Geflüchtete besser verteilen? Ein Algorithmus soll dabei helfen
Das Projekt „Match’In“ ordnet Schutzsuchende per Algorithmus einer passenden Kommune in Deutschland zu. Hierfür nutzt die Software Eckdaten wie berufliche Qualifikationen, gesundheitliche Bedürfnisse oder Kinderbetreuung vor Ort. Schutzsuchende finden somit einen Wohnort, der zu ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten passt. Gleichzeitig profitieren die Kommunen von neuen Bewohner*innen, die gut in die lokalen Strukturen und Integrationsangebote eingebunden werden. Wie der Ansatz funktioniert.
Özgur Z.* stammt aus der Türkei. Der 35-Jährige lebte dort seit seiner Geburt in einem kleinen Ort. Weil er die Regierung von Präsident Erdoğan kritisierte, drohte ihm in seinem Heimatland eine Haftstrafe. Nach reiflicher Überlegung entschied er sich 2023, nach Deutschland zu gehen. Zunächst kam er in einer Erstaufnahmeeinrichtung im hessischen Gießen unter. Sein Antrag auf Asyl läuft seitdem. Wo es als Nächstes hingeht, weiß er nicht. Die Türkei ist nach Syrien das Land, aus dem die meisten Menschen stammen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen.
„Wo eine Person ankommt und lebt, kann entscheidend für ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sein“, sagt Sonja Reinhold. Sie ist wissenschaftliche Projektmitarbeiterin im Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Sie kritisiert, dass deutsche Behörden Schutzsuchende nicht mit Blick auf ihre Fähigkeiten, familiäre Situation, Bedürfnisse oder sonstigen Voraussetzungen auf die Kommunen verteilen. Derzeit sei die kommunale Auslastung im regulären Asylverfahren ausschlaggebend.
Sonja Reinhold ist seit Mai 2021 wissenschaftliche Projektmitarbeiterin im Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration der FAU. Sie befasst sich mit unterschiedlichen Themen in den Bereichen Migration und Integration sowie mit der Aufnahme, der Verteilung und der Unterbringung von Schutzsuchenden.
Ein Projekt der Universitäten Hildesheim und Erlangen-Nürnberg soll dies ändern. Forschende der beiden Einrichtungen haben „Match’In“ entwickelt – eine Software, die auf Basis eines Algorithmus Menschen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen auf die Kommunen in der Republik verteilt. Und zwar so, wie es für beide Seiten am besten passt. Die Aufnahmequote der Kommunen bleibt bestehen, nur arbeitet „Match’In“ mit neuen Kriterien, anhand derer entschieden wird.
Nach welchen Kriterien sollten die Ämter Schutzsuchende verteilen?
Und so könnte das am Beispiel Özgür Z. aussehen: In seiner Erstaufnahmeeinrichtung spricht er mit einem*einer geschulten Expert*in und erklärt, was ihm an seinem künftigen Wohnort wichtig ist. Er mag kleine Städte mit viel Grün. Er will schnell sein Deutsch verbessern. Außerdem möchte der gebürtige Türke gerne wieder als Handwerker arbeiten. Perfekt wären außerdem Kontakte zu Hobbyfußballspieler*innen und das Training im Verein.
Um lokale Integration zu stärken, sollten individuelle Eigenschaften, Ressourcen und Bedarfe systematisch in das Zuweisungsverfahren einfließen
„Um die lokale Integration zu stärken und einen Gewinn für beide Seiten zu erzielen, sollten individuelle Eigenschaften, Ressourcen und Bedarfe systematisch in das Zuweisungsverfahren einfließen“, erläutert Sonja Reinhold von der FAU. Die Programmierung hinter dem „Match’In“-Algorithmus – das „Case-based reasoning“, also die fallbasierte Entscheidungsfindung – setzt diesen Anspruch um. Für jede Person erstellt „Match’In“ eine fiktive ideale Kommune und vergleicht diese mit den vorhandenen realen Kommunen, die am Projekt teilnehmen. Je ähnlicher sich die beiden sind, desto sinnvoller können Schutzsuchende vermittelt werden.
Eine Stunde lang werden deshalb die Daten von Özgür Z. erfasst. Verheiratet oder nicht? Welche berufliche Erfahrung bringt er mit, und wo möchte er künftig arbeiten? Treibt er Sport und benötigt er gesundheitliche Behandlungen vor Ort? Nachdem er die rund 50 Einzelfragen beantwortet hat, erhält die Zuweisungsstelle des Landes eine Empfehlung, welche Pilotkommunen im „Match’In“-Projekt zu dem geflüchteten Mann passen. So können die zuständigen Personen mithilfe gebündelter Informationen schnell und systematisch entscheiden. Özgür Z. erhält dann eine Zuweisungsentscheidung auf Basis seiner Angaben und erfährt, wo in Deutschland er sein Leben fortführen wird. Wird das Matching auf diese Weise durchgeführt, ergibt sich für alle Beteiligten ein positives Ergebnis.
Algorithmus soll das Zwischenmenschliche nicht ersetzen
Als eine der wissenschaftlichen Projektkoordinator*innen war Sonja Reinhold in verschiedenen Bundesländern unterwegs, um Landessozialarbeitende zu schulen. „Auch Kommunen wünschen sich eine passgenauere Zuweisung, damit ihre lokalen Kompetenzen und Stärken effizienter für die Integration der Ankommenden eingesetzt werden können“, sagt sie. „Viele Kommunen sehen sich im aktuellen Prozess wenig einbezogen und schlecht informiert.“ Die Pilotphase von „Match’In“, die im November 2024 endete, fand in 20 Kommunen in vier Bundesländern statt: in Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Im Jahr 2024 konnten insgesamt 186 Personen mithilfe von „Match’In“ vermittelt werden.
Manfred Becker, Abteilungsleiter Flüchtlingsangelegenheiten, Erstaufnahmeeinrichtungen und Integration beim Regierungspräsidium Gießen, bestätigt den positiven Effekt des algorithmusbasierten Verfahrens. Personengruppen wie alleinstehende Frauen und Männer, LGBTQIA+-Schutzsuchende sowie Personen mit erhöhtem Bedarf an psychologischer oder psychosozialer Unterstützung würden von der zielgerichteten Zuweisung profitieren, betont er. Gänzlich ersetzen solle die Software die Entscheidungen von und über Menschen jedoch nicht, ergänzt Sonja Reinhold: „Es ist und bleibt wichtig, die algorithmusbasierten Empfehlungen zu überprüfen und auf persönlichen Kontakt zu setzen.“
Ein Blick in die Zukunft: mehr Empathie bei der Integration
Nach dem Ende der Pilotphase erhofft sich Sonja Reinhold, dass „Match’In“ auch weiterhin für bessere kommunale Matches sorgt. Erste Erfolge seien bereits eingetreten: „Wir hören von den Kommunen, dass sich die Mitarbeiter*innen der Ämter über die ersten vermittelten Menschen freuen – weil sie ein gutes Match sein werden und sich einbezogen fühlen.“ Kleine Entscheidungen trügen so zum großen Ganzen bei: „Der Erfolg von Integrationsverläufen ist für alle ein gesellschaftlicher Gewinn.“
*Name geändert
Das Projekt „Match’In“
Das Pilotprojekt „Match’In“ wird von der Migration Policy Research Group und der Forschungsgruppe SSE der Universität Hildesheim sowie dem Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) durchgeführt. Es vermittelt Schutzsuchende auf Basis eines Algorithmus passgenau an Kommunen in Deutschland.