Von der Kaserne zum Kiez: Ein Thüringer Quartier nutzt Vielfalt als Stärke

Von der Kaserne zum Kiez: Ein Thüringer Quartier nutzt Vielfalt als Stärke
Autorin: Mareike Knoke Fotos: Jens Schlüter 18.03.2025

Was braucht es, um zugewanderte Menschen bestmöglich in die Gesellschaft zu integrieren? Am Rande der thüringischen Stadt Saalfeld will ein Projekt darauf Antworten geben: Das Quartier ist eines von insgesamt zwölf sogenannten Ankunfts­quartieren in Deutschland, die von Forschenden des Instituts für Landes- und Stadt­entwicklungs­forschung (ILS), der Technischen Universität Berlin und dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) untersucht und begleitet werden. Der Projekt­ansatz sieht vor, neu zugezogene Menschen und Lang­zeit­bewohner*innen nicht nur zu unter­stützen, sondern in die Gestaltung ihres Viertels ein­zu­beziehen – mit Erfolg. Ein Besuch in Saalfeld-Beulwitz.

Wer sich in den Saalfelder Ortsteil Beulwitz begibt, kommt am Gelände der ehemaligen Sowjet­kaserne nicht vorbei. Die Soldaten­unterkünfte aus dem Zweiten Weltkrieg wurden nach der Wende zum Teil in sozial geförderte Wohnungen umgewandelt. Heute leben hier, 70 Kilometer von Erfurt entfernt, etwa 1.100 Menschen aus 31 Nationen – einige bereits seit Jahr­zehnten, andere sind erst in den vergangenen zehn Jahren hierhin gezogen. „Die Vielfalt der Welt spiegelt sich hier auf kleinem Raum wider“, sagt Hanka Giller, die Amts­leiterin für Jugend­arbeit, Sport und Soziales in Saalfeld. Die zwölf Ankunfts­quartiere des Projektes „Teilhabe in ,neuen‘ Ankunfts­quartieren stärken“ haben gemeinsam, dass sie von inter­nationaler Migration geprägt sind: Etwa 80 Prozent der Bewohner*innen des Saalfelder Ankunfts­quartiers haben eine Zuwanderungs­geschichte. Das ist ein starker Kontrast zum Rest Thüringens, in dem der Anteil der Zugewanderten nur bei gut acht Prozent liegt.

Der Stadtteil Beulwitz im thüringischen Saalfeld ist von bunten Plattenbauten gezeichnet. © Jens Schlüter
Hanka Giller ist die Amtsleiterin für Jugendarbeit, Sport und Soziales in Saalfeld.
Hanka Giller ist die Amtsleiterin für Jugendarbeit, Sport und Soziales in Saalfeld. © Jens Schlüter

Während Hanka Giller durch das Quartier führt, laufen Kinder umher, Erwachsene treffen sich zum gemeinsamen Kochen oder einfach nur zum Plaudern. Das Quartier an der Beulwitzer Straße ist zu einem Ort des Ankommens und der Teilhabe geworden, an dem sich die Menschen wohl- und zugehörig fühlen sollen. Dafür hat die Amts­leitung des Ressorts Jugend­arbeit, Sport und Soziales in Saalfeld in den vergangenen Jahren einiges auf den Weg gebracht. Dazu gehören etwa der Gemeinschafts­garten und das Nachbarschafts­zentrum „Werkhaus“. Der im Herbst 2024 fertig­gestellte, mit hellem Holz verkleidete Bau mit dem markanten roten „W“ auf dem Dach bietet 500 Quadratmeter Fläche für vielfältige Projekte. Die Bewohner*innen des Quartiers können und sollen die dortigen Angebote mitgestalten: Workshops zum Thema Schneidern und Gärtnern, Deutsch-Kurse oder Hilfs­angebote für Behörden­gänge.

Die 15-jährige Maryana hat vor Kurzem ihr erstes Interview mit einem Politiker geführt.
Die 15-jährige Maryana hat vor Kurzem ihr erstes Interview mit einem Politiker geführt. © Jens Schlüter

Am anderen Ende des Gebäudes gibt es zudem einen Raum für das Jugendteam des Bürgerradios SRB im Städte­dreieck Saalfeld, Rudolstadt und Bad Blankenburg. Eine beim Sender angestellte Journalistin betreut es. Die Jugendlichen lernen hier, wie sie Interviews führen, Audiodateien schneiden und die Takes anschließend zu einem Beitrag zusammen­fügen.

Die 15-jährige gebürtige Syrerin Maryana hat im „Werkhaus“ vor Kurzem ihr erstes Interview mit einem bekannten Politiker geführt: mit dem ehemaligen thüringischen Minister­präsidenten Bodo Ramelow. „Ich war ganz schön aufgeregt“, sagt sie und lacht. „Aber dann habe ich schnell gemerkt: Herr Ramelow ist wirklich an unserem Viertel interessiert und hat all meine Fragen beantwortet.“

Das „Werkhaus“ ist ein Ort für alle. „Alles, was wir hier gemeinsam anschieben und anbieten, ist auch ein herzliches Angebot für andere Bürger*innen aus Beulwitz und Saalfeld“, betont Hanka Giller. „Einige örtliche Unternehmen, aber vor allem die Bewohner*innen haben beim Bau des ,Werkhauses‘ mit angepackt, 150 Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie haben Wände gemauert, Holzbalken per Hand abgeschliffen und auch die Möbel für die Gemeinschafts­küche nach Anleitung gebaut“, berichtet sie. So wie die Bewohner*innen in Beulwitz kommen und gehen, soll sich künftig auch das neue Gebäude wandeln. „Das ,Werkhaus‘ ermöglicht es den Menschen, ihr Leben in diesem Stadt­teil mitzugestalten.“

Gillers Herz hängt an dem Quartier, das ist spürbar. Denn: „Der größte Erfolg ist, wenn das gemeinsame Anpacken für ein lebens­wertes Wohnviertel das Gefühl von Gemeinschaft und Selbst­wirksamkeit stärkt.“ Und das Gefühl, selbst etwas bewirken, mitreden und mitgestalten zu können, stärke letztlich auch demokratische Strukturen und die Zivil­gesellschaft, fügt sie hinzu. Sie sagt das insbesondere mit Blick auf die letzten Wahl­ergebnisse in Thüringen: Die rechts­populistische AfD schnitt mit einem Stimmen­anteil von knapp 40 Prozent ab.

Viele Menschen in der Region seien ohne Job, zudem sei Wohnraum knapp – der soziale Spreng­stoff, der darin steckt, sei nicht zu leugnen, meint Hanka Giller. Auch deshalb ist ihr ein Punkt besonders wichtig: „Die Willkommens­kultur hier im Viertel schließt alle Menschen in unserer Gegend mit ein, vor allem diejenigen, die sich sozial abgehängt fühlen. Es ist sehr wichtig, das im Blick zu behalten, damit ein friedliches Miteinander gelingen kann.“

Der politisch engagierte Rustem Curoli vor dem Eingang des "Werkhauses" in Saalfeld. © Jens Schlüter
Der 62-jährige Ralf Uhlmann wohnt schon sein ganzes Leben in Beulwitz. Er unterstützt das Quartier ehrenamtlich.
Der 62-jährige Ralf Uhlmann wohnt schon sein ganzes Leben in Beulwitz. Er unterstützt das Quartier ehrenamtlich. © Jens Schlüter

Nebenan, zwischen „Werkhaus“ und Wohnblocks, sitzt Ralf Uhlmann auf einer kleinen Bank. Der 62-Jährige ist in Saalfeld aufgewachsen und lebt schon lange im Ortsteil Beulwitz. Er wohnt in einer kleinen Einzimmer­wohnung auf dem ehemaligen Kasernen­gelände und ist eine feste Größe hier im Viertel. Bei jedem Wetter sitzt er an dem kleinen Grillplatz, den die Bewohner*innen selbst gebaut haben. Der frühere Gleis­arbeiter ist aufgrund einer starken Arthrose berufs­unfähig. Doch er unter­stützt das Quartiers­management ehren­amtlich, etwa wenn es um die Akquise von Sponsor*innen oder von Fördermitteln für Workshops oder soziale Events wie das Sommerfest geht.

Eigentlich, sagt Uhlmann, seien solche Veranstaltungen ja für alle Bürger*innen gedacht. Aber wenn er in Saalfeld erzähle, wo er wohne, sei die Reaktion fast immer negativ. Uhlmann schüttelt energisch den Kopf und betont: „Hier in Beulwitz gibt man aufeinander acht.“ Weil die meisten seiner Bekannten AfD-Wähler*innen sind, findet er es umso wichtiger, sich zu engagieren und „dem falschen Gerede über Migrant*innen“ etwas entgegen­zu­setzen.

Nicht weit entfernt wohnt Rustem Curoli mit seiner Großmutter. Der 20-Jährige wurde in Serbien geboren, lebt aber schon lange in Beulwitz. Er spricht perfekt Deutsch und wird bald eine Ausbildung zum Event-Kaufmann beginnen. Die Branche liegt ihm: Der junge Mann hilft in seiner Freizeit bei der Organisation des Sommer­festes und fungiert oft als Mittler, wenn es Sprach­probleme im Quartier gibt. Rustem ist auch sonst sehr engagiert: Mit Gleich­altrigen ist er im Moment öfter außerhalb unterwegs, um politische Workshops zu geben. „Wir sind Jugendliche aus ganz Deutschland, die sich für soziale Gerechtigkeit und die Beteiligung von jungen Menschen einsetzen“, sagt Rustem. „Wir brauchen eine laute Stimme in politischen Prozessen, gerade hier in unserer Heimat.“

Dass sich Jugendliche wie Rustem oder Maryana so selbst­bewusst einbringen würden, sei einer der Erfolge des Quartier­ansatzes, sagt Hanka Giller abschließend. „Die jungen Menschen im Quartier sind ein Sinnbild dafür, was möglich ist, wenn die Rahmen­bedingungen stimmen.“


Teilhabe in „neuen“ Ankunftsquartieren stärken

Das Forschungs-Praxis-Projekt „Teilhabe in ,neuen‘ Ankunfts­quartieren stärken“ untersucht und begleitet deutschland­weit zwölf Kommunen bei der Gestaltung und der Förderung von Teilhabe und Zusammen­halt im Kontext von Zuwanderung. Über einen Zeitraum von drei Jahren analysiert das Team aus ILS, TU Berlin und Difu, welche Faktoren das Ankommen und die Integration von Zugewanderten in relativ neuen Ankunfts­quartieren begünstigen. Es unterstützt Kommunen aktiv dabei, integrations­fördernde Strukturen auf­zu­bauen.

www.ankunftsquartiere-staerken.de