Ukraine Entwicklung: Die Fluchtfalle

ukrainische Flüchtlinge
Ukraine Entwicklung: Die Fluchtfalle
Autorin: Mareike Knoke 01.09.2022

Der Krieg in der Ukraine rückt den Fokus auf die vielen Geflüchteten, die in Deutschland eine Beschäftigung suchen, aber aufgrund mangelnder formeller Berufs­qualifikationen in schlecht bezahlten Jobs landen. Ein Forschungs­projekt untersucht die Bedingungen, unter denen Ukrainer*innen hier­zu­lande arbeiten – und die sind allzu oft prekär.

Manchmal überrollen weltpolitische Ereignisse wie Russlands Angriffs­krieg gegen die Ukraine auch wissenschaftliche Projekte. „Prekäre Beschäftigung von ausländischen Arbeits­kräften und Perspektiven für ihre Teilhabe in Deutschland“ lautet der Titel einer qualitativen Studie, die die Politik­wissen­schaftler*innen Holger Kolb und Franziska Loschert sowie die Arbeits­markt­soziologin Franziska Schork noch bis zum Herbst 2023 im Auftrag des Sach­verständigen­rates für Integration und Migration (SVR) beschäftigen wird.

Um Arbeitskräfte aus der Ukraine sollte es darin ursprünglich nur am Rande gehen. Das hat sich seit dem 24. Februar, dem Tag des Angriffes, geändert. Seither liegt ein Schwerpunkt der Studie auf der Arbeits­situation von Ukrainer*innen vor und nach diesem Tag. Es geht um Chancen und Herausforderungen der Ukraine in Europa in Bezug auf den deutschen Arbeitsmarkt.

Das Forschungsvorhaben untersucht allgemein die Beschäftigungs­bedingungen von zugewanderten Arbeiter­nehmer*innen, insbesondere von solchen aus EU- und Dritt­staaten, die im Niedrig­lohn­sektor und oft unterhalb des Mindest­lohnes arbeiten. Was sind die Folgen solcher prekären Beschäftigungen für die gesellschaftliche Teilhabe? Und was bedeuten sie für die europäische Integration der Ukraine?

Geflüchtete Ukrainer*innen hofften, dass ihre Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch anerkannt werden – oftmals umsonst. © Getty Images

Beschränkungen trotz unbeschränktem Zugang

Geflüchtete Ukrainer*innen haben derzeit unbeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das war vor dem Krieg anders: „Bürger*innen aus der Ukraine kamen zeitlich begrenzt vor allem als Betreuungs­kräfte in deutsche Privat­haus­halte, als Saison­arbeiter*innen auf Spargel- und Obsthöfe oder als Praktikant*innen nach Deutschland. Solche Arbeits­aufenthalte waren durch die 2017 eingeführte Visum­freiheit für vorüber­gehende Aufenthalte begünstigt worden“, beschreibt Projekt­leiter Holger Kolb die Situation.

Franziska Loschert ergänzt: „Was damals zunächst wie eine Erleichterung wirkte, bot leider weniger seriösen Vermittlungs­agenturen und Betrieben die Möglichkeit, Arbeits­schutz und Mindest­lohn zu unte­laufen, etwa indem sie meist Studierende aus der Ukraine offiziell als Praktikant*innen vermittelten oder beschäftigten.“ Resultat: eine starke Arbeitsmarktungleichheit in der Zusammenarbeit mit der Ukraine.

Um überhaupt zu arbeiten, übernehmen geflüchtete Ukrainer*innen oft Hilfsarbeiten. © Getty Images

Ukraine Zusammenarbeit: Keine zentrale Anlaufstelle

Die drei Wissenschaftler*innen führten Interviews mit Arbeits­markt­expert*innen von Arbeitgeber­verbänden und mit Migrations­berater*innen. Ein zentraler Aspekt ist die berufliche Qualifikation beziehungs­weise fehlende formale Anerkennung der Qualifikation der Beschäftigten – und wie Arbeit­geber*innen und Behörden damit umgehen. „Unser Eindruck ist, dass speziell mittel­ständische und kleine Unternehmen und die ausländischen Arbeits­kräfte mehr Beratung und Unter­stützung benötigen, weil dort vielfach Erfahrungs­werte und teils auch arbeits­rechtliche Kenntnisse fehlen“, sagt Kolb. „Viele der Genannten wünschen sich deshalb – auch angesichts der großen Zahl geflüchteter Ukrainer*innen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen möchten – eine zentrale, institutionalisierte Schnitt­stelle als Hilfe. Derzeit gibt es das noch nicht.“

Geflüchteten aus der Ukraine steht aktuell zwar nach § 24 des Aufenthalts­gesetzes nicht nur der deutsche Arbeits­markt offen, sie können auch finanzielle Hilfen beziehen: Seit Juni 2022 sind dies anstelle von Leistungen nach dem Asyl­bewerber­leistungs­gesetz normale Sozial­leistungen, Kindergeld oder BAföG.

„Prekäre Beschäftigung von aus­ländischen Arbeits­kräften und Perspektiven für ihre Teilhabe in Deutschland“

„Zeitenwende“ bei der Arbeitsmarktintegration? Die SVR-Studie versucht Antworten auf diese Frage zu finden und untersucht Teilhabe und Prekarität von Ukrainerinnen und Ukrainern am deutschen Arbeitsmarkt.

Fachkräfte­einwanderungs­gesetz für Hoch­qualifizierte

Entschärft dies das Problem prekärer Beschäftigungen? Das deutsche Fachkräfte­einwanderungs­gesetz (FEG), das im März 2020 in Kraft getreten ist, soll den Fach­kräfte­mangel bekämpfen, hat aber nur Fachkräfte mit anerkanntem Abschluss im Blick. In Deutschland werden jedoch auch Arbeitskräfte ohne oder mit geringen Formal­qualifikationen hände­ringend gesucht, etwa in der Gastronomie oder im Bausektor.

„Die Situation für die Ukrainer*innen hat sich einerseits grund­legend geändert – von der Erwerbs­migration hin zur Flucht­migration. Doch die Entkoppelung von Aufenthalts­berechtigung und beruflicher Qualifikation bedeutet nicht automatisch die Entkoppelung von Qualifikation und Arbeits­markt­positionierung“, betont Franziska Schork.

Das bedeutet: Viele Ukrainer*innen haben derzeit das Problem, dass selbst eine lang­jährige Berufs­erfahrung nicht dazu führt, als Fachkraft anerkannt und eingestellt zu werden.

Trotz Berufserfahrung schlechte Bezahlung

Denn das deutsche Berufs- und Ausbildungs­system und der Zugang zum Arbeitsmarkt sind stark reguliert. Menschen, die keine mit der deutschen Berufs­ausbildung vergleichbare Ausbildung durchlaufen haben, werden in Deutschland meist nur auf dem Niveau von Hilfskräften beschäftigt. Das wiederum bedeutet in vielen Fällen eine schlechtere Entlohnung.

Oft dürfen Ukrainer*innen auch in der Pflege nur als Hilfskräfte tätig sein. Dabei sind viele besser ausgebildet und werden schlechter bezahlt als es ihren Qualifikationen entsprechen würde. © stocksy

Einige Berufe, gerade auch in der chronisch unterbesetzten Pflegebranche, sind besonders streng reglementiert, weil die Tätigkeiten – beispiels­weise in Kranken­häusern oder in der Alten­pflege – eine besondere gesellschaftliche Relevanz haben. Von verschiedenen Seiten wird auch deshalb immer wieder eine stärkere Deregulierung gefordert.

Beschäftigungsmöglichkeiten für Ukrainer*innen gebe es in Deutschland natürlich trotzdem, „etwa in einem weniger stark reglementierten Ausbildungs- oder Handwerks­beruf“, sagt Franziska Schork. „Dazu gehören beispiels­weise Jobs als Verkäufer*in, als Lackierer*in oder als Mechaniker*in in einer Kfz-Werkstatt, wenn entsprechende praktische Erfahrungen und Referenzen vorliegen.“ Diese den Lebens­unterhalt sichernden Jobs seien für die Geflüchteten aus finanziellen und psychologischen Gründen wichtig, betont Schork.

Die drei Wissenschaftler*innen sehen einigen Verbesserungs­bedarf der aktuellen Situation: Beschäftigte sollten aufgrund der fehlenden Anerkennung ihrer Qualifikationen nicht dauerhaft schlechter bezahlt werden, zumal wenn sie über die nötigen praktischen Berufs­erfahrungen verfügten. „Es schwächt ihre Verhandlungs­position gegenüber den Arbeit­geber*innen und macht sie weniger wehrhaft gegen Arbeits­rechts­verletzungen, auch weil der Wechsel in eine andere und bessere Beschäftigungs­position ohne formale Qualifikation oft erschwert ist.“ Nach dem Motto: Einen besseren Job findest du sowieso nicht.

Nicht-EU-Arbeitskräfte ohne Gewerkschaften

„Für die Betroffenen ist es meistens auch deshalb schwierig, sich gegen schlechte Bezahlung, überlange Arbeits­zeiten und häufige, nicht vergütete Überstunden zur Wehr zu setzen, auch weil sie als prekär beschäftigte Nicht-EU-Arbeitskräfte nicht in den Zuständigkeits­bereich der Gewerkschaften fallen“, ergänzt Holger Kolb. Von einer Deregulierung des Arbeits­marktes hält er deshalb nicht viel: Diese bringe zwar mehr Menschen in Beschäftigung, führe aber letztlich in das von Loschert skizzierte ungute Abhängigkeits­verhältnis.

Viele Arbeitgeber*innen treibe angesichts fehlender Qualifikationen auch die Frage um: „Wie motivieren wir die Leute, eine Ausbildung aufzunehmen oder an einer Weiter­qualifizierung teilzunehmen?“, sagt Loschert. „Für viele Ukrainer*innen stellt sich wiederum die Frage, wie lange sie überhaupt in Deutschland bleiben werden und ob es sich für sie lohnt, eine Ausbildung zu machen, die ihnen dann möglicherweise in der Ukraine nicht anerkannt wird.“

Laut einer Befragung der UN-Flüchtlingshilfe UNHCR möchte die Mehrheit der geflüchteten Ukrainer*innen tatsächlich so bald wie möglich – wenn die Situation es zulässt – in ihre Heimat zurückkehren. „Und wer dies plant, wird sicherlich auch kein langwieriges und aufwendiges Anerkennungs­verfahren für seine berufliche Qualifikation starten“, meint Loschert.

Das macht die Situation nicht einfacher. Denn ein Ende des Krieges und damit eine Rückkehr in die Heimat sind nicht absehbar. Es ist derzeit schwer einschätzbar, wann es Ukrainer*innen tatsächlich möglich sein wird, ihr normales Alltags- und Erwerbsleben wieder aufzunehmen.


„Prekäre Beschäftigung von aus­ländischen Arbeits­kräften und Perspektiven für ihre Teilhabe in Deutschland“

Das von der Stiftung Mercator geförderte Forschungs­vorhaben unter­sucht im Auftrag des Sach­verständigen­rates für Integration und Migration (SVR) die Beschäftigungs­bedingungen von zugewanderten Arbeit­nehmer*innen, insbesondere solchen aus EU- und Dritt­staaten, die im Niedrig­lohn­sektor und oft unterhalb des Mindest­lohnes arbeiten – mit besonderem Fokus auf Menschen aus der Ukraine.