte Schüler*innen oft irgendwie Aufgaben, beispielsweise über Messenger wie WhatsApp, die wir in der Schule doch gar nicht nutzen wollen. Es gibt auch ein hohes Engagement und ein hohes Verantwortungsbewusstsein bei den Lehrkräften: Bei Twitter tauschen bereits jetzt viele Material aus, bringen sich gegenseitig auf Stand und haben das im Zuge der Corona-Krise noch verstärkt. Nicht zuletzt an diesem Beispiel wird deutlich, dass das Digitale die Lehrkräfte in ihrer Arbeit unterstützen kann. Hier könnten die Schulministerien ansetzen und selbst Unterstützungsstrukturen für alle Lehrkräfte aufbauen.
Und langfristig ist auch daran zu denken: Was ist mit den Schüler*innen, wenn sie wieder zurück in die Schule kommen? Das ist etwas, dass in der Diskussion im Moment noch überhaupt nicht beleuchtet wird, aber thematisiert und organisiert werden muss. Mit welchen Eindrücken kommen die Kinder und Jugendlichen in die Schulen zurück? Mit welchen Lernständen kommen sie zurück? Es müssen dringend Konzepte entwickelt werden, das dann aufzufangen und daran anzuknüpfen. Auch das wird eine große Aufgabe.
Forum Bildung Digitalisierung
Das Forum Bildung Digitalisierung gestaltet den digitalen Kulturwandel im Bildungsbereich. Im Zentrum der Arbeit stehen die Chancen digitaler Medien für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. Im Forum Bildung Digitalisierung engagieren sich acht deutsche Stiftungen.