Wenn Künstliche Intelligenz politisch wird
Alex C. Engler will Daten und Algorithmen für das Gute nutzen. AufRuhr trifft auf einen Datenwissenschaftler und Experten für Künstliche Intelligenz im Politikbetrieb, der sich gegen das große Geld und für den Einsatz für die Gesellschaft entschieden hat. Warum?
Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) sind zu prominenten Schlagworten in einer digitalisierten Welt geworden. Mit ihnen wittern Unternehmen und Investor*innen ein Riesengeschäft, während Staaten neue algorithmische Überwachungsmöglichkeiten von Bürger*innen ausloten. Dabei sei der gewaltige Einfluss von KI auf unsere Gesellschaften den meisten Menschen nicht bewusst, sagt Alex C. Engler, Datenwissenschaftler und Experte für KI im Politikbetrieb. Der Lebenslauf des US-Amerikaners ist beeindruckend: Stationen bei der gemeinnützigen Forschungsorganisation MDRC, dem Urban Institute, dem Congressional Research Service oder der McCourt School of Public Policy der Georgetown University. Dort studierte er nicht nur, er lehrte auch den Master of Science in Data Science for Public Policy und einen ähnlichen Studiengang in Chicago. Dazwischen Preise, Auszeichnungen, Fachaufsätze und Meinungsstücke in Fachzeitschriften. Und das alles mit 34 Jahren.
Seine Liebe zur Wahrheit hinter den Zahlen sei ihm nicht in die Wiege gelegt worden, betont er. „Hätte mich mit 20 jemand gefragt, ob ich Coden lernen will, hätte ich Nein gesagt“, sagt Engler im Zoom-Interview mit AufRuhr. Der Vollbart kann das herzliche Lächeln nicht verstecken. Doch das sei kein Nachteil, findet er: „Jeder kann Datenwissenschaft lernen, dafür muss man kein Genie sein!“
Alex C. Engler arbeitete von Oktober 2021 bis März 2022 als Senior Fellow der Stiftung Mercator zur Rolle Europas und Deutschlands bei der Entwicklung einer KI-Governance. Engler ist zudem außerordentlicher Professor und assoziierter Wissenschaftler an der McCourt School of Public Policy der Georgetown University in Washington, D. C.
Jeder kann Datenwissenschaft lernen.
Vor rund zehn Jahren begann Englers Forscherkarriere mit einem Praktikum bei der „Sunlight Foundation“. Die Nichtregierungsorganisation setzt sich für Transparenz in der US-Regierung ein, mit besonderem Fokus auf deren Umgang mit Daten, dem Internet und Websites. Zu diesem Zeitpunkt studierte er Politikwissenschaft an der Georgetown University in Washington. „Ich wusste schon immer, dass ich in die Politikwissenschaft will“, blickt er auf sein Studium zurück. „Doch wie, war mir unklar.“ Sein Interesse galt damals der Transparenz bei der Finanzierung von politischen Kampagnen – inmitten von Tech-Freaks fühlte er sich dabei „hochgradig unterqualifiziert“. „Dieses Praktikum hat meine Laufbahn beeinflusst“, sagt er heute. „Ich habe gesehen, wie Regierungen Websites bauen und welche öffentlichen Dienstleistungen sie mit ihnen verfügbar machen.“
Von Daten getrieben
Danach folgten Stationen bei regionalen Behörden und Thinktanks. Engler lehrt im Graduiertenprogramm „Data Science for Public Policy“ an der Georgetown University und in einem vergleichbaren Programm an der Universität in Chicago. „Das hat etliche Datenwissenschaftler für den Politikbetrieb hervorgebracht“, sagt er. Die vergangenen Monate hat Engler als Senior Fellow der Stiftung Mercator in Europa verbracht, den Master in „Data Science for Public Policy“ (M. S.) an der bekannten Berliner Hertie School entworfen und die Institutionalisierung der Datenwissenschaft in der deutschen Verwaltung untersucht. Denn die Bundesregierung habe die Bedeutung von Daten erkannt, meint Engler. Im Januar 2021 veröffentlichte sie ihre Datenstrategie mit rund 240 Maßnahmen. So sollen unter anderem alle 14 Bundesministerien und das Bundeskanzleramt Datenlabore bekommen.
Datensätze für das Gute
In Brüssel forschte der Wissenschaftler zu den Unterschieden zwischen US- und EU-Regulierungen im Bereich der KI. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem Brüssel-Effekt: „Wenn Unternehmen einer bestimmten EU-Regulierung folgen, werden sie viel dafür tun, dass Regulierungen in anderen Ländern, also auch in den USA, ähnlich sind, um die gleichen Produkte auf unterschiedlichen Märkten verkaufen zu können.“ Aus US-Sicht sei es bemerkenswert, dass die EU sich traue, Technologien wie das „Affective Computing“ zu verbieten. Bei dieser Pseudowissenschaft versucht eine angebliche KI, aus Gesichtern, Stimmen und Körpersprache menschliche Emotionen zu messen und Schlüsse daraus abzuleiten. „Das funktioniert einfach nicht.“ Weiterhin müssten in der EU KI-Unternehmen beweisen können, dass ihre Systeme akkurat seien, „dass die Künstliche Intelligenz also das tut, was sie vorgibt, zu tun“. Das schaffe in so manch einem Unternehmen erst das Bewusstsein für das Risiko von Algorithmen.
Diese Prozesse gibt es in den USA nicht. Dort sieht man – und darüber hat Engler ausgiebig geforscht –, wie sich eine fehlende Regulierung auswirkt: Es gibt eine große Ungleichheit beim Recruiting, beim Zugang zu Bildungsangeboten oder bei der Fahrtenvermittlung und Essensauslieferung. „Ich könnte ewig darüber weiterreden. Es sind viele Beispiele, bei denen eine US-Regulierung im KI-Bereich fehlt und bei der die EU eine Vorreiterrolle einnimmt. Darüber hinaus schafft der AI Act der EU Regulierungen für Regierungen: Immer wenn diese bei Strafverfolgung, Grenzkontrolle und Asyl KI einsetzen, müssen sie das dokumentieren und transparent machen. Das ist eine gute Sache und wird wohl ein weltweiter Standard werden, wenn es um den Umgang mit sensiblen Daten durch KI geht.“
Warum aber arbeitet Engler in der Wissenschaft und nicht bei einem privaten Unternehmen, wo er bedeutend mehr Geld verdienen könnte? Er überlegt kurz, grinst und sagt: „In der freien Wirtschaft geht es bei Künstlicher Intelligenz im Tagesgeschäft dann doch bei Projekten oft darum, dass ein Roboter eine Box von A nach B fährt.“ Seine Arbeit seien die ganz großen gesellschaftlichen Linien: Er wolle wissen und zeigen, „wie wir Datensätze für das Gute einsetzen“, das betont er während des Interviews mehrmals. „Mich begeistern die großen politischen Fragen und welchen Einfluss Künstliche Intelligenz auf sie hat“, sagt er. Engler spricht ein schnelles Englisch, verschluckt Wortendungen, weil der nächste Satz, das nächste Argument, das nächste Beispiel schneller kommen, als die Lippen folgen können. „Die Wahrheit ist doch: Seit fast 20 Jahren erleben wir weltweit einen Rückzug der Demokratie“, holt der Wissenschaftler aus. Das zeigten auch die jährlichen Studien von NGOs wie „Freedom House“. „Zeitlich geht das einher mit der fortschreitenden Digitalisierung und der Allgegenwärtigkeit des Internets.“
Algorithmen bündeln Macht
Kränkeln Demokratien wegen des technologischen Fortschrittes – oder nur parallel zu diesem? Das untersucht der Forscher. „Es gab ja die Hoffnung, das Internet könne Demokratisierungstendenzen verstärken, Menschen mit unterschiedlichen Positionen und Meinungen konfrontieren und letztlich eine friedlichere internationale Weltordnung ermöglichen. Das hat sich nicht bewahrheitet.“ Und gibt zu bedenken: „Ein recht allgemeines Merkmal von Algorithmen ist, dass sie Macht konzentrieren und nicht dezentralisieren. Denn Algorithmen machen Daten wertvoller.“
Ein Beispiel ist die Überwachungstechnik: Je besser die Algorithmen, desto besser die Daten, die sie hervorbringen – und desto enger wiederum die mögliche zentralisierte Überwachung durch den Staat. „Aber auch bei Nachrichten und sozialen Netzwerken sehen wir, dass technischer Fortschritt – also bessere Algorithmen und klügere Künstliche Intelligenz – nicht zu mehr Informationsfreiheit, sondern im Gegenteil zu Informationsblasen geführt hat.“ Aktuell sieht er Risiken vor allem im Privatsektor, wenn etwa Künstliche Intelligenz vermeintlich private Datensätze wie Yelp-Rezensionen oder Airbnb-Diskussionen benutze und daraus Kundenprofile erstelle. „Die Besten meiner Generation arbeiten daran, dass Menschen Sachen kaufen“, stellt er fest. Engler geht diesen Weg nicht.
Prodemokratischer technologischer Ansatz
Er möchte zurück an die Brookings Institution und sich dort der Frage widmen, was ein explizit prodemokratischer technologischer Ansatz ist. Wie kann der Rückzug der Demokratie zumindest im Bereich der Digitalisierung verhindert werden? „Künstliche Intelligenz ist kein Politikfeld, das wieder verschwindet. Es wird bleiben wie Bildung und Strafrecht. Ich kann wohl mein restliches Leben dazu forschen.“
Mercator Fellowship-Programm
Das Mercator Fellowship-Programm bietet seinen Stipendiat*innen den Freiraum, sich explorativ und ideenreich einem Forschungs- oder Praxisvorhaben zu widmen.