OneThuThree über Demokratie

Juristin und re:constitution-Fellow Thu Nguyen in einem Café in Berlin
OneThuThree über Demokratie
Autorin: Jennifer Holleis Fotos: Stefanie Loos 21.04.2020

Ob Impfungen oder Brexit: Die Juristin Thu Nguyen macht sich viele Gedanken darüber, wie man die freie Willens­bildung im digitalen Zeit­alter schützen kann. Derzeit regeln die europäischen Länder das sehr unter­schiedlich – und „gefärbte“ Meinungen sind all­gegen­wärtig. Sogar bei Nguyen selbst, wie sie sagt.

Mit konzentrierter Miene schaut Thu Nguyen auf ihr Smartphone, vor ihr auf dem Tisch steht ihr Lieblings­kaffee, ein Cappuccino. Ohne Zucker. Die 29-Jährige könnte glatt als Touristin in diesem kleinen Café hinter dem Kottbusser Tor im Berliner Stadt­teil Kreuzberg durch­gehen. Tatsächlich arbeitet sie jedoch mobil an ihrem neuen Projekt „Our Mind, Our Business? – Protecting Democratic Will-Formation in the EU in the Digital Age“.

Seit Anfang Februar lebt Wahl-Brüsselerin und re:constitution Fellow Thu Nguyen in Berlin. Das Netzwerk re:constitution fördert den Austausch über das Verfassungs­recht und seine Werte und den Dialog über die verschiedenen Auslegungen und Entwicklungen von Rechts­staatlichkeit und Demokratie inner­halb der EU. Das Smart­phone nutzt Nguyen für ihre Forschung. „Ich verbringe jeden Tag zwischen drei und vier Stunden mit meinem Handy“, erzählt die Juristin. Den Rest der Zeit sitzt sie am Schreib­tisch vor dem Laptop.

re:constitution Fellow Hoai-Thu Nguyen einem Cafe in Berlin Kreuzberg.
Thu Nguyen im Café in Kreuzberg. © Stefanie Loos
re:constitution Fellow Hoai-Thu Nguyen im Büro von Democracy Reporting International in Berlin.
Das Handy ist ihr wichtigstes Arbeitsinstrument. © Stefanie Loos

Jedes noch so unpolitische Thema kann politisch werden

Nguyen will wissen, welche Rolle Medien in einer Demokratie spielen und wie sich die Debatte mit dem Aufkommen eines jeweils neuen Mediums in der Vergangenheit geändert hat. Außer­dem untersucht sie, wie sich neue Technologien und soziale Medien auf die demokratische Willens­bildung auswirken – und wie gleich­zeitig der freie Wille geschützt werden kann. „Wir müssen Regeln nicht nur dem digitalen Zeit­alter anpassen, sondern auch länder­über­greifend denken“, erklärt Nguyen. Dafür liest sie aktuell das Buch „Lawless – The Secret Rules That Govern Our Digital Lives“ von Nicolas Suzor. Darin geht es um die Vision eines Internets, das unsere Grund­rechte schützt – freie Meinungs­bildung inklusive.

re:constitution Fellow Hoai-Thu Nguyen einem Cafe in Berlin
Thu Nguyen untersucht die freie Willensbildung im digitalen Zeitalter. Auch sie wähnt sich manchmal in einer Filterblase. © Stefanie Loos

Das Thema hat es in sich, denn es betrifft jeden, der soziale Medien nutzt und in einer Demokratie lebt. Es liegt Nguyen schon sehr lange am Herzen: Bereits während ihres Studiums hat sie sich zunehmend darauf spezialisiert. „Je mehr ich mich ein­gearbeitet habe, desto spannender wurde es.“ Immer wenn ihr etwas wichtig ist, merkt man es daran, dass sie schneller spricht. „Meine Dissertation drehte sich um die Asymmetrie zwischen nationalen Parlamenten in der EU. Aber die Frage nach Mit­wirkungs­rechten von Parlamenten in EU-Angelegenheiten ist natürlich nur relevant, wenn wir sicher sein können, dass die Abgeordneten nicht durch illegitime Beeinflussung gewählt wurden“, erklärt sie in rasendem Tempo. Insbesondere beim Thema Wahlen sei es also zentral, Bürger*innen Zugang zu allen Informationen statt nur zu durch Filter vorsortierten zu geben.

Nguyen hat viel dazu zu sagen. Sie könnte aus dem Stand heraus einen Vortrag halten. „Ohne Notiz­zettel, ich spreche immer frei“, erzählt sie. Ob Fake News, Cambridge Analytica, Russlands Einfluss auf die US-Präsidenten­wahl oder der Brexit: Selbst innerhalb von Europa wird das Thema Regulierung nicht einheitlich gehandhabt.

„Was ist, wenn die konsumierte Information manipuliert und unreguliert ist?“

So relevant das Thema für die Gesellschaft auch ist, so sehr steht diese Anpassung noch am Anfang. Oft genug ist noch nicht einmal definiert, ob soziale Online-Medien wie traditionelle Offline-Medien behandelt werden sollen oder nicht. „Was ist, wenn die konsumierte Information manipuliert und unreguliert ist?“, fragt Nguyen und kommt wieder in Fahrt. In dieser Sache gibt es keinen Grau­bereich. „Der Schutz demokratischer Prozesse ist eine staatliche Aufgabe, die wir nicht privaten Konzernen über­lassen sollten und können“, sagt Nguyen mit Nachdruck. Dafür müssen Regierungen von zwei Seiten anpacken: Auf der einen Seite muss das jeweilige existierende Wahlrecht an das digitale Zeit­alter angepasst werden. Ein Beispiel ist die Veröffentlichung von Umfrage­ergebnissen vor Wahlen, die in manchen EU-Ländern verboten ist, um die Meinungen von Wähler*innen nicht zu beeinflussen. „Ein Verbot von Umfragen über Zeitungen und das Fernsehen in einem EU-Land ist natürlich wirkungs­los, wenn die gleiche Umfrage in einem anderen EU-Land über soziale Medien verbreitet wird“, erklärt Nguyen.

Der Schutz demokratischer Prozesse ist eine staatliche Aufgabe, die wir nicht privaten Konzernen über­lassen sollten und können.

Thu Nguyen, Juristin und re:constitution Fellow

Das zweite große Feld ist das Medienrecht. „Wie kann Fehl­informationen sowie Filter­blasen vorgebeugt werden?“, fragt Nguyen und beantwortet es im gleichen Atem­zug. „Indem wir Regulierungen von traditionellen Medien – TV, Radio, Print – an soziale Medien anpassen und dort auch anwenden.“

Geteilte Meinung, gefärbte Meinung

Nguyen nennt als Beispiel Impfungen für Kinder: „Die geteilte Botschaft könnte hier sein, dass Impfungen schädlich sind.“ Wird diese Nachricht dann wiederum durch Algorithmen in die Newsfeeds der Nutzer*innen gepusht, könnte jemand, der immer wieder die gleiche Botschaft liest, zu der Überzeugung kommen, dass nicht nur die eigenen Freunde, sondern ein Groß­teil der Gesellschaft dieser Meinung ist. „Dies kann im Extrem­fall Einfluss auf die politische Debatte haben und letzt­endlich auch darauf, wie sich Wählerinnen und Wähler bei der Stimm­abgabe entscheiden – je nach Positionierung beziehungs­weise Nicht­positionierung der Parteien zu dem Thema“, erklärt Nguyen.

re:constitution Fellow Hoai-Thu Nguyen im Büro von Democracy Reporting International in Berlin.
Thu Nguyen an ihrem derzeitigen Arbeitsplatz im Büro von Democracy Reporting International in Berlin. © Stefanie Loos

Sie selber nimmt sich davon gar nicht aus: „Ich bin in einer sehr akademischen, eher links­gerichteten, pro-europäischen Blase unterwegs. Ich denke, dass auch meine Meinung gefärbt wird, vor allem in Form von Bestätigungen meiner eigenen Ansichten, nach dem Motto: ‚Ja, das ergibt Sinn, und wenn diejenige das auch denkt, bin ich ja nicht die Einzige.‘“

Die Online-Regulierung wird keine leichte Aufgabe für die Länder. „Dafür muss man die Technologie und die Algorithmen hinter den Newsfeeds verstehen“, erklärt Nguyen. Das Thema ist inzwischen auch in Brüssel angekommen. Die neue EU-Kommission hat es als Priorität auf ihrer Agenda – in Form des Digital Services Act und des European Democracy Action Plan.

„Ich lese alles online“

Nguyens Tage beginnen um acht Uhr. Auf ihrem Handy checkt sie zuerst WhatsApp-Nachrichten, dann ihre E-Mails. „Während ich mich schminke, sehe ich mir die ‚Tages­schau‘ oder die ‚Tages­themen‘ vom Vorabend an“, erzählt sie. Ein Blick auf „Zeit Online“ und „Politico Brussels Playbook“ für die aktuelle Nachrichten­lage, ab 9.30 Uhr sitzt sie am Schreib­tisch bei der NGO Democracy Reporting Inter­national, die mit re:constitution zusammen­arbeitet. Außer einem Duplo-Stein mit dem Schrift­zug „Thu“ liegt nichts Persönliches auf dem Tisch. Privat wie beruflich ist sie mit leichtem Gepäck unterwegs. „Ich lese alles online“, erzählt sie, „und kopiere mir die Passagen, die ich später brauche, in ein Word-Dokument.“ Dafür braucht sie nur ihren Laptop oder ihr Handy, die beide in hellrosa Schutz­hüllen stecken. Lieblings­farbe? „Zufall!“

Duplo Stein von re:constitution Fellow Hoai-Thu Nguyen im Büro von Democracy Reporting International in Berlin.
Das Netzwerk re:constitution fördert Thu Nguyens Projektarbeit. © Stefanie Loos
Duplo Steine mit der Aufschrift Thus und re:constitution
Bauen auf die Demokratie. © Stefanie Loos

Die gebürtige Aachenerin mit vietnamesischen Eltern reagiert entspannt auf alle Varianten, die ihr bei der Aussprache ihres Namens begegnen: „Tu“ (so ist es korrekt), „Tü“ (französisch) oder „Thu“ (mit englischem „th“). Ihr voller Vorname Hoai-Thu bedeutet über­setzt „nostalgischer Herbst“. Auch ihr Nachname fordert manche Europäer*innen, dabei ist Nguyen in Vietnam noch weiter verbreitet als Müller oder Meier in Deutschland. Die richtige Aussprache ist „n-wen“. Im Netz heißt sie etwas anders: „Ich höre immer wieder, dass ich meinen Social-Media-Namen ändern muss – er sei zu wenig professionell“, sagt sie, lacht auf und zeigt ihr Instagram-Profil. Zu sehen sind Bilder von „OneThuThree“.

Immer wieder Aachen

Das erste Mal war Nguyen mit sechs Jahren in Saigon. „Ich erinnere mich noch gut, als mein Vater und mein Onkel am ersten Morgen mit mir in ein Café gegangen sind und ich Milch trinken wollte. Ich bekam ein volles Glas mit dieser verdickten süßen Kondensmilch serviert“, erinnert sie sich lachend. So lecker die dicke Kondensmilch auch schmeckte, ihr Zuhause war eindeutig Aachen. Und obwohl Nguyen vor ihrer aktuellen Station in Missouri, Rennes, Maastricht, Brügge und Brüssel gelebt hat – und neben Deutsch, Englisch, Vietnamesisch und Französisch auch Niederländisch spricht –, ist Aachen auch heute noch ihr Teil-Zuhause. Wenn sie nach einem langen Tag in ihrem grundsätzlichen Beruf als Jura-Assistenzprofessorin an der Uni Maastricht nicht zurück nach Brüssel fahren möchte, übernachtet sie bei ihren Eltern.

re:constitution Fellow Hoai-Thu Nguyen in Berlin Kreuzberg.
Drei Monate verbringt Thu Nguyen in Berlin, danach geht's nach Zürich. © Stefanie Loos

Aachen liegt direkt an der nieder­ländischen und belgischen Grenze, daher war die Entscheidung, Jura im 30 Kilometer entfernten Maastricht zu studieren, kein wirklicher Ausbruch. „Im ersten Semester bin ich gependelt, danach habe ich in einem Studentenhaus gewohnt“, sagt sie.

Die nächste Station nach Berlin ist Zürich, wo sie weiter­forschen wird. Natürlich zu ihrem Thema: Demokratie, im Kleinen und im Großen. Online und offline. In einzelnen Ländern und auf EU-Ebene. „Letzten Endes geht es immer wieder darum, wer darf was und wer kann was“, sagt sie und ergänzt: „Diese Frage ist einfach die spannendste und aktuellste Frage unserer Zeit.“

re:constitution – Exchange and Analysis on Democracy and the Rule of Law in Europe

re:constitution ist ein Programm des Forums Trans­regionale Studien und der NGO Democracy Reporting Inter­national, gefördert von der Stiftung Mercator. Es trägt dazu bei, ein Netzwerk aufzubauen, das sich mit europäischen Verfassungs­fragen, dem Spannungs­feld zwischen pluralistischen Auslegungen von Demokratie und Rechts­staatlich­keit sowie der Zusammen­arbeit inner­halb der EU befasst.