Unter Schwestern

Samantha Cristoforetti
Unter Schwestern
Autorin: Maren Beck 10.09.2019

Feminismus bedeutet nicht überall das Gleiche. Doch gleiche Rechte und Chancen für Frauen sind in ganz Europa über­fällig. Mit ihrem Projekt „Sisters of Europe“ möchten Prune Antoine und Elina Makri Europäerinnen darin bestärken, sich für sich selbst ein­zu­setzen. Und mit­einander statt gegen­einander zu arbeiten.

„Wenn Frauen in hohe Ämter gelangen, dann entweder, weil sie weiblich sind, oder, weil sie ihrer Weiblichkeit abschwören.“
„Das Patriarchat ist unser größter Feind und wird von Institutionen und Individuen unterstützt, die von Ungleichheit profitieren.“
„Frauen werden dazu konditioniert, nicht an sich zu glauben.“

Nur drei von Hunderten von Sätzen, die in den Köpfen europäischer Frauen kreisen. Prune Antoine und Elina Makri haben sie dort heraus­geholt und auf­geschrieben. Für ihr Projekt „Sisters of Europe“ machten sich die beiden Journalistinnen auf, Stimmen aus allen Himmels­richtungen des Kontinents einzu­fangen. Insgesamt 17 Geschichten sind es geworden, zu lesen auf der Platt­form sistersofeurope.com. Die Idee hinter dem von Advocate Europe geförderten Projekt: Frauen kämpfen überall in Europa für ein gleich­berechtigtes Leben. Sie zusammen­zubringen soll die Kräfte multiplizieren.

Gemeinsame Sache – aber überall anders

„Der Auslöser für unser Projekt war #MeToo“, erzählt die Französin Prune Antoine. „Wir haben fest­gestellt, dass die Bewegung in verschiedenen Ländern völlig anders wahr- und angenommen wird.“ Während in ihrer Heimat Frankreich heiß darüber diskutiert wurde, waren die Töne an ihrem Wohnort Deutschland verhaltener. Dennoch war das Thema #MeToo ein über­greifendes, das Frauen über die Grenzen hinweg ansprach – und vereinte. Elina Makri und Prune Antoine machte dieser Gegen­satz neugierig: Wie sah es bei so vielen verschiedenen Auffassungen zu einer eigentlich gemeinsamen Sache dann insgesamt mit der Selbst­bestimmung und Gleich­berechtigung in den einzelnen Ländern aus? Als Journalistinnen hatten sie gelernt, Dingen auf den Grund zu gehen. Warum also nicht auch dieser Frage?

Elina Makri
Elina Makri aus Griechenland träumt von den „United States of Europe“. Sie unterstützt grenzübergreifende Journalismusprojekte mit ihrer digitalen Plattform oikomedia.com. © Reinaldo Coddou

Wenige Monate später stapelten sich 150 Bewerbungen auf ihren Schreib­tischen. Journalist*innen und Fotograf*innen aus ganz Europa meldeten sich bei ihnen, um die Geschichten europäischer Frauen zu dokumentieren. „Wir wollten über diejenigen berichten, von denen man nichts in Frauen­magazinen liest“, sagt Prune Antoine, „die aber auf verschiedenste Weise die Rechte der Frauen voran­treiben.“ Besonders wichtig war und ist den beiden, jenseits von Opfer­rollen zu erzählen. Ihre Storys richten den Fokus auf aktive und unermüdliche Kämpferinnen. Wie engagiert sich eine polnische Aktivistin gegen das Abtreibungs­verbot? Wie setzt sich eine Griechin für migrierte Frauen ein, die häufig zweifach marginalisiert werden? „In unseren Geschichten erfahren wir einer­seits etwas über die Frauen. Sie sind anderer­seits aber auch die Eingangs­tür zu dem Land, aus dem sie kommen, und geben Einblick in die grundsätzliche Situation von Frauen vor Ort“, fasst Prune Antoine zusammen. Damit öffnen die Geschichten noch eine weitere Tür: die der Diskussion.

Mehr Solidarität!

Die 17 Perspektiven auf der Onlineplattform reichten den über­zeugten Europäerinnen daher nicht. Ihr Projekt sollte auch im echten Leben weiter­gehen. So trafen sich zwischen März und Juni 2019 mehrere Hundert Frauen und einige Männer zu insgesamt vier „Agoras“, also vier Diskussions­veranstaltungen. Im Norden, Osten, Süden und Westen debattierten die Besucher*innen über verschiedene Themen: über den Gender-Pay-Gap in Berlin, den Mythos der französischen Verführung in Paris, über Konflikte unter Frauen in Athen. In Warschau ging es um Körper, Würde und Gemeinschaft. Hier zeigte ein einziges Wort, dass das Streben nach den gleichen Dingen von Land zu Land ganz anders verstanden werden kann. „Statt ‚Feminismus‘ schrieben wir ‚Sisterhood‘ auf die Veranstaltungs­einladung“, erzählt Elina Makri, „denn Feminismus ist in Polen ein besonders stark politisierter Begriff. Nicht jede will sich unter diesem Label engagieren.“

Prune Antoine
Die vielfach ausgezeichnete Journalistin Prune Antoine lebt in Berlin. Ihrer einjährigen Tochter möchte sie manche Kämpfe ersparen. © Melania Avanzato

In Griechenland, der Heimat von Elina Makri, gab es eine andere Heraus­forderung: Zum Agora-Thema „Gender Wars: Why women fight each other“, also warum sich Frauen gegen­seitig bekämpfen, ließen sich kaum traditionell feministische Redner*innen finden. „Sie wollten nicht zu diesem eher beschämenden, aber realen Problem sprechen“, sagt Elina Makri. „Aus meiner Sicht ist das schein­heilig. Wir reden über Miss­stände offenbar nur dann, wenn wir Männer oder die Gesellschaft dafür verantwortlich machen können. Konflikte unter Frauen sind jedoch ein bekanntes Phänomen. Im Westen sehen wir das zum Beispiel in dem ständigen ‚Wettbewerb‘ zwischen arbeitenden Müttern und Karriere­frauen.“ Die Rumänin Iana Matei, eine Protagonistin aus den Storys, formuliert es noch spitzer: „Frauen sind einander die ärgsten Feinde.“ Mit den „Sisters“ wollen die Projekt­gründerinnen daher auch die Solidarität unter Frauen fördern. Wer mehr aus der Lebens­welt der anderen weiß, verurteilt weniger schnell. In der Berliner Agora forderten die Teilnehmer*innen genau das: unter­stützen statt zerfleischen!

Ein Kernwert Europas

Der dritte Akt der „Sisters of Europe“ steht nun noch aus: Die beiden Gründerinnen wollen die Ergebnisse der Agoras an das Europäische Parlament herantragen. Denn die gesammelten Positionen und Forderungen sind Realität; sie verschwinden nicht, sobald sich die Teilnehmer*innen einer Agora am Abend verabschieden. Doch wie fasst man die diversen Anliegen von einer halben Milliarde Menschen zusammen? „Die lokalen Realitäten sind sehr verschieden, die Prioritäten liegen überall woanders“, stellt Elina Makri fest. „Einige universelle Aspekte würden wir allerdings gerne mit den Mitgliedern des Parlaments diskutieren.“ Körperliche Selbst­bestimmung oder gleiche Löhne zum Beispiel. Noch immer darum ringen zu müssen ist untragbar. „Für mich ist Gleich­berechtigung ein Kernwert von Europa“, erklärt Prune Antoine. „Meine Tochter soll die Hindernisse von heute nicht mehr erleben.“ Aber, so sagt sie auch, Frauen müssten ihren Teil dazu beitragen und für das kämpfen, was sie wollen. Und ihre Töchter zu selbst­bestimmten, einfordernden Frauen erziehen. Zu echten „Sisters“.

Advocate Europe

Seit 2014 setzt MitOst zusammen mit Liquid Democracy den Ideenwettbewerb Advocate Europe um. Dabei werden Projekte ausgezeichnet, die Europa verbinden – auf unkonventionelle und trans­nationale Art. Wir fördern den Wettbewerb, der den Gewinnern und den Gewinnerinnen eine Anschub­finanzierung für ihr Projekt ermöglicht.

advocate-europe.eu