Gleichheit vor dem Gesetz – ein leeres Versprechen?

Gleichheit vor dem Gesetz – ein leeres Versprechen?
Autorin: Lesley Sevriens Fotos: Oliver Hardt 01.07.2025

Vor dem Gesetz sind alle gleich – so lautet das Versprechen unseres Rechts­staats. Doch die Realität sieht anders aus: Menschen mit Migrations- oder Flucht­geschichte sowie andere marginalisierte Gruppen haben in Deutschland oft schlechtere Chancen, zu ihrem Recht zu kommen, als weiße deutsche Staats­bürger*innen. Hier setzt das Projekt „Rechts­staatliche Teilhabe“ an. Sozial­unternehmer Quint Haidar Aly will das deutsche Recht zugänglicher machen – durch Beratung, Bildungs­arbeit und eine neue juristische Kultur.

Es ist ein stürmischer Maitag im Hamburger Ober­hafen­quartier. Zum Interview erscheint der hell­wache Quint Haidar Aly in einer schwarzen Jacke, auf der das Logo von ACCICE – kurz für „access to justice“ – prangt, eine schwarze Pyramide mit einem Halb­kreis. Die Erklärung folgt sogleich: „Unser aktueller Rechts­staat gleicht einer Pyramide.“ Unten befinde sich die Bevölkerung, ganz oben an der Spitze die Recht­sprechung. Je nachdem, wie weit entfernt ein Mensch von der Spitze sei, müsse er in Deutschland unter­schiedlich weite Wege zurück­legen, um zu seinem Recht zu kommen, so Aly. Ziel von ACCICE sei es, das Rechts­system einem Kreis an­zu­gleichen, sodass der Weg zur Justiz für alle gleich lang sei.

Rechtsstaat bedeutet nicht gleich Rechtswirklichkeit

„Die Meisten stimmen zu, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind – von ganz links bis hin zur liberal­konservativen Bubble. Das Problem ist, dass dieser Anspruch in der Praxis, vor allem bei diskriminierten Menschen, nicht umgesetzt wird“, sagt der Hamburger. Sich für eine gerechtere Welt einzusetzen, versteht sich für ihn von selbst. „Du musst wirklich keinen ausgeprägten Gerechtig­keits­sinn haben, um ungerecht zu finden, was sich in unserem Rechts­staat abspielt. Sobald du einmal erlebt hast, wie weit Anspruch und Wirklichkeit teil­weise auseinander­klaffen, lässt dich das nicht mehr los.“

Quint Haidar Aly
© Oliver Hardt

Quint Haidar Aly ist Sozial­unternehmer, Forscher und Co-Founder des gemein­nützigen Unternehmens ACCICE. Seit über vier Jahren ist er im Vorstand von Refugee Law Clinics Deutschland, wo er das Projekt zusammenWACHSEN zur Entwicklung einer digitalen Open Source-Plattform für gemein­nützige Rechts­beratung mit­initiiert hat.

Ein Beispiel: In der Theorie sollen bedürftige Menschen Beratungs­hilfe­scheine vom Staat erhalten, um eine kosten­lose Rechts­beratung durch Anwält*innen in Anspruch nehmen zu können. Doch das Konzept gehe nicht auf, sagt Aly, der Jura studiert hat. Die Vergütung der Beratungs­hilfe sei so gering und der Antrags­prozess so aufwendig, dass Anwält*innen lieber gleich pro bono beraten würden, statt sich auf eine Beratung im Rahmen von Beratungs­hilfe­scheinen ein­zu­lassen. Von solchen Beispielen gebe es Tausende. „Nur kennt sie kaum jemand, da es in Deutschland keine rechts­soziologische Forschung oder zivil­gesellschaftlichen Initiativen gibt, die eben­solche Geschichten systematisch sammeln“, so Aly. Für den Sozial­unternehmer ist klar: „Aus meiner Sicht ist die deutsche Rechts­wissenschaft spätestens seit den Achtzigern blind für die Rechts­wirklichkeit geworden.“

Zu wenig Anwält*innen für Migrations­recht

Seit einigen Jahren ist Quint Haidar Aly auch im Bundes­vorstand der deutschen Refugee Law Clinics aktiv. Über 35 lokale Clinics bieten eine kosten­lose juristische Beratung für Geflüchtete und Menschen mit Migrations­biografie an, vernetzen sie mit Dolmetscher*innen und Anwält*innen und schulen sie für den Umgang mit den deutschen Behörden und der Justiz.

Wenn jährlich mindestens eine Million Menschen nach Deutschland kommen, es jedoch nur knapp 300 im Migrations­recht ausgebildete Anwält*innen gibt, dann haben wir es mit struktureller Diskriminierung zu tun.

Quint Haidar Aly

„Wenn jährlich mindestens eine Million Menschen nach Deutschland kommen, es jedoch nur knapp 300 im Migrations­recht ausgebildete Anwält*innen gibt, dann haben wir es mit struktureller Diskriminierung zu tun“, erklärt Aly. Dabei entfielen fast 60 Prozent der deutschen Verwaltungs­gerichts­barkeit auf das Migrations­recht. „Aber genau das kommt in der Ausbildung von Anwält*innen und Richter*innen so gut wie gar nicht vor“, erklärt er weiter. „Im Migrations­recht und im Sozial­recht haben wir in Deutschland eine starke Unter­versorgung, vor allem in ländlichen Gebieten.“

Was Kunst an den Wänden angeht, ist das Hamburger Büro bereits ausgestattet. © Oliver Hardt
Quint Haidar Aly im Eingangsbereich des ACCICE-Büros. © Oliver Hardt

Wissen, wann die eigenen Rechte verletzt werden

Doch wie kann ein gerechterer Rechts­staat aussehen? Einer, der allen Menschen auch wirklich offensteht? Um das heraus­zu­finden, hat das Team von ACCICE eine sogenannte „Theory of Change“ (Theorie des Wandels) entwickelt: eine Hypothese darüber, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit rechts­staatliche Teilhabe für diskriminierte Communitys Realität wird. Acht Schlüssel­faktoren wurden dabei identifiziert, darunter Legal Aid (Versorgung mit Rechts­beratung), Legal Culture (eine lebendige Diskurs­kultur zu Themen des Rechts­staats), Legal Profession (eine diversere Jurist*innen­schaft) und Know Your Rights (Wissen über die eigenen Rechte). Letzteres ist zentral: Wer seine Rechte nicht kennt, merkt meist gar nicht, wenn sie verletzt werden – und kann sich nicht wehren. „Bei einem gebrochenen Arm ist klar, dass er behandelt werden muss“, erklärt Aly. „Aber wenn ein Grundrecht gebrochen wird, bleibt die Verletzung oft unsichtbar.“

Schon während des Jura­studiums sollten die Lebens- und Rechts­realitäten von geflüchteten Menschen und marginalisierten Personen deshalb mit­gedacht werden, fordert er. Außerdem müsse die juristische Gemeinschaft hinter­fragen, wie sie mit Menschen spricht. „Wir wissen aus der empirischen Forschung, dass der Groß­teil der Bevölkerung die juristische Sprache einfach nicht versteht“, so Aly. „Dabei geht der Rechts­staat uns alle an. Das Recht ist das zentrale Instrument, um unser demokratisches Zusammen­leben zu gestalten.“

Quint Haidar Aly ist auf dem Sprung, auf ihn wartet bereits der nächste Termin: Eine Hamburger Kanzlei hat ihn eingeladen, um über den Wandel in der juristischen Ausbildung zu diskutieren. Der Mann hat keine Zeit zu verlieren. Zu groß sind die Lücken im System, zu fern noch ein Rechts­staat, der für alle Menschen gleichermaßen funktioniert – und damit eine kreisrunde Angelegenheit geworden ist.


Rechtsstaatliche Teilhabe

„Rechtsstaatliche Teilhabe“ ist ein Projekt, das von der inter­disziplinären Initiative ACCICE (access to justice) mit Sitz in Hamburg durchg­eführt wird. Ziel ist es, einen gerechten und barriere­armen Zugang zum Recht her­zu­stellen – insbesondere für geflüchtete und strukturell benachteiligte Menschen. Im Zentrum stehen Beratung, Bildungs­arbeit und Forschung. ACCICE unter­stützt unter anderem den Verein Refugee Law Clinics an Hoch­schulen, entwickelt innovative Formate zur rechtlichen Aufklärung und verbindet die praktische Rechts­arbeit mit strukturellem Empowerment.

accice.now