OneThuThree über Demokratie

Ob Impfungen oder Brexit: Die Juristin Thu Nguyen macht sich viele Gedanken darüber, wie man die freie Willensbildung im digitalen Zeitalter schützen kann. Derzeit regeln die europäischen Länder das sehr unterschiedlich – und „gefärbte“ Meinungen sind allgegenwärtig. Sogar bei Nguyen selbst, wie sie sagt.
Mit konzentrierter Miene schaut Thu Nguyen auf ihr Smartphone, vor ihr auf dem Tisch steht ihr Lieblingskaffee, ein Cappuccino. Ohne Zucker. Die 29-Jährige könnte glatt als Touristin in diesem kleinen Café hinter dem Kottbusser Tor im Berliner Stadtteil Kreuzberg durchgehen. Tatsächlich arbeitet sie jedoch mobil an ihrem neuen Projekt „Our Mind, Our Business? – Protecting Democratic Will-Formation in the EU in the Digital Age“.
Seit Anfang Februar lebt Wahl-Brüsselerin und re:constitution Fellow Thu Nguyen in Berlin. Das Netzwerk re:constitution fördert den Austausch über das Verfassungsrecht und seine Werte und den Dialog über die verschiedenen Auslegungen und Entwicklungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie innerhalb der EU. Das Smartphone nutzt Nguyen für ihre Forschung. „Ich verbringe jeden Tag zwischen drei und vier Stunden mit meinem Handy“, erzählt die Juristin. Den Rest der Zeit sitzt sie am Schreibtisch vor dem Laptop.


Jedes noch so unpolitische Thema kann politisch werden
Nguyen will wissen, welche Rolle Medien in einer Demokratie spielen und wie sich die Debatte mit dem Aufkommen eines jeweils neuen Mediums in der Vergangenheit geändert hat. Außerdem untersucht sie, wie sich neue Technologien und soziale Medien auf die demokratische Willensbildung auswirken – und wie gleichzeitig der freie Wille geschützt werden kann. „Wir müssen Regeln nicht nur dem digitalen Zeitalter anpassen, sondern auch länderübergreifend denken“, erklärt Nguyen. Dafür liest sie aktuell das Buch „Lawless – The Secret Rules That Govern Our Digital Lives“ von Nicolas Suzor. Darin geht es um die Vision eines Internets, das unsere Grundrechte schützt – freie Meinungsbildung inklusive.

Das Thema hat es in sich, denn es betrifft jeden, der soziale Medien nutzt und in einer Demokratie lebt. Es liegt Nguyen schon sehr lange am Herzen: Bereits während ihres Studiums hat sie sich zunehmend darauf spezialisiert. „Je mehr ich mich eingearbeitet habe, desto spannender wurde es.“ Immer wenn ihr etwas wichtig ist, merkt man es daran, dass sie schneller spricht. „Meine Dissertation drehte sich um die Asymmetrie zwischen nationalen Parlamenten in der EU. Aber die Frage nach Mitwirkungsrechten von Parlamenten in EU-Angelegenheiten ist natürlich nur relevant, wenn wir sicher sein können, dass die Abgeordneten nicht durch illegitime Beeinflussung gewählt wurden“, erklärt sie in rasendem Tempo. Insbesondere beim Thema Wahlen sei es also zentral, Bürger*innen Zugang zu allen Informationen statt nur zu durch Filter vorsortierten zu geben.
Nguyen hat viel dazu zu sagen. Sie könnte aus dem Stand heraus einen Vortrag halten. „Ohne Notizzettel, ich spreche immer frei“, erzählt sie. Ob Fake News, Cambridge Analytica, Russlands Einfluss auf die US-Präsidentenwahl oder der Brexit: Selbst innerhalb von Europa wird das Thema Regulierung nicht einheitlich gehandhabt.
„Was ist, wenn die konsumierte Information manipuliert und unreguliert ist?“
So relevant das Thema für die Gesellschaft auch ist, so sehr steht diese Anpassung noch am Anfang. Oft genug ist noch nicht einmal definiert, ob soziale Online-Medien wie traditionelle Offline-Medien behandelt werden sollen oder nicht. „Was ist, wenn die konsumierte Information manipuliert und unreguliert ist?“, fragt Nguyen und kommt wieder in Fahrt. In dieser Sache gibt es keinen Graubereich. „Der Schutz demokratischer Prozesse ist eine staatliche Aufgabe, die wir nicht privaten Konzernen überlassen sollten und können“, sagt Nguyen mit Nachdruck. Dafür müssen Regierungen von zwei Seiten anpacken: Auf der einen Seite muss das jeweilige existierende Wahlrecht an das digitale Zeitalter angepasst werden. Ein Beispiel ist die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen vor Wahlen, die in manchen EU-Ländern verboten ist, um die Meinungen von Wähler*innen nicht zu beeinflussen. „Ein Verbot von Umfragen über Zeitungen und das Fernsehen in einem EU-Land ist natürlich wirkungslos, wenn die gleiche Umfrage in einem anderen EU-Land über soziale Medien verbreitet wird“, erklärt Nguyen.
Der Schutz demokratischer Prozesse ist eine staatliche Aufgabe, die wir nicht privaten Konzernen überlassen sollten und können.
Das zweite große Feld ist das Medienrecht. „Wie kann Fehlinformationen sowie Filterblasen vorgebeugt werden?“, fragt Nguyen und beantwortet es im gleichen Atemzug. „Indem wir Regulierungen von traditionellen Medien – TV, Radio, Print – an soziale Medien anpassen und dort auch anwenden.“
Geteilte Meinung, gefärbte Meinung
Nguyen nennt als Beispiel Impfungen für Kinder: „Die geteilte Botschaft könnte hier sein, dass Impfungen schädlich sind.“ Wird diese Nachricht dann wiederum durch Algorithmen in die Newsfeeds der Nutzer*innen gepusht, könnte jemand, der immer wieder die gleiche Botschaft liest, zu der Überzeugung kommen, dass nicht nur die eigenen Freunde, sondern ein Großteil der Gesellschaft dieser Meinung ist. „Dies kann im Extremfall Einfluss auf die politische Debatte haben und letztendlich auch darauf, wie sich Wählerinnen und Wähler bei der Stimmabgabe entscheiden – je nach Positionierung beziehungsweise Nichtpositionierung der Parteien zu dem Thema“, erklärt Nguyen.

Sie selber nimmt sich davon gar nicht aus: „Ich bin in einer sehr akademischen, eher linksgerichteten, pro-europäischen Blase unterwegs. Ich denke, dass auch meine Meinung gefärbt wird, vor allem in Form von Bestätigungen meiner eigenen Ansichten, nach dem Motto: ‚Ja, das ergibt Sinn, und wenn diejenige das auch denkt, bin ich ja nicht die Einzige.‘“
Die Online-Regulierung wird keine leichte Aufgabe für die Länder. „Dafür muss man die Technologie und die Algorithmen hinter den Newsfeeds verstehen“, erklärt Nguyen. Das Thema ist inzwischen auch in Brüssel angekommen. Die neue EU-Kommission hat es als Priorität auf ihrer Agenda – in Form des Digital Services Act und des European Democracy Action Plan.
„Ich lese alles online“
Nguyens Tage beginnen um acht Uhr. Auf ihrem Handy checkt sie zuerst WhatsApp-Nachrichten, dann ihre E-Mails. „Während ich mich schminke, sehe ich mir die ‚Tagesschau‘ oder die ‚Tagesthemen‘ vom Vorabend an“, erzählt sie. Ein Blick auf „Zeit Online“ und „Politico Brussels Playbook“ für die aktuelle Nachrichtenlage, ab 9.30 Uhr sitzt sie am Schreibtisch bei der NGO Democracy Reporting International, die mit re:constitution zusammenarbeitet. Außer einem Duplo-Stein mit dem Schriftzug „Thu“ liegt nichts Persönliches auf dem Tisch. Privat wie beruflich ist sie mit leichtem Gepäck unterwegs. „Ich lese alles online“, erzählt sie, „und kopiere mir die Passagen, die ich später brauche, in ein Word-Dokument.“ Dafür braucht sie nur ihren Laptop oder ihr Handy, die beide in hellrosa Schutzhüllen stecken. Lieblingsfarbe? „Zufall!“


Die gebürtige Aachenerin mit vietnamesischen Eltern reagiert entspannt auf alle Varianten, die ihr bei der Aussprache ihres Namens begegnen: „Tu“ (so ist es korrekt), „Tü“ (französisch) oder „Thu“ (mit englischem „th“). Ihr voller Vorname Hoai-Thu bedeutet übersetzt „nostalgischer Herbst“. Auch ihr Nachname fordert manche Europäer*innen, dabei ist Nguyen in Vietnam noch weiter verbreitet als Müller oder Meier in Deutschland. Die richtige Aussprache ist „n-wen“. Im Netz heißt sie etwas anders: „Ich höre immer wieder, dass ich meinen Social-Media-Namen ändern muss – er sei zu wenig professionell“, sagt sie, lacht auf und zeigt ihr Instagram-Profil. Zu sehen sind Bilder von „OneThuThree“.
Immer wieder Aachen
Das erste Mal war Nguyen mit sechs Jahren in Saigon. „Ich erinnere mich noch gut, als mein Vater und mein Onkel am ersten Morgen mit mir in ein Café gegangen sind und ich Milch trinken wollte. Ich bekam ein volles Glas mit dieser verdickten süßen Kondensmilch serviert“, erinnert sie sich lachend. So lecker die dicke Kondensmilch auch schmeckte, ihr Zuhause war eindeutig Aachen. Und obwohl Nguyen vor ihrer aktuellen Station in Missouri, Rennes, Maastricht, Brügge und Brüssel gelebt hat – und neben Deutsch, Englisch, Vietnamesisch und Französisch auch Niederländisch spricht –, ist Aachen auch heute noch ihr Teil-Zuhause. Wenn sie nach einem langen Tag in ihrem grundsätzlichen Beruf als Jura-Assistenzprofessorin an der Uni Maastricht nicht zurück nach Brüssel fahren möchte, übernachtet sie bei ihren Eltern.

Aachen liegt direkt an der niederländischen und belgischen Grenze, daher war die Entscheidung, Jura im 30 Kilometer entfernten Maastricht zu studieren, kein wirklicher Ausbruch. „Im ersten Semester bin ich gependelt, danach habe ich in einem Studentenhaus gewohnt“, sagt sie.
Die nächste Station nach Berlin ist Zürich, wo sie weiterforschen wird. Natürlich zu ihrem Thema: Demokratie, im Kleinen und im Großen. Online und offline. In einzelnen Ländern und auf EU-Ebene. „Letzten Endes geht es immer wieder darum, wer darf was und wer kann was“, sagt sie und ergänzt: „Diese Frage ist einfach die spannendste und aktuellste Frage unserer Zeit.“
re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe
re:constitution ist ein Programm des Forums Transregionale Studien und der NGO Democracy Reporting International, gefördert von der Stiftung Mercator. Es trägt dazu bei, ein Netzwerk aufzubauen, das sich mit europäischen Verfassungsfragen, dem Spannungsfeld zwischen pluralistischen Auslegungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Zusammenarbeit innerhalb der EU befasst.