Fit, fitter, am demokratischsten
Was haben Muskeln und Demokratie gemeinsam? Beide muss man trainieren. Die Initiative „Democracy Fitness“ will Europäer*innen fit im demokratischen Handeln machen.
Behäbig tröpfelt der dänische Dauerregen auf den Asphalt. Der stillgelegte Parkplatz in Nørrebro im Norden Kopenhagens glänzt schwarz. Von einer Seite des Areals dringen fröhliche Gesprächsfetzen zu den angrenzenden Gebäuden und treffen auf sechs Menschen, die stiller nicht sein könnten. Vor einer mit Graffiti bemalten Hauswand stehen sie sich pärchenweise gegenüber und schauen sich in die Augen. Tief, noch tiefer, eine Minute lang. Verlegenheit huscht hier und da über die Gesichter und verrät, wie unbequem die Situation für die meisten ist. Schließlich erlöst Lise Tejsner die Gruppe: „Und“, sagt sie lachend, „wie weh tat euch das?“
Ein Fitnesstraining für Demokratie
„Die Frage fällt bewusst“, erzählen Lise Tejsner und ihre Kollegin Helle Østerberg später, „denn was wir machen, muss unangenehm sein.“ Die beiden sind frisch ausgebildete Trainerinnen für ein besonderes Fitnessprogramm. Statt Bauch, Beine und Po trainiert es die Muskelgruppe, die man für die Demokratie benötigt – also Eigenschaften, die man für die wirksame und aktive Teilnahme in einem demokratischen System bemühen muss. Und genau wie bei Sit-ups und Squats setzt der Effekt auch hier erst ein, wenn es wehtut. Im Rahmen des „Demokratidag“, der heute auf dem ehemaligen Parkplatz und jetzigen Demokratie-Hub Garage Park Nord Vest stattfindet, steht für die Instruktorinnen der Muskel „Empathie“ auf dem Trainingsplan. Ein wichtiger Muskel, denn sich in andere hineinzufühlen erzeugt Verständnis und Toleranz. Unverzichtbar in einer Demokratie.
„Super, ihr seid nun aufgewärmt!“, ruft Helle Østerberg der Gruppe zu. Ihrer warmherzigen Stimme lauschen die Teilnehmenden aufmerksam. Die Trillerpfeife, die sie um den Hals trägt, muss gar nicht erst zum Einsatz kommen. Als Nächstes, so teilt sie ihren Schützlingen mit, sollen sich die Pärchen etwas Körperliches übermitteln. Die Hand halten, eine Schultermassage, eine Umarmung. „Wenn wir uns mindestens dreißig Sekunden berühren, schütten wir das Bindungshormon Oxytocin aus“, erklärt sie. Gepusht durch das Hormon können so selbst Fremde in Beziehung zueinander treten. Oxytocin wirkt hier also wie ein Türöffner für den empathischen Muskel. Nach der kurzen Befangenheit, die auch in normalen Sportkursen die Partnerübungen einleitet, nieselt es aus dem Himmel nur Sekunden später auf drei sich innig umarmende Paare hinab.
Einfach mitmachen
Zakia Elvang hat schon viele solcher Umarmungen erlebt. Democracy Fitness ist das Baby der lebhaften Dänin mit den hellblauen Augen. Gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen Trine Demant und Kathrine Krone hat sie es 2017 auf die Welt gebracht. Seitdem verbreitet sich das Konzept quer durch Europa. Dafür sorgt Elvang, die weit über Dänemark hinaus in der Demokratieszene vernetzt ist. 2018 setzte sich die Idee zudem im europäischen Wettbewerb Advocate Europe durch, der ebendiese Art von ungewöhnlichen Projekten fördert – ein Meilenstein für die drei Macherinnen. Aber das Fitnessprogramm selbst trägt natürlich ebenfalls zu seiner Ausbreitung bei: Es ist bestechend einfach, unglaublich logisch und macht auch noch Spaß, was man daran erkennt, wie sehr die Teilnehmenden darin aufgehen. Warum das Training genau so und nicht anders ist, ergab sich aus dem Ziel, mit dem es entwickelt wurde. „Wir haben nach einer Methode gesucht, wie man das demokratische Bewusstsein einer Gesellschaft möglichst einfach und breit stärken kann“, erläutert die Aktivistin. Ein Vortrag oder eine Präsentation würden dieses Ergebnis nicht erzielen können. „Das wäre zu verkopft. Uns schwebte etwas Involvierendes, Aktives vor“, erinnert sie sich, „etwas, das diese kopflastige Sache in eine wirkliche Bewegung umwandelt.“ Die Metapher mit den Muskeln ließ nicht lange auf sich warten.
Inzwischen hat der Regen aufgehört. Die Umarmungen haben sich gelöst, alle Teilnehmer*innen haben ihre Mobiltelefone gezückt. „Findet nun über eine Suchmaschine das Bild einer Person, die ihr nicht mögt oder deren Meinung ihr nicht nachvollziehen könnt“, leitet Helle Østerberg die nächste Übung ein. Auf einigen Displays ploppt ein dänischer Politiker auf, dessen neue, sehr konservative Partei das Land spaltet. Eine Minute soll der Blick jetzt auf dem Bild verharren, anschließend werden zusätzlich Zitate der gewählten Person gesucht und vorgelesen. Und dann wird es wirklich schmerzhaft: „Sucht etwas an diesem Menschen, für das ihr Verständnis empfindet oder das ihr an ihm schätzt, und erzählt es euch.“ Es bleibt erst mal still. Fast hört man die innerliche Arbeit, die jeder Einzelne gerade aufwendet, um sich irgendwie an die verhasste Person heranzufühlen. Schließlich kommt der Austausch doch in Gang und damit auch die Empathie – der aktive Versuch, jemanden zu verstehen und dessen Verhalten oder Aussagen nachzuempfinden. Tejsner und Østerberg blicken zufrieden. Sie haben gequält, aber gestählt.
Auch Glücklichsein ist ein Muskel
Ende 2019 wird es rund 2.000 Trainer*innen in 15 europäischen Ländern geben. Was sie unterrichten, ist dabei relativ flexibel. „In Dänemark haben wir erst mal mit acht Muskeln angefangen“, erklärt Zakia Elvang, „darunter zum Beispiel Empathie, Mobilisierung, aktives Zuhören oder Kompromiss.“ Diese Muskeln sind jedoch auf die dänische Gesellschaftsstruktur zugeschnitten. Andere Länder können je nach gesellschaftlicher Bedürfnislage neue Muskeln identifizieren und ein entsprechendes Trainingsprogramm entwickeln. „In Estland wird derzeit der Muskel Glücklichsein erarbeitet und in Lettland Vertrauen“, berichtet Elvang freudig. Dass sich die Idee verselbstständigt und kreativ weiterentwickelt wird, ist ein Erfolg, der sie bestätigt. „In vielen Ländern nimmt man die Demokratie als selbstverständlich wahr. Das ist sie aber nicht. Man muss sich um sie kümmern, insbesondere jetzt, wo einige sie infrage stellen.“ Dafür brauche es jedoch bestimmte Fähigkeiten, die praktischerweise bereits in uns lägen – nur aktivieren müsse man sie eben.
Mobil machen
Martha Norgaard strahlt. Sie hat soeben das Training „Mobilisierung“ erfolgreich abgeschlossen, die zweite Democracy-Fitness-Übung auf dem Demokratidag. Innerhalb von dreißig Minuten galt es, das Gegenüber für die eigene Sache ins Boot zu holen – indem man Argumente einschätzt, herausspürt, für welche Sache es sich gemeinsam zu kämpfen lohnt, und eine gemeinsame Position verhandelt. Marthas Anliegen: Sie will die weibliche Regelblutung von ihrem Stigma befreien, sie zu etwas völlig Normalem machen. Am Ende des Trainings wollen das alle. Martha jubelt, halb im Spaß und halb im Ernst, und drückt die junge Frau direkt neben ihr fest an sich.
Wie bei der Empathie werden auch in dieser Muskelübung mit einer kalkulierten Beiläufigkeit genau die Fähigkeiten aktiviert, die die Gesellschaft zusammenhalten: miteinander zu reden und einander zuzuhören. Martha Norgaard fand das Training herausfordernd, „doch das ist normal, ohne Schwierigkeiten läuft das Miteinander nicht. Man muss sich dem aber stellen“, sagt sie. Sie ist überzeugt, dass jeder in einer Gesellschaft zu ihrem demokratischen Funktionieren beitragen kann, egal, wie klein dieser Beitrag sein mag. Das Training hat ihr gezeigt, wie einfach es ist, die eigene Stimme zu nutzen. Die Hemmschwelle lag tiefer als erwartet, die Sache war wichtiger.
Aus dem Kopf auf die Straße
Die erste Hürde, das Mitmachen, ist der kritische Punkt für die Initiative. Zakia Elvang erinnert sich an die nervenaufreibenden Anfänge: „2017 starteten wir mit Democracy Fitness auf dem ‚Folkemøde‘, dem dänischen Demokratie-Festival. Dort gab es über 3.000 Events – also massenhaft Konkurrenz.“ Ein Megafon und drei beherzte Aktivistinnen sorgten schließlich dafür, dass Democracy Fitness dort einen ersten Erfolg verbuchen konnte. „Hier bestanden wir den Straßentest“, meint Elvang lachend. Das Programm, bis dahin eine Kopfgeburt, zog auch in der Realversion Leute an, die sich von der Trainingseinheit begeistern ließen. „Toll war, dass wir gute Rückmeldungen von ganz verschiedenen Menschen bekamen“, fährt Zakia Elvang fort. „Eine breite Zielgruppe zu erreichen ist schwierig, aber genau das möchten wir.“
Animieren lernen
Nach dem Festival folgte ein Jahr mit so vielen Testtrainings wie möglich. Parallel begann die Ausbildung von Trainern und Trainerinnen in Dänemark und weiteren europäischen Ländern. Zwei Tage dauert ein Camp, in dem angehende Übungsleiter*innen lernen, was Democracy Fitness will, wie man Muskeln identifiziert und andere animiert, sie zu trainieren. Die schlüssig ausgearbeiteten Anleitungen für die jeweils 30-minütigen Lektionen hat die Initiative selbst entwickelt. Mitgearbeitet haben viele Aktivist*innen der Organisationen „WE DO DEMOCRACY“ und „Demokratiscenen“, an die Democracy Fitness angedockt ist. „Kommunikationsexpert*innen, Berater*innen, Lehrer*innen – wir haben viel gebündelte Expertise, durch die das Programm so involvierend und einfach geworden ist, wie uns das vorschwebte“, erzählt Elvang.
Draußen vor der Graffitiwand greift Lise Tejsner in einen Jutebeutel und zaubert daraus eine Handvoll Buttons hervor. Das Abzeichen mit dem gespannten Bizeps kennzeichnet die erfolgreichen Demokratie-Sportler*innen fortan. Noch während sich die kleine Gruppe auf dem Areal verstreut, heften sich zwei Frauen ihren Anstecker an die Regenjacke. Vielleicht werden sie heute Abend Muskelkater haben, Empathie-Muskelkater.
Advocate Europe
Seit 2014 setzt MitOst zusammen mit Liquid Democracy den Ideenwettbewerb Advocate Europe um. Dabei werden Projekte ausgezeichnet, die Europa verbinden – auf unkonventionelle und transnationale Art. Wir fördern den Wettbewerb, der den Gewinnern und Gewinnerinnen eine Anschubfinanzierung für ihr Projekt ermöglicht.
https://advocate-europe.eu