Ukraine Entwicklung: Die Fluchtfalle
Der Krieg in der Ukraine rückt den Fokus auf die vielen Geflüchteten, die in Deutschland eine Beschäftigung suchen, aber aufgrund mangelnder formeller Berufsqualifikationen in schlecht bezahlten Jobs landen. Ein Forschungsprojekt untersucht die Bedingungen, unter denen Ukrainer*innen hierzulande arbeiten – und die sind allzu oft prekär.
Manchmal überrollen weltpolitische Ereignisse wie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine auch wissenschaftliche Projekte. „Prekäre Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften und Perspektiven für ihre Teilhabe in Deutschland“ lautet der Titel einer qualitativen Studie, die die Politikwissenschaftler*innen Holger Kolb und Franziska Loschert sowie die Arbeitsmarktsoziologin Franziska Schork noch bis zum Herbst 2023 im Auftrag des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) beschäftigen wird.
Um Arbeitskräfte aus der Ukraine sollte es darin ursprünglich nur am Rande gehen. Das hat sich seit dem 24. Februar, dem Tag des Angriffes, geändert. Seither liegt ein Schwerpunkt der Studie auf der Arbeitssituation von Ukrainer*innen vor und nach diesem Tag. Es geht um Chancen und Herausforderungen der Ukraine in Europa in Bezug auf den deutschen Arbeitsmarkt.
Das Forschungsvorhaben untersucht allgemein die Beschäftigungsbedingungen von zugewanderten Arbeiternehmer*innen, insbesondere von solchen aus EU- und Drittstaaten, die im Niedriglohnsektor und oft unterhalb des Mindestlohnes arbeiten. Was sind die Folgen solcher prekären Beschäftigungen für die gesellschaftliche Teilhabe? Und was bedeuten sie für die europäische Integration der Ukraine?
Beschränkungen trotz unbeschränktem Zugang
Geflüchtete Ukrainer*innen haben derzeit unbeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das war vor dem Krieg anders: „Bürger*innen aus der Ukraine kamen zeitlich begrenzt vor allem als Betreuungskräfte in deutsche Privathaushalte, als Saisonarbeiter*innen auf Spargel- und Obsthöfe oder als Praktikant*innen nach Deutschland. Solche Arbeitsaufenthalte waren durch die 2017 eingeführte Visumfreiheit für vorübergehende Aufenthalte begünstigt worden“, beschreibt Projektleiter Holger Kolb die Situation.
Franziska Loschert ergänzt: „Was damals zunächst wie eine Erleichterung wirkte, bot leider weniger seriösen Vermittlungsagenturen und Betrieben die Möglichkeit, Arbeitsschutz und Mindestlohn zu untelaufen, etwa indem sie meist Studierende aus der Ukraine offiziell als Praktikant*innen vermittelten oder beschäftigten.“ Resultat: eine starke Arbeitsmarktungleichheit in der Zusammenarbeit mit der Ukraine.
Ukraine Zusammenarbeit: Keine zentrale Anlaufstelle
Die drei Wissenschaftler*innen führten Interviews mit Arbeitsmarktexpert*innen von Arbeitgeberverbänden und mit Migrationsberater*innen. Ein zentraler Aspekt ist die berufliche Qualifikation beziehungsweise fehlende formale Anerkennung der Qualifikation der Beschäftigten – und wie Arbeitgeber*innen und Behörden damit umgehen. „Unser Eindruck ist, dass speziell mittelständische und kleine Unternehmen und die ausländischen Arbeitskräfte mehr Beratung und Unterstützung benötigen, weil dort vielfach Erfahrungswerte und teils auch arbeitsrechtliche Kenntnisse fehlen“, sagt Kolb. „Viele der Genannten wünschen sich deshalb – auch angesichts der großen Zahl geflüchteter Ukrainer*innen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen möchten – eine zentrale, institutionalisierte Schnittstelle als Hilfe. Derzeit gibt es das noch nicht.“
Geflüchteten aus der Ukraine steht aktuell zwar nach § 24 des Aufenthaltsgesetzes nicht nur der deutsche Arbeitsmarkt offen, sie können auch finanzielle Hilfen beziehen: Seit Juni 2022 sind dies anstelle von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz normale Sozialleistungen, Kindergeld oder BAföG.
„Prekäre Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften und Perspektiven für ihre Teilhabe in Deutschland“
„Zeitenwende“ bei der Arbeitsmarktintegration? Die SVR-Studie versucht Antworten auf diese Frage zu finden und untersucht Teilhabe und Prekarität von Ukrainerinnen und Ukrainern am deutschen Arbeitsmarkt.
Fachkräfteeinwanderungsgesetz für Hochqualifizierte
Entschärft dies das Problem prekärer Beschäftigungen? Das deutsche Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG), das im März 2020 in Kraft getreten ist, soll den Fachkräftemangel bekämpfen, hat aber nur Fachkräfte mit anerkanntem Abschluss im Blick. In Deutschland werden jedoch auch Arbeitskräfte ohne oder mit geringen Formalqualifikationen händeringend gesucht, etwa in der Gastronomie oder im Bausektor.
„Die Situation für die Ukrainer*innen hat sich einerseits grundlegend geändert – von der Erwerbsmigration hin zur Fluchtmigration. Doch die Entkoppelung von Aufenthaltsberechtigung und beruflicher Qualifikation bedeutet nicht automatisch die Entkoppelung von Qualifikation und Arbeitsmarktpositionierung“, betont Franziska Schork.
Das bedeutet: Viele Ukrainer*innen haben derzeit das Problem, dass selbst eine langjährige Berufserfahrung nicht dazu führt, als Fachkraft anerkannt und eingestellt zu werden.
Trotz Berufserfahrung schlechte Bezahlung
Denn das deutsche Berufs- und Ausbildungssystem und der Zugang zum Arbeitsmarkt sind stark reguliert. Menschen, die keine mit der deutschen Berufsausbildung vergleichbare Ausbildung durchlaufen haben, werden in Deutschland meist nur auf dem Niveau von Hilfskräften beschäftigt. Das wiederum bedeutet in vielen Fällen eine schlechtere Entlohnung.
Einige Berufe, gerade auch in der chronisch unterbesetzten Pflegebranche, sind besonders streng reglementiert, weil die Tätigkeiten – beispielsweise in Krankenhäusern oder in der Altenpflege – eine besondere gesellschaftliche Relevanz haben. Von verschiedenen Seiten wird auch deshalb immer wieder eine stärkere Deregulierung gefordert.
Beschäftigungsmöglichkeiten für Ukrainer*innen gebe es in Deutschland natürlich trotzdem, „etwa in einem weniger stark reglementierten Ausbildungs- oder Handwerksberuf“, sagt Franziska Schork. „Dazu gehören beispielsweise Jobs als Verkäufer*in, als Lackierer*in oder als Mechaniker*in in einer Kfz-Werkstatt, wenn entsprechende praktische Erfahrungen und Referenzen vorliegen.“ Diese den Lebensunterhalt sichernden Jobs seien für die Geflüchteten aus finanziellen und psychologischen Gründen wichtig, betont Schork.
Die drei Wissenschaftler*innen sehen einigen Verbesserungsbedarf der aktuellen Situation: Beschäftigte sollten aufgrund der fehlenden Anerkennung ihrer Qualifikationen nicht dauerhaft schlechter bezahlt werden, zumal wenn sie über die nötigen praktischen Berufserfahrungen verfügten. „Es schwächt ihre Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgeber*innen und macht sie weniger wehrhaft gegen Arbeitsrechtsverletzungen, auch weil der Wechsel in eine andere und bessere Beschäftigungsposition ohne formale Qualifikation oft erschwert ist.“ Nach dem Motto: Einen besseren Job findest du sowieso nicht.
Nicht-EU-Arbeitskräfte ohne Gewerkschaften
„Für die Betroffenen ist es meistens auch deshalb schwierig, sich gegen schlechte Bezahlung, überlange Arbeitszeiten und häufige, nicht vergütete Überstunden zur Wehr zu setzen, auch weil sie als prekär beschäftigte Nicht-EU-Arbeitskräfte nicht in den Zuständigkeitsbereich der Gewerkschaften fallen“, ergänzt Holger Kolb. Von einer Deregulierung des Arbeitsmarktes hält er deshalb nicht viel: Diese bringe zwar mehr Menschen in Beschäftigung, führe aber letztlich in das von Loschert skizzierte ungute Abhängigkeitsverhältnis.
Viele Arbeitgeber*innen treibe angesichts fehlender Qualifikationen auch die Frage um: „Wie motivieren wir die Leute, eine Ausbildung aufzunehmen oder an einer Weiterqualifizierung teilzunehmen?“, sagt Loschert. „Für viele Ukrainer*innen stellt sich wiederum die Frage, wie lange sie überhaupt in Deutschland bleiben werden und ob es sich für sie lohnt, eine Ausbildung zu machen, die ihnen dann möglicherweise in der Ukraine nicht anerkannt wird.“
Laut einer Befragung der UN-Flüchtlingshilfe UNHCR möchte die Mehrheit der geflüchteten Ukrainer*innen tatsächlich so bald wie möglich – wenn die Situation es zulässt – in ihre Heimat zurückkehren. „Und wer dies plant, wird sicherlich auch kein langwieriges und aufwendiges Anerkennungsverfahren für seine berufliche Qualifikation starten“, meint Loschert.
Das macht die Situation nicht einfacher. Denn ein Ende des Krieges und damit eine Rückkehr in die Heimat sind nicht absehbar. Es ist derzeit schwer einschätzbar, wann es Ukrainer*innen tatsächlich möglich sein wird, ihr normales Alltags- und Erwerbsleben wieder aufzunehmen.
„Prekäre Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften und Perspektiven für ihre Teilhabe in Deutschland“
Das von der Stiftung Mercator geförderte Forschungsvorhaben untersucht im Auftrag des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) die Beschäftigungsbedingungen von zugewanderten Arbeitnehmer*innen, insbesondere solchen aus EU- und Drittstaaten, die im Niedriglohnsektor und oft unterhalb des Mindestlohnes arbeiten – mit besonderem Fokus auf Menschen aus der Ukraine.