Geflüchtete besser verteilen? Ein Algorithmus soll dabei helfen

Geflüchtete besser verteilen? Ein Algorithmus soll dabei helfen
Autorin: Annette Walter 09.01.2025

Das Projekt „Match’In“ ordnet Schutzsuchende per Algorithmus einer passenden Kommune in Deutschland zu. Hierfür nutzt die Software Eckdaten wie berufliche Qualifikationen, gesund­heit­liche Bedürfnisse oder Kinder­betreuung vor Ort. Schutzsuchende finden somit einen Wohnort, der zu ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten passt. Gleich­zeitig profitieren die Kommunen von neuen Bewohner*innen, die gut in die lokalen Strukturen und Integra­tions­angebote eingebunden werden. Wie der Ansatz funktioniert.

Özgur Z.* stammt aus der Türkei. Der 35-Jährige lebte dort seit seiner Geburt in einem kleinen Ort. Weil er die Regierung von Präsident Erdoğan kritisierte, drohte ihm in seinem Heimatland eine Haftstrafe. Nach reiflicher Überlegung entschied er sich 2023, nach Deutschland zu gehen. Zunächst kam er in einer Erstauf­nahme­einrich­tung im hessischen Gießen unter. Sein Antrag auf Asyl läuft seitdem. Wo es als Nächstes hingeht, weiß er nicht. Die Türkei ist nach Syrien das Land, aus dem die meisten Menschen stammen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen.

„Wo eine Person ankommt und lebt, kann entscheidend für ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sein“, sagt Sonja Reinhold. Sie ist wissen­schaft­liche Projektmitarbeiterin im Forschungs­bereich Migration, Flucht und Integra­tion der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Sie kritisiert, dass deutsche Behörden Schutz­suchende nicht mit Blick auf ihre Fähigkeiten, familiäre Situation, Bedürfnisse oder sonstigen Voraus­setzungen auf die Kommunen verteilen. Derzeit sei die kommunale Auslastung im regulären Asylverfahren ausschlaggebend.

Sonja Reinhold
© Chris Wohlmuth

Sonja Reinhold ist seit Mai 2021 wissenschaftliche Projekt­mitar­beiterin im Forschungs­bereich Migration, Flucht und Integration der FAU. Sie befasst sich mit unter­schied­lichen Themen in den Bereichen Migration und Integration sowie mit der Aufnahme, der Verteilung und der Unterbringung von Schutzsuchenden.

Ein Projekt der Universitäten Hildesheim und Erlangen-Nürnberg soll dies ändern. Forschende der beiden Einrichtungen haben „Match’In“ entwickelt – eine Software, die auf Basis eines Algorithmus Menschen aus den Erst­aufnahme­einrich­tungen auf die Kommunen in der Republik verteilt. Und zwar so, wie es für beide Seiten am besten passt. Die Aufnahme­quote der Kommunen bleibt bestehen, nur arbeitet „Match’In“ mit neuen Kriterien, anhand derer entschieden wird.

Nach welchen Kriterien sollten die Ämter Schutz­suchende verteilen?

Und so könnte das am Beispiel Özgür Z. aussehen: In seiner Erst­aufnahme­einrich­tung spricht er mit einem*einer geschulten Expert*in und erklärt, was ihm an seinem künftigen Wohnort wichtig ist. Er mag kleine Städte mit viel Grün. Er will schnell sein Deutsch verbessern. Außerdem möchte der gebürtige Türke gerne wieder als Handwerker arbeiten. Perfekt wären außerdem Kontakte zu Hobby­fußball­spieler*innen und das Training im Verein.

Um lokale Integration zu stärken, sollten indivi­duelle Eigen­schaften, Ressourcen und Bedarfe systematisch in das Zuwei­sungs­verfahren einfließen

„Um die lokale Integration zu stärken und einen Gewinn für beide Seiten zu erzielen, sollten individuelle Eigenschaften, Ressourcen und Bedarfe systematisch in das Zuwei­sungs­verfahren einfließen“, erläutert Sonja Reinhold von der FAU. Die Programmierung hinter dem „Match’In“-Algorithmus – das „Case-based reasoning“, also die fallbasierte Entschei­dungs­findung – setzt diesen Anspruch um. Für jede Person erstellt „Match’In“ eine fiktive ideale Kommune und vergleicht diese mit den vorhandenen realen Kommunen, die am Projekt teilnehmen. Je ähnlicher sich die beiden sind, desto sinnvoller können Schutz­suchende vermittelt werden.

Eine Stunde lang werden deshalb die Daten von Özgür Z. erfasst. Verheiratet oder nicht? Welche berufliche Erfahrung bringt er mit, und wo möchte er künftig arbeiten? Treibt er Sport und benötigt er gesund­heit­liche Behandlungen vor Ort? Nachdem er die rund 50 Einzel­fragen beantwortet hat, erhält die Zuweisungs­stelle des Landes eine Empfehlung, welche Pilot­kommunen im „Match’In“-Projekt zu dem geflüchteten Mann passen. So können die zuständigen Personen mithilfe gebündelter Informationen schnell und systematisch entscheiden. Özgür Z. erhält dann eine Zuweisungs­entschei­dung auf Basis seiner Angaben und erfährt, wo in Deutschland er sein Leben fortführen wird. Wird das Matching auf diese Weise durchgeführt, ergibt sich für alle Beteiligten ein positives Ergebnis.

Indem Daten und Präferenzen erhoben werden, kann "Match'In" Geflüchtete sinnvoller verteilen. © Getty Images

Algorithmus soll das Zwischen­mensch­liche nicht ersetzen

Als eine der wissenschaftlichen Projektkoordinator*innen war Sonja Reinhold in verschiedenen Bundesländern unterwegs, um Landes­sozial­arbeitende zu schulen. „Auch Kommunen wünschen sich eine pass­genauere Zuweisung, damit ihre lokalen Kompetenzen und Stärken effizienter für die Integration der Ankommenden eingesetzt werden können“, sagt sie. „Viele Kommunen sehen sich im aktuellen Prozess wenig einbezogen und schlecht informiert.“ Die Pilot­phase von „Match’In“, die im November 2024 endete, fand in 20 Kommunen in vier Bundesländern statt: in Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Im Jahr 2024 konnten insgesamt 186 Personen mithilfe von „Match’In“ vermittelt werden.

Manfred Becker, Abteilungs­leiter Flücht­lings­angelegen­heiten, Erst­aufnahme­einrich­tungen und Integration beim Regierungs­präsidium Gießen, bestätigt den positiven Effekt des algorithmus­basierten Verfahrens. Personen­gruppen wie allein­stehende Frauen und Männer, LGBTQIA+-Schutz­suchende sowie Personen mit erhöhtem Bedarf an psycholo­gischer oder psychosozialer Unterstützung würden von der ziel­gerich­teten Zuweisung profitieren, betont er. Gänzlich ersetzen solle die Software die Entscheidungen von und über Menschen jedoch nicht, ergänzt Sonja Reinhold: „Es ist und bleibt wichtig, die algorithmus­basierten Empfehlungen zu überprüfen und auf persönlichen Kontakt zu setzen.“

Ein Blick in die Zukunft: mehr Empathie bei der Integration

Nach dem Ende der Pilotphase erhofft sich Sonja Reinhold, dass „Match’In“ auch weiterhin für bessere kommunale Matches sorgt. Erste Erfolge seien bereits eingetreten: „Wir hören von den Kommunen, dass sich die Mitarbei­ter*innen der Ämter über die ersten vermittelten Menschen freuen – weil sie ein gutes Match sein werden und sich einbezogen fühlen.“ Kleine Entscheidungen trügen so zum großen Ganzen bei: „Der Erfolg von Integra­tions­verläufen ist für alle ein gesell­schaftlicher Gewinn.“

*Name geändert


Das Projekt „Match’In“

Das Pilotprojekt „Match’In“ wird von der Migration Policy Research Group und der Forschungs­gruppe SSE der Universität Hildesheim sowie dem Forschungs­bereich Migration, Flucht und Integration der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) durchgeführt. Es vermittelt Schutz­suchende auf Basis eines Algorithmus passgenau an Kommunen in Deutschland.

https://matchin-projekt.de/