Wer ist das Ich im Internet?
Durch Corona sind virtuelle Meetings für den Job und Videoanrufe bei der Familie normal geworden. Doch was macht das digitale Zeitalter mit unserer Identität? Damit hat sich die Wissenschaftlerin Abigail Nieves Delgado befasst.
Die erste Fremddefinition ihrer selbst erfuhr Abigail Nieves Delgado, als sie Mexiko-Stadt verließ, um in Kanada zu studieren. Zu den Inuit, dachten viele dort, gehöre sie vielleicht. In Amsterdam nahmen die Menschen an, sie komme aus Marokko. Im Deutschkurs im Ruhrgebiet einige Jahre später sprachen Mitstudent*innen sie auf Arabisch an. „Und in den USA bin ich natürlich immer nur so eine Mexikanerin …“ Identität, sagt die Forscherin an der Ruhr-Universität, habe sie dermaßen fasziniert, dass sie sich damit seit nunmehr zehn Jahren philosophisch und historisch auseinandersetze.
Das digitale Ich
So befasst sich die promovierte Philosophin auch heute noch mit dem Ich – jedoch nicht mehr rein geografisch, sondern im Kontext unseres vernetzten, digitalen Zeitalters. Dazu passt, sich selbst zu vernetzen und zusammen mit anderen ein kooperatives Wissenschaftsprojekt zu bearbeiten. Das Mercator Research Center Ruhr, das das gemeinsame akademische Vorhaben der Ruhr-Universität Bochum, der Technischen Universität Dortmund und der Universität Duisburg-Essen fördert, bot ihr hierfür eine Chance: Im Rahmen der Global Young Faculty (GYF) widmet sich Nieves Delgado zusammen mit einem insgesamt 15-köpfigen interdisziplinären Team aus Wissenschaft und Wirtschaft der Frage: Was ist das Ich im Netz? Herausgekommen ist der Podcast „Identität im digitalen Wandel“ mit zehn Episoden. Darin besprechen die Forscher*innen mit Expert*innen Themen wie „Liebe im digitalen Wandel“, „Digitale Wissenskonstruktion“ oder „Queere Identitäten und digitale Räume“. Die jungen Wissenschaftstalente führen bei Themen von Blockchain bis persönliche digitale Zwillinge selbst manch einen Digital Native ins technisch-philosophische Neuland.
Das Thema „Identität im digitalen Wandel“ ist heute durch Corona mit seinen Zoom-Meetings und Clubhouse-Treffen von offensichtlicher Wichtigkeit. Und doch war das Timing reiner Zufall. „Das erste Treffen mit dem Team der Global Young Faculty fand im September 2019 statt“, erzählt die 41-Jährige, „also noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie.“
Mit dem Ich-Bild kennt sich Nieves Delgado aus: Ihre Doktorarbeit widmete sie dem menschlichen Gesicht und dessen Vermessung, von der klassischen Anthropometrie bis zur heutigen Forensik. Ihr Fazit: „Noch heute prägen tradierte Kategorien von Rasse wissenschaftliche Vermessungsverfahren.“ Die Forscherin bewegte sich bislang in einem in erster Linie universitären Kosmos: Papers über koloniale Einflüsse auf das Forschungsfeld der Epigenetik, Abhandlungen über den Begriff des Holobionten, nach welchem Leben als symbiotisches Kollektiv zu verstehen ist, oder auch Studien über Gesichtserkennungstechnologien.
Technische Entwicklungen: Chance, aber auch Gefahr
Ein kleiner Kulturschock überkam sie beim Treffen mit der Arbeitsgruppe: „Es waren zum ersten Mal auch Teilnehmer*innen aus der Wirtschaft dabei, ein Banker, eine Medizinerin, eine Statistikerin … Sie sahen – verständlicherweise – technische Entwicklung in erster Linie als Chance“, erinnert sich die Wissenschaftlerin. Sie selbst habe qua ihrer Forschung aber auch ein Auge für die Herausforderungen und Gefahren. „Digitale Gesichtserkennung und Algorithmen wirken vielleicht objektiv – doch sind sie es? Anzunehmen, dass Technologie neutral sein kann, gibt der Technologie auch mehr Macht. Doch kann sie das wirklich sein? Philosophisch betrachtet ist Objektivität schwierig. Wir versuchen sie zu erreichen, doch wir betrachten die Dinge ja auch immer von einem, unserem, Standpunkt aus.“ Jede Technik wurde von einem Menschen erfunden oder programmiert – und wie sie funktioniert und angelegt ist, wirkt sich wiederum auf uns aus. „Wie objektiv sind Gesichtserkennungssoftwares, wenn sie einige Hauttöne besser als andere erkennen?“, fragt sie.
Was jede*r nutzt, setzt sich durch
Nieves Delgado stellt diese Frage am Handy. Es ist ein alter Nokia-Knochen, wie sie sagt, das Ur-Handy, nahezu unkaputtbar. Doch wichtiger ist ihr: Es hat kein Internet. „Ich besitze zwar ein Smartphone, doch das nehme ich nicht mit“, sagt die Forscherin. Sie sieht es kritisch, dass so wenige Konzerne so viele Daten über sie – und alle – quasi unkontrolliert sammeln. „Wir haben ein Recht auf Privatheit“, sagt sie, „ein Recht darauf, dass kein Unternehmen an uns Geld verdient.“ Gleichzeitig komme sie momentan nicht umhin, den Messengerdienst WhatsApp zu nutzen: Ihre Familie lebt in Mexiko, sie in Dortmund, es ist Corona. „Daran sieht man auch die Macht dieser Konzerne: Wenn ich mit meiner doch recht großen Verwandtschaft in Kontakt bleiben will, muss ich WhatsApp nutzen – allein schon, weil es so verbreitet ist …“
Podcasts als demokratisches Medium
Neu war für die interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Global Young Faculty auch das Format des Podcasts. „Wir Wissenschaftler*innen sind es gewohnt, Artikel für Fachzeitschriften zu verfassen. Die aber werden nur selten einem weiten, nicht-akademischen Publikum bekannt“, fasst Abigail Nieves Delgado zusammen. „Deshalb wollten wir einen Podcast produzieren.“
Das Medium an sich berge ja auch einen Demokratisierungsmoment, sagt sie, und man merkt, dass Nieves Delgado oft das Große im Kleinen denkt. Früher war es Produzent*innen von großen Radio- oder Fernsehstationen nicht gestattet, ein Programm zu entwerfen, so die Wissenschaftlerin. „Heute kann das so gesehen jede*r, der oder die ein Mikrofon hat. Dachte ich damals.“ Und sie ergänzt lachend: „Wir alle haben mit der Zeit erst realisiert, wie schwer es ist, einen qualitativ hochwertigen Inhalt zu schaffen, der dann immer noch für ein breites Publikum verständlich ist.“
Sie selbst hat an drei Folgen mitgearbeitet. In einer Doppelfolge über Blockchain-ID geht es um die Einsatzmöglichkeiten dieser dezentralen, verteilten Datenbank etwa bei der Flüchtlingshilfe. „Aber es wird auch um die Probleme und Herausforderungen dieser Technologie gehen“, sagt sie. Zudem hat Nieves Delgado an einer Folge über „personal digital twins“ mitgewirkt. Diese digitalen Zwillinge sind ein Abbild aller Informationen einer Person und bieten zum Beispiel im medizinischen Bereich interessante Chancen. „Das ist ganz neu und bringt spannende Fragen mit sich“, so die Forscherin. „Was passiert mit der digitalen Identität nach dem analogen Tod? Was ist ewiges, wenn digitales Leben?“ Klare Antworten gibt es noch nicht – aber noch viel zu erforschen für Abigail Nieves Delgado.
Mercator Research Center Ruhr (MERCUR)
Die Global Young Faculty ist ein Projekt des Mercator Research Center Ruhr, einer Einrichtung der Stiftung Mercator, mit der Universitätsallianz Ruhr, zu der sich die Ruhr-Universität Bochum, die Technische Universität Dortmund und die Universität Duisburg-Essen zusammengeschlossen haben. Mit verschiedenen Förderprogrammen unterstützt MERCUR die strategische Zusammenarbeit der Universitätsallianz.
www.mercur-research.de