Polarisierung durch Migration: wie Emotionen die Debatte bestimmen

Ein Bild aus der Vogelperspektive zeigt viele Menschen, die auf einem Platz laufen, der teils rot und teils weiß ist
Polarisierung durch Migration: wie Emotionen die Debatte bestimmen
Autorin: Diana Laarz 14.10.2025

Wie gespalten ist die deutsche Gesellschaft wirklich? Das neue Polarisierungs­barometer des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) zeigt: Beim Thema Migration gehen die Meinungen teils weniger auseinander als angenommen – doch gleich­zeitig findet ein hoch­emotionaler Meinungs­kampf statt. Studien­leiter Hans Vorländer warnt: Empörung und Erregung rund um Migration bedrohen die Grundlagen demokratischer Streitkultur.

Herr Vorländer, ist die deutsche Gesellschaft gespalten?

Ja, das ist eine der wichtigen Erkenntnisse unserer aktuellen Untersuchung: Eine über­wiegende Mehrheit der Bevölkerung denkt in der Tat, dass die Gesellschaft in Deutschland gespalten ist.

Bestätigt sich diese gefühlte Wahrheit auch in weiteren Daten der Studie?

Generell können wir nicht sagen, dass die Gesellschaft gespalten ist. Mit unserer Untersuchung versuchen wir, genauer hin­zu­schauen: Wo stimmt diese Selbst­wahr­nehmung – und wo stimmt sie nicht?

Was haben Sie herausgefunden?

Bei einigen Themen, die immer wieder diskutiert werden, herrscht eine relativ hohe Einigkeit. Eine deutliche Mehrheit spricht sich in unseren Befragungen zum Beispiel für höhere Rüstungs­ausgaben aus. Auch sind die meisten Deutschen der Auffassung, der Staat solle intervenieren, wenn Einkommen und Vermögen zu ungleich verteilt sind. Hier kann man also nicht von Spaltung sprechen, weil bei diesen Themen eine geringe ideologische Polarisierung herrscht.

Ein Portraitbild von Hans Vorländer
© Christoph Soeder / dpa

Prof. Dr. Hans Vorländer ist Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratie­forschung sowie Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) an der TU Dresden. Von 2018 bis 2024 war er Mitglied und von 2023 bis 2024 Vorsitzender des Sach­verständigen­rates für Integration und Migration.

Es gibt aber Themen, die die Deutschen besonders weit aus­einander­treiben. Welche Themen haben eine hohe ideologische Polarisierung?

Die stärksten Ausschläge sehen wir bei den Themen Unter­stützung der Ukraine und Klimawandel. Bei Letzterem sind die Deutschen deutlich gespalten: Etwa die Hälfte ist der Auffassung, dass die bisherigen Maßnahmen ausreichen. Die andere Hälfte sagt, man müsse mehr machen.

Ein Thema, das in den politischen Diskussionen seit einigen Jahren eine große Rolle spielt, fehlt in Ihrer Aufzählung: die Migration.
Die ideologische Polarisierung ist bei diesem Thema nicht bemerkens­wert hoch. Eine große Mehrheit der Befragten, fast 67 Prozent, spricht sich für Einschränkungen von Zuwanderungs­möglichkeiten aus. Auf­schluss­reich aber ist, dass der Zuzug von Fachkräften mehrheitlich begrüßt wird. Gespalten ist jedoch die Meinung, was für die Integration wichtiger ist: die deutsche Sprache und der Respekt vor dem Gesetz oder die Anpassung an die hiesige kulturelle Lebens­weise.

Welche Arten von Polarisierung gibt es?

Hans Vorländer unterscheidet in seiner Forschung zwischen ideologischer und affektiver Polarisierung. Die ideologische Polarisierung tritt ein, wenn es zwei große entgegen­gesetzte Meinungs­lager gibt. Die affektive Polarisierung gibt an, wie hoch das Erregungs­potenzial eines Themas ist. Bei hoher affektiver Polarisierung betrachten die Menschen Gleich­gesinnte mit sehr hoher Sympathie, Anders­denkende werden dagegen nicht nur als Gegner*innen, sondern als Feind*innen angesehen.

Stimmt also der Eindruck nicht, gerade dieses Thema würde Deutschland spalten?

Doch, der stimmt. Das liegt an der sehr hohen affektiven Polarisierung. Von allen 15 untersuchten Themen­feldern war bei der Migration diese Polarisierung am höchsten. Das heißt, das Thema Zuwanderung ist ungeheuer emotional aufgeladen. Wir nennen es auch ein Reizthema, weil es hier sehr leicht zu Formen von Hass, Hetze, Herab­würdigung und dergleichen kommt.

Ist das denn nicht widersprüchlich bei einem Thema, bei dem laut Ihrer Daten eine breite Mehrheit einer Meinung ist?

Das Thema wird von bestimmten politischen Akteur*innen – ich nenne sie Empörungs­unternehmer*innen – instrumentalisiert. Es bietet offenbar viele Gelegenheiten, zuzuspitzen, Empörung zu suggerieren und die Gemüter zu erregen. Das machen vor allem rechts­populistische und rechts­extreme Gruppen. Die AfD stützt sich fast ausschließlich auf das Thema Migration, bedient Narrative wie die Einwanderung in das Sozialsystem. Die Partei hat das Empörungspotenzial erkannt und generiert damit Aufmerksamkeit.

Die ideologische Polarisierung ist beim Thema Migration nicht bemerkenswert hoch.

Prof. Dr. Hans Vorländer, Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM)

Aber nicht nur die AfD und ihre Anhänger*innen sind erregt und empört, viele andere auch.

Das stimmt. Sie müssen es sich wie einen Wettbewerb der Empörung vorstellen. In den sozialen Medien wird eine erregte Diskussion gestartet. Diese wird von einem Teil der etablierten Medien aufgegriffen und dann von Abgeordneten im Parlament weiter­gespielt. Dort werden Reden zum Teil gezielt so gehalten, dass Passagen daraus später für die sozialen Medien verwendet werden können. Deshalb erleben wir dort so stark aufgeladene Rhetoriken. Auch im Bundestag sehen wir bei allen Parteien immer häufiger die Tendenz, Gegner*innen sehr hart zu attackieren und sich als das alleinige Sprachrohr der Empörten dar­zu­stellen.

MIDEM Polarisierungsbarometer 2025

Das neue MIDEM Polarisierungs­barometer 2025 zeigt: Nicht jede Polarisierung gefährdet die Demokratie. Entscheidend ist, wie Menschen mit Unterschieden umgehen. Die rund 34.000 Befragten zeichnen ein differenziertes Bild: Nicht jede Meinungs­verschiedenheit bedroht den Zusammen­halt. Gefährlich wird es erst, wenn politische Gegensätze in Feindschaft umschlagen und der gemeinsame demokratische Rahmen verloren geht.

Lesen Sie die ganze Studie hier.

Sie beschreiben einen Wettbewerb, ja, einen Teufelskreis der Empörung. Führt der am Ende zur Spaltung?

Von einer Spaltung kann man nicht schon sprechen, wenn es politische oder ideologische Differenzen gibt – die gehören zur Demokratie. Spaltung beginnt dort, wo politische Positionen nicht mehr als legitim anerkannt werden. Affektive Polarisierung ist dabei ein entscheidender Indikator. Wenn affektive Polarisierung so weit geht, dass keine Verständigung über gemeinsame Grundlagen, auch keine demokratische Konflikt­lösung mehr möglich ist, dann kann man von einer gespaltenen Gesellschaft sprechen.

Wenn affektive Polarisierung so weit geht, dass keine demokratische Konflikt­lösung mehr möglich ist, kann man von einer gespaltenen Gesellschaft sprechen.

Prof. Dr. Hans Vorländer, Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM)

Wenn die meisten Deutschen Einschränkungen bei der Zuwanderung befürworten, warum wird das Thema dennoch so emotional diskutiert?

Weil die Wahrnehmung von Zuwanderung stark vom Framing, also der Darstellung des Themas, abhängt. Ein Großteil der Befragten will Zuzugs­möglichkeiten einschränken. Gleichzeitig befürwortet eine Mehrheit die Fach­kräfte­zuwanderung. Das zeigt: Migration wird nicht primär als politisches Problem wahr­genommen, sondern als identitäres Reizthema. Begriffe wie Migrant*innen aktivieren negative Assoziationen – etwa die Belastung der Sozialsysteme, Kriminalität oder kulturelle Fremdheit. Fachkräfte hingegen versprechen wirtschaftlichen Nutzen. Die Vorprägung bestimmt die Debatte.

Haben Sie einen Vorschlag, wie wir aus dem Teufelskreis der Erregung rauskommen?

Wir müssen die Diskussion versachlichen, das ist ganz wichtig. Unsere Befragungen zeigen auch, dass die Menschen zu einer differenzierten und sachlichen Betrachtung in der Lage sind. Wie schon erwähnt, sind zwei Drittel der Befragten dafür, Zuzugs­möglichkeiten für Ausländer*innen weiter ein­zu­schränken. Wenn es aber um die Zuwanderung von Arbeits­kräften geht, verkehrt sich das Meinungs­bild fast ins Gegenteil. Dann befürworten 61 Prozent die Erleichterung der Migration. In der öffentlichen Diskussion wird häufig alles in einen Topf geworfen. Wenn wir den Diskurs versachlichen, können wir auch Lösungen finden.

Die Forderung nach einer sachlichen Diskussion klingt gut, ist aber in der aufgeheizten Stimmung unwahrscheinlich, oder?

Hinter den Kulissen versuchen die Politiker*innen, argumentativ zu pragmatischen Lösungen zu kommen, das erlebe ich immer wieder. Doch dann schießen die Logiken der Aufmerksamkeits­ökonomie dazwischen. Die sozialen Medien werden von Aufregung, Empörung und Polarisierung angetrieben. Dem unterwerfen sich viele. Dann werden wieder erregte Kontra­positionen abgegeben, und es entsteht eine aufgeheizte Diskurslandschaft, die eher einem Schlacht­feld ähnelt als einer Arena zivilen Konflikt­austrages. Daran kann eine Demokratie scheitern.

Sind Sie optimistisch, dass unsere Demokratie mit diesen Spannungen umgehen kann?

Es muss uns gelingen, damit konstruktiv umzugehen. Ansonsten begeben wir uns auf eine abschüssige Bahn, an deren Ende die Autokrat*innen warten.


Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM)

MIDEM ist ein praxisnahes Forschungs­projekt, das den Zusammenhang zwischen Migration, Demokratie und gesellschaftlichem Zusammen­halt untersucht. Erforscht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften – in einzelnen Ländern und im vergleichenden Blick auf Europa.
forum-midem.de