Wie Grenzen sortieren

Wie Grenzen sortieren
Autor: Matthias Klein 26.08.2021

Die Menschen wurden immer mobiler, aber gleichzeitig entstanden neue Mauern: In Zeiten der Globalisierung haben sich die Grenzen verändert. „Es gibt heute ein globales Regime ungleich verteilter Mobilitätsrechte“, sagt Mercator Senior Fellow Steffen Mau. „Grenzen sind auch Einrichtungen zur Stabilisierung von Ungleichheitsschwellen.“ Sein Buch „Sortiermaschinen“ ist nun in der Edition Mercator erschienen.

Die Globalisierung versprach eine Welt ohne Grenzen. Aber Grenzen sind zuletzt auf dramatische Weise in unser Bewusstsein zurückgekehrt, schreiben Sie. Wie ist es dazu gekommen, Herr Mau?

Steffen Mau: In der Tat ist unsere Vorstellung der Globalisierung auf das Engste mit dem Motiv der Entgrenzung verknüpft. Das heißt der Vorstellung, dass Grenzen durchlässiger werden und es immer leichter wird, sie zu überwinden. Das gilt nicht nur für Waren, Kapital und Informationen, sondern auch für menschliche Mobilität. Menschen sind noch nie so viel gereist, waren global gesehen noch nie so mobil wie heute. Nun wissen wir aber zugleich, dass es einen Kampf um die Offenheit und Geschlossenheit von Grenzen gibt. Staaten versuchen beispielsweise, ihr Territorium gegen unerwünschte Migration zu versiegeln. Das europäische Grenzregime im Mittelmeer und der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal sind beredte Beispiele dafür. Mit Corona verstehen wir plötzlich alle, wie stark die staatlichen Eingriffe in die Mobilität sein können. Die Selbstverständlichkeit des Reisens ist dahin, wir machen Erfahrungen, die sonst anderen vorbehalten sind.

Steffen Mau
© Marten Körner

Steffen Mau

Mercator Senior Fellow Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er beschäftigt sich mit der Digitalisierung und Ungleichheit.

Welche Bedeutung haben Grenzen in Zeiten der Globalisierung?

Mau: Ich bezeichne Grenzen als Sortiermaschinen: Sie scheiden Territorien voneinander, separieren also staatliche Räume, aber sie agieren zugleich als Filter von Mobilität. Früher ging es oft um das Wo der Grenze, heute um das Wie der Grenzkontrolle.

Territoriale Grenzverläufe sind im Vergleich zu früheren Jahrhunderten nunmehr recht stabil, was sich stark wandelt, sind die Selektivität der Grenzen und die eingesetzten Technologien, Instrumente und Infrastrukturen der Grenzkontrolle. Die Grenzkontrolle löst sich dabei von der Grenzlinie, wird digitalisiert, räumlich verlagert, von anderen Akteur*innen durchgeführt. So wandert die europäische Außengrenze dann bis in die Subsahara.

Menschen hatten schon immer unterschiedliche Rechte, sich in der Welt zu bewegen. Die Staatsangehörigkeit spielte eine große Rolle. Was sind die entscheidenden Faktoren für die Verteilung der Rechte heutzutage?

Mau: Es gibt heute ein globales Regime ungleich verteilter Mobilitätsrechte, wobei reiche Demokratien die meisten Privilegien genießen können. Wer den Pass Deutschlands oder Dänemarks besitzt, steht in der globalen Mobilitätshierarchie ganz oben, Menschen aus Pakistan oder Afghanistan ganz unten. Globalisierung bedeutet hier, dass zugleich Teile der Menschheit an Mobilitätsmöglichkeiten gewinnen und andere verlieren. Mobilisierung und Immobiliisierung sind also miteinander verbundene und aufeinander bezogene Prozesse. Zugleich wachsen durch Datenbanken, biometrische Erfassungssysteme und Informationsaustauch die Möglichkeiten, jeden Reisenden und jede Reisende individuell zu klassifizieren. Über solche Systeme entsteht dann eine individualisierte Grenze. Wer hier positiv bewertet wird, für den werden sich Grenzen wie gläserne Kaufhaustüren öffnen und kaum noch zu spüren sein.

© Getty Images

Grenzen sind zu machtvollen Sortiermaschinen geworden, schreiben Sie. Wie funktionieren diese, wie werden Grenzen zu „Ungleichheitsgeneratoren“?

Mau: Grenzen treffen immer Unterscheidungen über Zutrittsberechtigungen, Zugehörigkeit, Risikoklassifikation, Erwünschtheit oder nicht. Solche Aspekte können sehr unterschiedlich ausgestaltet werden. Wir können aber empirisch zeigen, dass zwar Sicherheitsfragen und Geopolitik eine Rolle für die Selektivität von Grenzen spielen, aber die ökonomische Potenz ein überragender Faktor ist. Ob Grenzen fortifiziert sind oder nicht oder ob es visumfreies Reisen gibt oder nicht, hängt eng mit dem globalen Wohlstandsgefälle zusammen. Grenzen sind daher auch Einrichtungen zur Stabilisierung von Ungleichheitsschwellen. Individuell findet man ähnliche Zusammenhänge: Das einfache Überschreiten von Grenzen gelingt jenen, die zu den Wohlhabenden der Welt gehören.

Stichwort Smart Borders: Welche Rolle spielt die Digitalisierung in diesem Zusammenhang?

Mau: Die Digitalisierung wird die Grenzgestaltung und Grenzkontrolle fundamental verändern. Einerseits lässt sich die Grenzraumüberwachung anders gestalten. Zwar werden immer mehr Mauern als physische Barrieren gebaut, zugleich rüstet man diese technologisch auf. Man kann aber auch bislang wenig gesicherte Grenzen durch Sensoren, Wärmemessungen und Kameras besser überwachen. Andererseits erweitern biometrische Identifikation und algorithmische Klassifikation die Möglichkeiten der Kontrolle. Es gibt jetzt die ersten vollautomatischen Smart Borders, die keine manuelle Grenzkontrolle mehr brauchen, durch die man einfach hindurchläuft. Per Irisscan und Gesichtsvermessung lassen sich die wesentlichen Informationen abgreifen. Das könnte bedeuten, dass der Pass als papiernes Dokument bald wegfällt, weil die biometrischen Daten einfach mit Datenbanken verbunden werden, und Algorithmen entscheiden, ob jemand Zutritt haben soll. Unser Gesicht wäre der Pass, man spricht schon heute vom face passport.

Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert

Der kosmopolitische Traum von einer grenzenlosen Welt hat in den letzten Jahren tiefe Risse bekommen. Aber war er überhaupt jemals realistisch? Steffen Mau zeigt, dass Grenzen im Zeitalter der Globalisierung von Anbeginn nicht offener gestaltet, sondern zu machtvollen Sortiermaschinen umgebaut wurden. Während ein kleiner Kreis Privilegierter heute nahezu überallhin reisen darf, bleibt die große Mehrheit der Weltbevölkerung weiterhin systematisch außen vor.
Das Buch ist in der Edition Mercator im C.H. Beck Verlag erschienen.

Neuartig ist die räumliche und soziale Eingriffstiefe, die mit den neuen Grenzregimen erzielt werden kann, schreiben Sie. Welche Gefahren entstehen dadurch?

Mau: Jede Grenze ist ein Ort der Überwachung und Kontrolle. Wenn biometrische Daten an Grenzen erfasst werden, dann lässt sich nicht verhindern, dass diese auch weiterverwendet werden können. Mit solchen Daten wird China vermutlich anders umgehen als Schweden. Wir sehen aber auch, dass Grenzkontrolltechnologien für allgemeine Überwachung eingesetzt werden, also jenseits der Grenze im öffentlichen Raum. Auch die Covid19-Pandemie ist ja ein Katalysator dieser Entwicklung, indem nun Gesundheitsinformationen verfügbar gemacht werden, die zuvor rein privater Natur waren. Zuweilen ist der Unterschied zwischen der Kontrolle an der Staatsgrenze und der Einlasskontrolle für öffentliche Räume gering. Es sind ja auch große Technologiefirmen unterwegs, die ihre Grenzkontrolltechnologie nunmehr in andere Bereiche bringen. Es kommt immer darauf an, was mit diesen Daten gemacht wird und wie die demokratische Gesellschaft ihre Gestaltungsmöglichkeiten erhält. Wenn man sich aber global umschaut, ist die Datenfrage bei der Grenzkontrolle überwiegend eine Black Box.

Die Stiftung Mercator gibt gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck die Buchreihe „Edition Mercator“ heraus. Renommierte Autorinnen und Autoren greifen darin aktuelle wissenschaftliche Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz auf und denken diese weiter. Die Bücher sollen dazu einladen, einen Zugang zu der öffentlichen Diskussion zu finden.