„Pflegekräfte müssen sich in Deutschland wohlfühlen, damit sie bleiben“

Jede sechste Pflegefachkraft in Deutschland kommt mittlerweile aus dem Ausland. Doch nicht alle von ihnen wollen hier bleiben. Ein Forschungsprojekt der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) zeigt: Diskriminierung, Sprachbarrieren und soziale Isolation bereiten den Zugezogenen Probleme. Wie sich das ändern lässt und wie Kliniken, Pflegeeinrichtungen und -dienste vorangehen, erklären Theresa Wagner und Dr. Tobias Weidinger.
Auf dem Papier ist die Sache klar: Die deutsche Pflege braucht dringend Zuwanderung. Immer mehr Menschen werden im Alter pflegebedürftig, gleichzeitig lassen sich zu wenig Deutsche als Pflegekräfte ausbilden. Seit einigen Jahren rekrutieren daher deutsche Kliniken, Pflegeeinrichtungen und -dienste gezielt ausländische Pfleger*innen, um diese Versorgungslücke zu schließen. Doch nicht alle Menschen, die für diese Arbeit nach Deutschland kommen, werden mit offenen Armen empfangen.
„Diskriminierung gehört zu den häufigsten Problemen, von denen ausländische Pflegekräfte berichten“, sagt Theresa Wagner. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am FAU Forschungszentrum Center for Human Rights Erlangen-Nürnberg hat im Rahmen des Projektes „Gesundheit! Teilhabe im Pflegesektor“ Pflegekräfte wie Mariam* aus Burkina Faso interviewt. Ein roter Faden habe sich durch alle Gespräche gezogen, sagt sie: „Die Entscheidung, hierzubleiben oder nicht, hängt stark davon ab, ob sich die Menschen in Deutschland wohlfühlen.“
Das Forschungsprojekt untersucht seit 2022, unter welchen Bedingungen die langfristige Integration von Pflegekräften aus dem Ausland gelingen kann. Die zentrale Erkenntnis: Zum Wohlfühlen gehört wesentlich mehr, als nicht diskriminiert zu werden oder einen sicheren Job mit Sozialversicherung zu haben. Zu häufig konzentriere sich die politische Debatte auf die Transaktion Arbeitskraft gegen Bezahlung, so Tobias Weidinger vom Institut für Geographie der FAU. Zu wenig gehe es um soziale Teilhabe, Freizeit und Alltagsmobilität. Vermeintlich weiche Faktoren, die aber zu harten Entscheidungen führen: Ist Deutschland das neue Zuhause oder nur eine Zwischenstation?

Theresa Wagner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projektes „Gesundheit! Teilhabe im Pflegesektor“ am FAU CHREN. Davor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projektes „Brennglas Corona. Lokale Integrationsarbeit in Zeiten einer globalen Pandemie“ im Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration tätig.
Dabei beginne ein guter Integrationsprozess schon mit dem entsprechenden Erwartungsmanagement im Heimatland, betont Weidinger. „Es reicht nicht, die Menschen vom Flughafen abzuholen und ihnen eine Wohnung zu geben“, erklärt er. „Um Enttäuschungen zu vermeiden, müssen Pflegeeinrichtungen und Recruiting-Firmen frühzeitig über die Bedingungen in Deutschland informieren.“ Viele Pflegekräfte haben in ihrem Heimatland bereits jahrelange Berufserfahrungen gesammelt, sind an bestimmte Prozesse, Gesetze und Umgangsformen gewöhnt. Diese können in Deutschland aber anders geregelt sein.

Sprachbarrieren: B2 reicht oft nicht aus
Die ersten Wochen und Monate in Deutschland sind für ausländische Pflegekräfte besonders herausfordernd. Ausreichende Sprachkenntnisse sind dabei eine der größten Hürden. Zwar müssen die angeworbenen Pflegekräfte ein Sprachniveau auf dem B2-Level nachweisen, doch oft liegen längere Zeiträume zwischen der Zertifizierung und der Einreise nach Deutschland. Wer nicht in Übung geblieben ist, hat vieles wieder vergessen. Auch Dialekte am neuen Wohnort können die Kommunikation erschweren.
Hinzu kommen alltägliche Probleme: Wie schließe ich einen Handyvertrag ab? Wie richte ich ein Bankkonto ein? Und wie finde ich mich in einer neuen Stadt zurecht? „Der erste Kulturschock ist enorm“, sagt Weidinger. „Viele haben Schwierigkeiten, sich im neuen Alltag zurechtzufinden – sei es beim Einkaufen, im Verkehr oder im Umgang mit Behörden.“ Nicht zuletzt müssten sich gerade Pflegekräfte aus südlichen Ländern auch mit dem deutschen Wetter arrangieren.

Dr. Tobias Weidinger arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der FAU und ist am Projekt „Gesundheit! Teilhabe im Pflegesektor“ beteiligt. Er forscht zu Fragen von Migration und Integration und engagiert sich in der Methodenentwicklung. Besonders beschäftigt er sich mit verschiedenen Formen der Zuwanderung in ländliche Räume und mit Folgen für die regionale Entwicklung.

Einsamkeit statt Integration?
Die Herausforderungen für viele eingewanderte Pflegekräfte ähneln sich. Wie gut sie mit ihnen zurechtkommen, hängt stark davon ab, wie sie vor Ort unterstützt werden. Theresa Wagner sagt: „Manche berichten von richtig guten Erfahrungen. Von ganzen Teams oder einzelnen Personen in den Pflegeeinrichtungen, die den Zugezogenen auch über die Arbeit hinaus helfen und sie zu Vereinstreffen oder Stammtischen einladen.“
Andere Fachkräfte, so Wagner, berichteten von Einsamkeit und Heimweh. Fehlende soziale Kontakte führten dazu, dass manche innerhalb Deutschlands umzögen oder das Land ganz verließen. Im schlimmsten Fall würden die ausländischen Pflegekräfte in der Gesellschaft bewusst außen vor gelassen, sagt die Forscherin. „Einige Pflegekräfte haben mir erzählt, dass sie von Patient*innen abgelehnt wurden – weil sie einen anderen Namen oder eine andere Hautfarbe haben.“

Diskriminierung kann sich auch auf die Ausbildung beziehen. Manche Pflegekräfte fühlen sich nicht ausreichend wertgeschätzt oder bemerken, dass ihre Qualifikation nicht die gleiche Anerkennung erfährt wie eine deutsche Ausbildung. „Das ist paradox, denn tatsächlich ist die Pflegeausbildung in den meisten Herkunftsländern viel intensiver als bei uns“, sagt Theresa Wagner.
Die entscheidende Frage: Bleiben oder gehen?
Die Forschungsergebnisse des Projektes „Gesundheit! Teilhabe im Pflegesektor“, die im Herbst mit Handlungsempfehlungen erscheinen, zeigen: Eine nachhaltige Integration von Pflegekräften aus dem Ausland gelingt nur, wenn die Pflegeeinrichtungen mit den Kommunen, Bildungseinrichtungen und der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Wagner erklärt: „Für eine nachhaltige Beschäftigung brauchen wir Netzwerke, Prozesse und ein Bewusstsein für die individuellen Lebensrealitäten.“ Zudem müssten Pflegekräfte mit Migrationshintergrund stärker in Entscheidungsprozesse eingebunden werden.
Bis 2034 werden hierzulande 350.000 Pflegekräfte fehlen, schätzt das Statistische Bundesamt. Umso wichtiger ist es, diejenigen zu unterstützen, die sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen wollen: beim ersten Kontakt im Herkunftsland, mit weniger Bürokratie und mehr Verständnis für Alltagsherausforderungen. Denn nur, wer sich in Deutschland wohlfühlt, wird langfristig bleiben. Theresa Wagner: „Viele Einrichtungen sind bereits engagiert und sagen: Ohne internationale Pflegekräfte wird es nicht mehr gehen.“ Einige Kliniken, die sie durch ihre Arbeit kennengelernt habe, hätten bereits Rezepte für gelingende Integration: „In den Kliniken, in denen Integration gut funktioniert, gibt es meistens klare Prozesse. Denn es macht einen Unterschied, ob eine Pflegekraft in der Anfangszeit eng begleitet – zum Beispiel durch eine feste Ansprechperson – oder ob sie einfach in den Schichtplan geworfen wird“, sagt Wagner. Zudem organisierten einige Arbeitgeber Sprachkurse oder Tandemmodelle mit bereits eingearbeiteten ausländischen Pfleger*innen – ein weiterer Erfolgsfaktor. Wegen solcher Beispiele blickt Wagner positiv in die Zukunft: „Viele Pflegekräfte berichten, dass sie geblieben sind, weil sie sich gesehen fühlen – nicht nur als Arbeitskraft, sondern als Mensch. Das stimmt mich zuversichtlich.“
Gesundheit! Teilhabe im Pflegesektor
Das Projekt „Gesundheit! Teilhabe im Pflegesektor“ ist am FAU Forschungszentrum Center for Human Rights Erlangen-Nürnberg (FAU CHREN) unter der Leitung von Prof. Dr. Petra Bendel angesiedelt und kooperiert mit dem Institut der Geographie der FAU. Es untersucht, wie eine nachhaltige Beschäftigung von Pflegekräften mit Migrationsgeschichte gelingen kann. Fokus der Forschung ist die Bleibeorientierung: Unter welchen Bedingungen entscheiden sich Menschen, langfristig in Deutschland zu leben?
www.migration-pflege.chren.fau.de
*Alle Namen von der Redaktion geändert