Zwischen Vorbildern und Vorurteilen – auf Stadttour durch Duisburg-Hochfeld
Seit rund 200 Jahren prägt Einwanderung das Ruhrgebiet. Mit der EU-Osterweiterung hat sich die Migrationsdynamik in den letzten Jahren intensiviert. Ein Forschungsprojekt der Ruhr-Universität Bochum hat nun die komplexen Wanderungsbewegungen zwischen Südosteuropa und sechs ausgewählten Kommunen des Ruhrgebiets unter die Lupe genommen. Anfang Juni wurden die Ergebnisse in Duisburg-Hochfeld präsentiert. Teilnehmende der Abschlussveranstaltung konnten sich organisierten Führungen durch den Stadtteil anschließen.
Duisburg-Hochfeld: ein Stadtteil, in dem Menschen aus Südosteuropa die größte Einwanderungsgruppe stellen. Insgesamt leben in der Stadt rund 25.000 Bulgar*innen und Rumän*innen, ihre Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Die meisten von ihnen, 83 Prozent, kommen aus städtischen Gebieten ihrer Herkunftsländer. An der Wanheimer Straße, der Hauptverkehrsader des Viertels, überwiegen Geschäfte mit rumänischen, bulgarischen oder türkischen Namen. In den Nebenstraßen reihen sich Mietshäuser aus verschiedenen Jahrzehnten aneinander, die Fassaden sind oftmals heruntergekommen und mit Graffitis beschmiert. Vor einem Haus, dessen Fenster im Erdgeschoss mit Brettern vernagelt sind, erklärt die Stadt- und Integrationsforscherin Lena Wiese bei einer Führung die Hintergründe. „Wir stehen hier vor einer sogenannten Problemimmobilie, die vor einer Woche von der Stadt Duisburg geräumt und versiegelt wurde.“ Wiese ist Vorsitzende des Vereins für die solidarische Gesellschaft der Vielen, der zwei Straßen weiter das Zentrum für Kultur betreibt. Die Rolle der Stadt Duisburg als zuständige Kommune sieht Lena Wiese kritisch. Sie zeigt auf die versiegelte Haustür. „Wir sind hinsichtlich dieser Zwangsräumung im Austausch mit verschiedenen Abteilungen der Verwaltung, darunter das kommunale Integrationszentrum, das Schulamt, das Sozialamt, das Jobcenter. Da gibt es große Lücken in der Versorgung.“
Unter den Teilnehmer*innen der Stadtführung ist Ludger Pries. Er ist Leiter des Forschungsprojektes „Migrationsdynamiken zwischen Rumänien/Bulgarien und dem Ruhrgebiet“ der Universität Bochum, dessen Projekt auf der Veranstaltung präsentiert wurde. „Mit dem Projekt konnten wir zeigen, dass nicht alle aus Rumänien und Bulgarien Migrierten hierbleiben wollen. Wir fanden typische Wanderungsverläufe: Einige Migrierende wollen definitiv bleiben, einige wollen unbedingt zurückkehren. Einige pendeln für eine bestimmte Zeit, meist für saisonale Erntearbeit, einige leben transnational als Europäer*innen,“ erklärt er. Neben ihm läuft Christian Schramm, der Projektkoordinator. Er sieht viel Optimierungsbedarf bei den Kommunen: „Migration beeinflusst unser Zusammenleben. Um mit den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen langfristig angemessen umgehen zu können, brauchen wir gut aufgestellte kommunale Services für Migration, Ankommen, Teilhabe und Integration.“
Ein offener Raum für alle
Ein paar Straßen weiter ist die Führung am Zentrum für Kultur angekommen. Die frühere, für das Ruhrgebiet sehr typische Eckkneipe erstrahlt in kräftigem Grün, an den Wänden hängen Fotos und Plakate. Hier treffen sich Kinder und Jugendliche aus dem Viertel, machen ihre Hausaufgaben, spielen miteinander und können sich kreativ ausleben. Ein paar Jungen im Teenageralter bereiten zur Feier des Tages Sandwiches zu, andere laufen mit kleinen Handkameras durch den Raum und filmen alles und jede*n. „Uns geht es darum, mehr als nur Beratung in Problemlagen zu bieten. Die Jugendlichen sollen zu uns kommen, um einfach Freude zu haben“, so Lena Wiese. „Unser Ziel ist nicht die Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft, sondern eine Gesellschaft der Vielen. Wir möchten Raum für verschiedene Lebensrealitäten schaffen.“
Dass diese existieren, ist auch eines der wichtigsten Ergebnisse des Forschungsprojektes. Christian Schramm führt aus: „Die Vielfalt der Migrations- und Teilhabemuster hat uns selbst erstaunt. 38 Prozent der Befragten haben eine einzige Migrationserfahrung, aber etwas mehr als ein Drittel zwei bis drei, ein knappes Drittel zwischen vier und 14 Migrationserfahrungen. Klar, dass die Kommunen hinsichtlich der Bedarfe der Migrierenden stärker differenzieren müssten.“
Endlich dazugehören
Es geht weiter zu einer anderen Stadtführung. Zhivko Slavev kam 2007 als 14-Jähriger mit seinen Eltern und seinem Bruder aus Bulgarien nach Duisburg-Hochfeld. Auch er leitet an diesem Tag eine Gruppe durchs Viertel. „Meine Eltern wollten, dass wir eine gute Bildung bekommen“, erzählt er. Sein Vater arbeitete anfangs als Lagerarbeiter, seine Mutter als Reinigungskraft. Heute fühlt sich Zhivko Slavev zugehörig, doch der Weg dahin war nicht leicht. Oft fühlte er sich ausgegrenzt, verstand die Sprache nicht. Heute arbeitet er für die Duisburger Werkkiste, eine katholische Einrichtung mit Schwerpunkt auf berufsvorbereitender Jugendhilfe. Dort berät er Familien und Jugendliche, die aktuell in der Situation sind, in der er einst war. Er hilft bei Kommunikationsschwierigkeiten mit der Schule oder der Kita, bei Antragstellungen und baut Ängste gegenüber Behörden ab. „Ich kann mich gut in die Menschen hineinversetzen und auf Augenhöhe mit ihnen sprechen.“
Seiner Gruppe hat er während der Führung die Stelle gezeigt, an der er zum ersten Mal Duisburger Boden betrat, und den Parkplatz, auf dem er sich als Jugendlicher täglich mit seinen Freund*innen traf. Zhivko Slavev freut sich über das rege Interesse der Teilnehmenden, die er auch durch die Wanheimer Straße führte: „Wir nehmen mit den bulgarischen und rumänischen Geschäften das Risiko der Selbstständigkeit auf uns, um den Lebensunterhalt für uns und die Familie zu verdienen. Das ist doch eigentlich vorbildlich!“ Über Vorurteile kann er nur den Kopf schütteln. In Slavevs Umfeld haben mittlerweile viele Zugewanderte ihre Bildungsabschlüsse gemacht. „Viele meiner Bekannten haben Abitur und studieren jetzt“, erzählt er stolz.
Zuwanderung aus Südosteuropa – Teilhabe & Zusammenhalt auf kommunaler Ebene ermöglichen
Das Forschungsprojekt der Ruhr-Universität Bochum erfasst die komplexen Wanderungsbewegungen zwischen Bulgarien, Rumänien und sechs ausgewählten Kommunen des Ruhrgebiets. Es nimmt Teilhabeprozesse sowie Mechanismen der Exklusion und Stigmatisierung in den Blick. Untersucht werden auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Teilhabechancen fördern oder beschränken.