Frauengesundheit als Politikum: Charité-Projekt baut Diskriminierung ab
Mit dem Projekt „Empowerment für Diversität – Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung“ geht die Charité – Universitätsmedizin Berlin mit bundesweit sieben Frauenkliniken gegen Diskriminierung in der Medizin vor. Im Fokus stehen dabei Patient*innen und Mitarbeitende mit Rassismuserfahrung, Flucht- oder Migrationsgeschichte. AufRuhr war bei einem Aktionstag am Universitätsklinikum Leipzig dabei.
Eine Gebärmutter aus Kunststoff liegt auf dem Tisch des Vereins NURA.Leipzig vor dem hellen Sitzungssaal in der Universitätsklinik Leipzig. Die Vertreter*innen des Vereins nutzen das Modell, um über den weiblichen Zyklus oder das Thema Schwangerschaft ins Gespräch zu kommen. NURA.Leipzig ist eine von neun Leipziger Initiativen, die anlässlich des Internationalen Aktionstages für Frauengesundheit am 28. Mai auf dem „Markt der Möglichkeiten“ Fragen beantworten und Flyer verteilen. Nebenan halten Expertinnen Vorträge zu Kinderwunschbehandlungen oder zur Erkrankung Endometriose, begleitet von dem leisen Flüstern mehrerer Dolmetscher*innen.
Weil Türkisch nicht dabei ist, setzt sich Professorin Bahriye Aktas, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde am Universitätsklinikum Leipzig, spontan zu einer Gruppe Frauen und übersetzt selbst. „Ich bin schon als Kind mit Verwandten zu Gynäkolog*innen gegangen, die die Sprache nicht konnten“, erzählt die renommierte Krebsforscherin. „Dadurch entstand bei mir früh der Wunsch, Frauenärztin zu werden. Ich wollte, dass die gynäkologische Vorstellung nicht mehr Überwindung kostet als die hausärztliche.“
Bei der Bewerbung ihrer Klinik um das Programm „Empowerment für Diversität – Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung“ war Aktas federführend. „Wer wie ich einen Migrationshintergrund hat, erlebt gewisse Dinge. Viel stärker von Diskriminierung betroffen sind aber Menschen, die die deutsche Sprache nicht oder nur unzureichend sprechen.“ Denn diese Menschen werden oft respektlos behandelt. Der Klassiker: Das Gegenüber wird immer lauter, dabei hat die Person kein Hör-, sondern ein Sprachproblem. Doch Sprachbarrieren sind nur eine von vielen Hürden: Auch rassistische Zuschreibungen, queerfeindliche Bemerkungen oder abwertende Reaktionen auf die soziale Herkunft kommen in Kliniken vor.
Prof. Dr. Bahriye Aktas ist Direktorin der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde am Universitätsklinikum Leipzig. Sie ist vor allem im Bereich der Krebsfeldchirurgie in der gynäkologischen Onkologie tätig. Neben der minimalinvasiven und roboterassistierten Chirurgie beschäftigt sie sich mit der Senologie, der Medizin der weiblichen Brust. Außerdem ist sie eine der Initiator*innen des Projektes „Empowerment für Diversität – Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung“.
Damit Vorurteile und Diskriminierung in Zukunft nicht mehr die Qualität der medizinischen Behandlung beeinträchtigen, hat die Berliner Charité vor zweieinhalb Jahren das Projekt ins Leben gerufen. Sieben Frauenkliniken in ganz Deutschland erhalten eine Teilförderung, das Universitätsklinikum Leipzig ist eine von ihnen. Die Förderung ermöglicht den Kliniken, Mitarbeitende zu Diskriminierungsthemen zu schulen, elektronische Übersetzungshilfen anzuschaffen, Internetseiten und Flyer zu übersetzen oder Veranstaltungen zur Sensibilisierung von Personal und Patient*innen auszurichten. „Ziel ist es, in den Organisationsstrukturen nachhaltig Prozesse und Maßnahmen zu verankern, die Diskriminierung, beispielsweise aufgrund von Herkunft, sexueller Orientierung oder sozialem Status, verhindern“, erklärt Sybill Schulz. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Organisationsentwicklung der am Projekt beteiligten Kliniken und ist seit vielen Jahren als Beraterin im Gesundheits- und Integrationsbereich tätig.
Sprachbarrieren überwinden
Mittlerweile hat Assistenzärztin Rosa Schulte-Frohlinde die Koordination des Projektes in Leipzig übernommen. Sie organisiert Veranstaltungen und verpflichtende Trainings für Kolleg*innen. Dabei gehe es viel um Kommunikation und Selbstreflexion. Im stressigen Klinikalltag fehle es oft an Zeit. Wenn dann ein*e Patient*in mehr Aufmerksamkeit benötige als üblich, steige das Stresslevel bei den zuständigen Ärzt*innen und Pflegekräften. Insbesondere die Triage – die Sichtung und die Priorisierung von Verletzten und Erkrankten bei einem Massenanfall – werde von internalisierten, oft auch diskriminierenden Bewertungsmustern beeinflusst. Die Ungeduld sei oft ein Resultat von mangelndem Verständnis: Warum spricht jemand, der in Deutschland lebt, die Sprache nicht oder nur unzureichend? Rosa Schulte-Frohlinde: „Nicht jede Person kommt freiwillig hierher. Manchmal sind die Lebensumstände auch so fordernd, dass keine Zeit bleibt, einen Sprachkurs zu besuchen.“ Über solche Fragen ins Gespräch zu kommen, helfe Ärzt*innen und Pflegepersonal, in Zukunft verständnisvoller zu reagieren.
Dr. Rosa Schulte-Frohlinde ist Assistenzärztin der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde am Universitätsklinikum Leipzig. Sie koordiniert das Projekt „Empowerment für Diversität – Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung“ für den Standort Leipzig.
Meist sind die Patient*innen verpflichtet, sich selbst um eine*n Dolmetscher*in zu kümmern. Das kann auch ein*e Angehörige*r sein oder ein Mitglied einer Hilfsorganisation. Für Notfälle hat die Klinik nun mit Unterstützung des Projektes Übersetzungsgeräte angeschafft. Die kleinen Apparate in der Größe eines Handys entsprechen den strengen Datenschutzstandards der Klinik und funktionieren vor allem für weitverbreitete Sprachen sehr gut. Dass diese allerdings bei selteneren Sprachen, beispielsweise Georgisch, an ihre Grenzen kommen, mussten Bahriye Aktas und Rosa Schulte-Frohlinde bereits feststellen.
Auch Anamnesebögen der gynäkologischen Ambulanz ließ die Universitätsfrauenklinik in verschiedene Sprachen übersetzen. Mithilfe von Übersetzungsapps können Patient*innen nun ihre Daten auf Deutsch eintragen, das spart Zeit. Eine zusätzliche Stütze in der Kommunikation ist das international zusammengesetzte Team. Jede Station hat inzwischen über die Personalabteilung Zugriff auf eine Liste mit Kolleg*innen, die übersetzen können – vorausgesetzt, sie haben gerade Dienst und sind verfügbar.
Interne Leitlinie für Unversicherte
Ebenfalls eine vulnerable Gruppe sind Patient*innen ohne Krankenversicherung. Annette Keller, Leiterin des Sozialdienstes, kümmert sich mit ihrem Team um die Betroffenen und arbeitet dabei auch mit Behörden und externen Hilfsorganisationen wie dem Verein CABL zusammen. „Wichtig ist, dass alle – vom Klinikempfang bis zu den Stationen – wissen, wie sie eine unversicherte Person unterstützen können“, stellt Annette Keller klar. „Wir haben dazu eine interne Leitlinie verfasst und schulen aktuell Kolleg*innen aus der Pflege.“
Annette Keller ist Diplom-Sozialpädagogin und Leiterin der Zentralen Einrichtung Kliniksozialdienst am Universitätsklinikum Leipzig.
Das Projekt „Empowerment durch Diversität“ nimmt Frauen* und FLINTA*-Personen in den Fokus, da sie aufgrund ihres Geschlechts häufig unter Mehrfachdiskriminierung leiden, wenn sie beispielsweise nicht versichert oder von Rassismus betroffen sind. Unsicherheit nimmt Rosa Schulte-Frohlinde auch im Umgang mit queeren Menschen wahr. Sie hat sich angewöhnt, beim Aufrufen von Patient*innen nur den Nachnamen zu nennen. „Im Gespräch kann ich dann fragen, wie die Person angesprochen werden möchte“, sagt sie. Das zeigt: Die Gynäkologie ist ein politisches Fach. Ob Transidentität, Schwangerschaftsabbrüche oder Eizellenspende: Vieles wird nicht nur in Sprechzimmern be-, sondern auch in Parlamenten verhandelt.
Im Krankenhaus der Zukunft sollten Rechte von Frauen und FLINTA*-Personen mehr an Bedeutung gewinnen, wünscht sich Rosa Schulte-Frohlinde. Als Assistenzärztin lehrt sie auch am Krankenhaus, für Studierende hat sie im März erstmals ein Wahlpflichtseminar zur diskriminierungssensiblen Medizin angeboten. Das Feedback war durchweg positiv. Ein Satz hat ihr besonders Hoffnung für die Zukunft ihres Faches gegeben: „Jetzt weiß ich endlich, was ich für eine Ärztin werden möchte.“
Empowerment für Diversität – Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung
„Empowerment für Diversität“ ist ein bundesweites Projekt der Charité – Universitätsmedizin Berlin, das sich für mehr Chancengleichheit und Diversitätsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung einsetzt. Im Fokus stehen dabei Patient*innen und Mitarbeitende mit Rassismuserfahrung, Flucht- oder Migrationsgeschichte. Unter der Leitung von Professorin Dr. Theda Borde und Professor Dr. Jalid Sehouli fokussiert sich ein sechsköpfiges Team gemeinsam mit sieben Partnerkliniken und zehn Qualifizierungspartnern darauf, diskriminierungssensible Strukturen aufzubauen, intersektionale Kompetenzen zu stärken und diversitätsorientierte Lehrformate zu entwickeln.