Gleichheit vor dem Gesetz – ein leeres Versprechen?

Vor dem Gesetz sind alle gleich – so lautet das Versprechen unseres Rechtsstaats. Doch die Realität sieht anders aus: Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte sowie andere marginalisierte Gruppen haben in Deutschland oft schlechtere Chancen, zu ihrem Recht zu kommen, als weiße deutsche Staatsbürger*innen. Hier setzt das Projekt „Rechtsstaatliche Teilhabe“ an. Sozialunternehmer Quint Haidar Aly will das deutsche Recht zugänglicher machen – durch Beratung, Bildungsarbeit und eine neue juristische Kultur.
Es ist ein stürmischer Maitag im Hamburger Oberhafenquartier. Zum Interview erscheint der hellwache Quint Haidar Aly in einer schwarzen Jacke, auf der das Logo von ACCICE – kurz für „access to justice“ – prangt, eine schwarze Pyramide mit einem Halbkreis. Die Erklärung folgt sogleich: „Unser aktueller Rechtsstaat gleicht einer Pyramide.“ Unten befinde sich die Bevölkerung, ganz oben an der Spitze die Rechtsprechung. Je nachdem, wie weit entfernt ein Mensch von der Spitze sei, müsse er in Deutschland unterschiedlich weite Wege zurücklegen, um zu seinem Recht zu kommen, so Aly. Ziel von ACCICE sei es, das Rechtssystem einem Kreis anzugleichen, sodass der Weg zur Justiz für alle gleich lang sei.
Rechtsstaat bedeutet nicht gleich Rechtswirklichkeit
„Die Meisten stimmen zu, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind – von ganz links bis hin zur liberalkonservativen Bubble. Das Problem ist, dass dieser Anspruch in der Praxis, vor allem bei diskriminierten Menschen, nicht umgesetzt wird“, sagt der Hamburger. Sich für eine gerechtere Welt einzusetzen, versteht sich für ihn von selbst. „Du musst wirklich keinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn haben, um ungerecht zu finden, was sich in unserem Rechtsstaat abspielt. Sobald du einmal erlebt hast, wie weit Anspruch und Wirklichkeit teilweise auseinanderklaffen, lässt dich das nicht mehr los.“

Quint Haidar Aly ist Sozialunternehmer, Forscher und Co-Founder des gemeinnützigen Unternehmens ACCICE. Seit über vier Jahren ist er im Vorstand von Refugee Law Clinics Deutschland, wo er das Projekt zusammenWACHSEN zur Entwicklung einer digitalen Open Source-Plattform für gemeinnützige Rechtsberatung mitinitiiert hat.
Ein Beispiel: In der Theorie sollen bedürftige Menschen Beratungshilfescheine vom Staat erhalten, um eine kostenlose Rechtsberatung durch Anwält*innen in Anspruch nehmen zu können. Doch das Konzept gehe nicht auf, sagt Aly, der Jura studiert hat. Die Vergütung der Beratungshilfe sei so gering und der Antragsprozess so aufwendig, dass Anwält*innen lieber gleich pro bono beraten würden, statt sich auf eine Beratung im Rahmen von Beratungshilfescheinen einzulassen. Von solchen Beispielen gebe es Tausende. „Nur kennt sie kaum jemand, da es in Deutschland keine rechtssoziologische Forschung oder zivilgesellschaftlichen Initiativen gibt, die ebensolche Geschichten systematisch sammeln“, so Aly. Für den Sozialunternehmer ist klar: „Aus meiner Sicht ist die deutsche Rechtswissenschaft spätestens seit den Achtzigern blind für die Rechtswirklichkeit geworden.“
Zu wenig Anwält*innen für Migrationsrecht
Seit einigen Jahren ist Quint Haidar Aly auch im Bundesvorstand der deutschen Refugee Law Clinics aktiv. Über 35 lokale Clinics bieten eine kostenlose juristische Beratung für Geflüchtete und Menschen mit Migrationsbiografie an, vernetzen sie mit Dolmetscher*innen und Anwält*innen und schulen sie für den Umgang mit den deutschen Behörden und der Justiz.
Wenn jährlich mindestens eine Million Menschen nach Deutschland kommen, es jedoch nur knapp 300 im Migrationsrecht ausgebildete Anwält*innen gibt, dann haben wir es mit struktureller Diskriminierung zu tun.
„Wenn jährlich mindestens eine Million Menschen nach Deutschland kommen, es jedoch nur knapp 300 im Migrationsrecht ausgebildete Anwält*innen gibt, dann haben wir es mit struktureller Diskriminierung zu tun“, erklärt Aly. Dabei entfielen fast 60 Prozent der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit auf das Migrationsrecht. „Aber genau das kommt in der Ausbildung von Anwält*innen und Richter*innen so gut wie gar nicht vor“, erklärt er weiter. „Im Migrationsrecht und im Sozialrecht haben wir in Deutschland eine starke Unterversorgung, vor allem in ländlichen Gebieten.“


Wissen, wann die eigenen Rechte verletzt werden
Doch wie kann ein gerechterer Rechtsstaat aussehen? Einer, der allen Menschen auch wirklich offensteht? Um das herauszufinden, hat das Team von ACCICE eine sogenannte „Theory of Change“ (Theorie des Wandels) entwickelt: eine Hypothese darüber, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit rechtsstaatliche Teilhabe für diskriminierte Communitys Realität wird. Acht Schlüsselfaktoren wurden dabei identifiziert, darunter Legal Aid (Versorgung mit Rechtsberatung), Legal Culture (eine lebendige Diskurskultur zu Themen des Rechtsstaats), Legal Profession (eine diversere Jurist*innenschaft) und Know Your Rights (Wissen über die eigenen Rechte). Letzteres ist zentral: Wer seine Rechte nicht kennt, merkt meist gar nicht, wenn sie verletzt werden – und kann sich nicht wehren. „Bei einem gebrochenen Arm ist klar, dass er behandelt werden muss“, erklärt Aly. „Aber wenn ein Grundrecht gebrochen wird, bleibt die Verletzung oft unsichtbar.“
Schon während des Jurastudiums sollten die Lebens- und Rechtsrealitäten von geflüchteten Menschen und marginalisierten Personen deshalb mitgedacht werden, fordert er. Außerdem müsse die juristische Gemeinschaft hinterfragen, wie sie mit Menschen spricht. „Wir wissen aus der empirischen Forschung, dass der Großteil der Bevölkerung die juristische Sprache einfach nicht versteht“, so Aly. „Dabei geht der Rechtsstaat uns alle an. Das Recht ist das zentrale Instrument, um unser demokratisches Zusammenleben zu gestalten.“
Quint Haidar Aly ist auf dem Sprung, auf ihn wartet bereits der nächste Termin: Eine Hamburger Kanzlei hat ihn eingeladen, um über den Wandel in der juristischen Ausbildung zu diskutieren. Der Mann hat keine Zeit zu verlieren. Zu groß sind die Lücken im System, zu fern noch ein Rechtsstaat, der für alle Menschen gleichermaßen funktioniert – und damit eine kreisrunde Angelegenheit geworden ist.
Rechtsstaatliche Teilhabe
„Rechtsstaatliche Teilhabe“ ist ein Projekt, das von der interdisziplinären Initiative ACCICE (access to justice) mit Sitz in Hamburg durchgeführt wird. Ziel ist es, einen gerechten und barrierearmen Zugang zum Recht herzustellen – insbesondere für geflüchtete und strukturell benachteiligte Menschen. Im Zentrum stehen Beratung, Bildungsarbeit und Forschung. ACCICE unterstützt unter anderem den Verein Refugee Law Clinics an Hochschulen, entwickelt innovative Formate zur rechtlichen Aufklärung und verbindet die praktische Rechtsarbeit mit strukturellem Empowerment.