Gerechtigkeit für den Globalen Süden: sechs Ideen von Andrea Ordóñez
Andrea Ordóñez, Forschungsbeauftragte des Netzwerkes Southern Voice, gehört zu den einflussreichsten Stimmen des Globalen Südens. In ihrer Arbeit engagiert sie sich für die gerechte Verteilung von Macht und Ressourcen zwischen Globalem Süden und Norden. Für AufRuhr hat sie sechs Perspektivwechsel formuliert, die für eine gerechtere Zukunft notwendig sind.
Der Human Development Index zeigt: Westliche Industriestaaten sind heute weiter entwickelt als Länder des Globalen Südens, was Lebenserwartung, Bildung und Lebensstandard angeht. Durch Kredite und Entwicklungshilfen sollen diese Nationen aufholen, doch die Kreditkonditionen nützen vorrangig den Geldgebern – dem Globalen Norden. Das Problem der Ungleichheit ist also tief im System verankert. Andrea Ordóñez formuliert deshalb sechs Forderungen, um die Länder des Globalen Südens zu stärken, zu vereinen und unabhängiger zu machen.
1. Schulden und internationale Finanzstrukturen hinterfragen:
„Derzeit sprechen offizielle Statistiken davon, dass etwa 130 Länder des Globalen Südens in Schuldennot sind. Das sind – je nachdem, welche Länder man zum Globalen Süden zählt – über 90 Prozent. Kann das wirklich nur an schlechter Wirtschaftsführung liegen? Nein. Die im internationalen Finanzsystem geltenden Regeln und Strukturen führen dazu, dass der Globale Süden überproportional hohe Schulden aufnimmt. Länder aus diesen Regionen werden beispielsweise bei der Kreditvergabe stets als hohes Risiko bewertet und müssen entsprechend hohe Zinsen zahlen – die Schulden sind also sehr teuer für die Länder des Globalen Südens. Diese Methodik muss sich ändern. Studien zeigen außerdem, dass der Globale Süden zwar etwa 30 Prozent der globalen Gesamtverschuldung trägt. 70 Prozent der weltweiten Staatsschulden tragen jedoch die westlichen Länder.“
Andrea Ordóñez Llanos ist Forschungsbeauftragte/Mitgründerin von Southern Voice mit Sitz in Quito, Ecuador. Ihre Hauptforschungsinteressen sind Sozialpolitik, öffentliche Finanzen, Entwicklungsfinanzierung und internationale Zusammenarbeit. Ihr Ziel ist es, sicherzustellen, dass neue Stimmen und Ideen aus dem Globalen Süden in allen Regionen der Welt gehört werden.
2. Wie passend ist der Begriff „postkolonial“?
„Natürlich gibt es koloniale Machtdimensionen. Und es ist wichtig, anzuerkennen, dass sich viele Dinge seit der Kolonialzeit nicht verändert haben. Doch wie kommen wir voran? Ich denke, die Antwort lautet nicht, auf die Kolonialzeit zurückzublicken. Ich ziehe es stattdessen vor, über globale Machtfragen und die Handlungsfähigkeit des Globalen Südens zu sprechen. Darauf müssen wir unsere Aufmerksamkeit richten.“
3. Ideen aus dem Globalen Süden neu bewerten:
„Wir alle neigen dazu, Ideen aus den USA oder Europa für universell und überall anwendbar zu halten. Doch wenn eine Idee aus dem Globalen Süden kommt, wird sie oft nur als lokal relevant angesehen. Das ist eine Einschränkung bei der Suche nach globalen Lösungen – und das müssen wir ändern.“
4. Dialog auf Augenhöhe zwischen Globalem Süden und Norden:
„Ich sehe noch immer, dass viele Akteur*innen des Globalen Nordens nur miteinander sprechen, wenn es um Lösungen für Ungerechtigkeiten im Globalen Süden geht, statt direkt mit dem Globalen Süden zu reden. Wir brauchen mehr Gespräche, in denen die Prioritäten des Globalen Südens im Mittelpunkt stehen und in denen gefragt wird: Was denken Sie darüber? Was stört euch an dieser Situation? Und was kann getan werden?“
5. Die Handlungsfähigkeit des Globalen Südens in geopolitischen Beziehungen anerkennen:
„Die Länder des Globalen Südens entscheiden selbst, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Der Globale Süden hat einen eigenen Handlungsspielraum und auch Entscheidungsgewalt. So ruft die zunehmende Zusammenarbeit des Globalen Südens mit China große Skepsis im Globalen Norden hervor. Doch die politischen Entscheidungsträger*innen des Globalen Südens wägen hier die Chancen und die Risiken ab. Der chinesische Staat zwingt den Globalen Süden nicht einfach dazu, mit ihm zu kooperieren. Die Zusammenarbeit ist eine bewusste Entscheidung.“
6. Kooperationen im Globalen Süden stärken:
„Wir müssen anerkennen, dass sich viele Länder des Globalen Südens noch im Aufbau befinden. Sie treten bei vielen globalen Verhandlungen mit dem Globalen Norden nicht geeint auf. Was nötig ist, sind stärkere Kooperationen und Partnerschaften zwischen den Ländern des Globalen Südens. Wir müssen versuchen, einen Platz am Verhandlungstisch zu bekommen. Wenn wir uns als verschuldete Länder des Globalen Südens zusammentun, haben wir dort eine echte Verhandlungsgrundlage.“
Andrea Ordóñez’ Essay „Die Schuld der Gläubiger: Warum der Globale Süden dauerhaft in der Kreide steht“ ist kürzlich im Magazin „Internationale Politik“ erschienen. Sie beleuchtet darin die systembedingten Probleme der internationalen Finanzarchitektur, die hauptsächlich den reichen Gläubigern des Globalen Nordens nützt. Ordóñez beschreibt, wie unfaire Machtverhältnisse und eine unzureichende Unterstützung aus dem Globalen Norden die Schuldenkrise des Globalen Südens verschärfen. Und welche Reformen notwendig wären, um den Kreislauf von Abhängigkeit und Verschuldung zu durchbrechen.
Southern Voice
Southern Voice ist ein Netzwerk von über sechzig Thinktanks aus Afrika, Lateinamerika, der Karibik und Asien. Southern Voice nutzt die Erkenntnisse und die Analysen des Globalen Südens, um faire globale Entwicklungsdebatten zu fördern.
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